Effekte von Macht(besitz) auf (un)ethisches Verhalten

Ein empirischer Review neuerer Forschungsliteratur


Bachelorarbeit, 2014

60 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Macht
2.1.1 Das Phänomen Macht
2.1.2 Machtmotivation
2.1.3 Zur Evolution von Macht
2.1.4 Verhaltensaktivierung, Informationsverarbeitung, Zielfokussierung und Legitimität
2.2 Ethik und Moral
2.2.1 Ethik und Moral in Psychologie und Philosophie
2.2.2 Deontologische und konsequentialistische Ethik in der Psychologie
2.2.3 Moralisches Urteilen
2.3 Eingrenzung für diesen Review
2.4 Fragestellungen

3. Methoden
3.1 Ein- und Ausschlusskriterien der verwendeten Literatur
3.2 Vorgehen
3.3 Verwendete Primärstudien

4. Ergebnisse
4.1 Personal Sense of Power
4.2 Macht und verschiedene Formen unethischen Verhaltens
4.3 Macht enthüllt den Charakter
4.4 Sozialisierte und personalisierte Macht
4.5 Empathie, interpersonelle Sensitivität und prosoziales Verhalten
4.6 Macht und Moral

5. Diskussion
5.1 Personal Sense of Power als ethisch neutrales Konstrukt
5.2 Sozio-ökonomischer Status und unethisches Verhalten
5.3 Macht und Persönlichkeit
5.4 Macht und Empathie
5.5 Macht verändert den Blick auf Moral
5.6 Implikationen für den Unternehmensbereich

Literaturverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Ausgewählte Studien zum Einfluss von Macht(besitz) auf (un)ethisches Verhalten

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zusammenfassung

In den Medien waren in jüngerer Vergangenheit verstärkt ethische Verfehlungen mächti- ger Personen aus Politik und Wirtschaft präsent. Im vorliegenden systematischen Review werden 20 aktuellere Arbeiten zum Einfluss von Macht(besitz) auf (un)ethisches Verhal- ten zusammengestellt. Dabei werden verschiedene Realisierungen von Macht einerseits und (un)ethischen Verhaltensweisen andererseits einbezogen. Zum einen deuten die vor- liegenden Ergebnisse auf potentiell korrumpierende Effekte von Macht und mit Macht einhergehenden Umweltbedingungen hin. Zum anderen zeigen aktuelle Studien, dass die Effekte von Macht auf (un)ethisches Verhalten von bestimmten persönlichen Dispositio- nen abhängen. Außerdem werden Forschungsergebnisse vorgestellt, nach denen sich mächtige Individuen von machtlosen in Bezug auf deontologisches, konsequentialistisches und utilitaristisches moralisches Urteilen unterscheiden.

1. Einleitung

„Machtbeziehungen gibt es überall, in jedem sozialen Gefüge“, wird Erich Witte, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Hamburg, in einem Online-Artikel der FAZ zitiert, „[u]nd nur in den seltensten Fällen kann jemand Machtmissbrauch widerste- hen“1. Tatsächlich ziehen korrupte Entscheidungen einzelner Personen im Wirtschaftsbe- reich in Zeiten multinational agierender korporativer Akteure dramatische Konsequenzen nach sich, spektakuläre Unternehmensskandale wie Bilanzfälschungen bei Worldcom und Enron oder die riskanten Geschäfte samt folgender Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers sprechen für sich. Gleichzeitig erscheinen in den Medien regelmäßig und in einer weiten Bandbreite mächtige Personen, die moralisch zweifelhaftes Verhalten an den Tag legen: Ein meineidiger katholischer Kardinal, eine betrunkene evangelische Bischöfin am Steuer, plagiierende hochrangige Politiker und Top-Manager, die ausgelassen mit leichten Damen feiern, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch die psychologische scientific community hat in der Person Diederik Stapels jüngst die Folgen von Machtmissbrauch, Täuschung und Manipulation zu spüren bekommen2. Selbstverständlich ist das zerstörerische Potential von Macht nur eine Seite der Medaille: Schließlich werden durch Macht Ressourcen gebündelt und wichtige Entschei- dungen zum Wohle vieler können auch gegen Widerstände durchgesetzt werden. Dabei konzentriert sich Macht oft auf einzelne Individuen, die Weichen entsprechend ihrer Wer- te und Einstellungen stellen. Als prominente Beispiele könnten auf politischer Ebene Ab- raham Lincoln genannt werden, der seine Präsidentschaft dazu nutzte, die Sklaverei abzu- schaffen oder Unternehmer Bill Gates, der mit der weltweit größten Privat-Stiftung und einem Kapital von über 36 Milliarden US-Dollar die Behandlung und Bekämpfung von Krankheiten in der dritten Welt unterstützt.

Das Phänomen Macht ist Gegenstand reger Forschungstätigkeiten und die psycho- logischen Effekte von Macht(besitz) auf Individuen sind vielfältig. Da in der jüngeren Vergangenheit Verfehlungen mächtiger Personen zunehmend Gegenstand öffentlichen Interesses geworden sind, stellt die vorliegende Arbeit eine Auswahl aktueller psychologischer Publikationen speziell zu den Effekten von Macht(besitz) auf (un)ethisches Verhalten zusammen und berührt damit auch das angrenzende Feld der Moralphilosophie.

2. Theoretische Grundlagen

Zunächst erfolgt ein knapper Überblick über die zentralen Begriffe dieser Arbeit, bevor die Eingrenzung für diesen Review sowie leseleitende Hypothesen vorgestellt wer- den.

2.1 Macht

2.1.1 Das Phänomen Macht

Mit Macht wird ein relationales, soziales Phänomen beschrieben, an dem mindestens zwei Akteure beteiligt sind. Im Vordergrund steht die Verhaltensbeeinflussung, die unter Umständen, aber nicht zwingend, gegen den Willen des machtärmeren Akteurs geschieht (Six, 2014). Schmalt und Heckhausen (2006) stellen im Rahmen des Konzepts der Machtmotivation zunächst einige Definitionen von Macht vor3 und geben selbst eine „psychologisch orientierte“ Definition als

„bereichsspezifische asymmetrische dyadische Beziehung […], die durch eine Gefällestruktur auf den Dimensionen ‚soziale Kompetenz‘, ‚Zugang zu Ressourcen‘ und ‚Statusposition‘ charakterisiert ist und sich in einer einseitig verlaufenden Verhaltenskontrolle manifestiert“ (S. 213).

Dabei ist Macht nicht per se gut oder schlecht. Scholl (2012) hebt hervor:

„Angesichts der Erfahrungen der Deutschen mit absolutistischen Herrschern, Faschismus und Kommunismus, d.h. mit mangelnder Machtkontrolle, ist es kein Wunder, dass der Begriff ‚Macht‘ selbst eine deutlich negative Färbung bekommen hat. Das gilt nicht für das Wort ‚Power‘ im Angelsächsischen, wo politische Kontrollen viel früher gegriffen haben, sodass ‚Power‘ gefühlsmäßig nicht negativ, sondern neutral ist“ (S.204).

Scholl (2012) trägt der Neutralität des Begriffs Rechnung, indem er den Machtbe- griff in eine interessiert-beratende „Einflussnahme“ und eine rücksichtslos-verletzende „Machtausübung“ differenziert. Erstere steht im Einklang mit den Interessen der anderen, während letztere gegen die Interessen des anderen Akteurs / der anderen Akteure gerichtet ist, wobei gesellschaftliche Normen meist versuchen, Machtausübung einzudämmen und Einflussnahme zu fördern. Tatsächlich können neuere Forschungen zeigen, dass einige negative Auswirkungen von Machtbesitz milder ausfallen, wenn Machthaber rechen- schaftspflichtig sind (Pitesa & Thau, 2013b; Rus, van Knippenberg & Wisse, 2012).

Verschiedene Autoren stellen Klassifikationsschemata von Machtgrundlagen vor, von denen die Einteilung von French und Raven (1959; nach Raven, 2008) die bekanntes- te sein dürfte4 (Schneider, 2000-c2002). Auf eine ausführliche Aufzählung soll an dieser Stelle aus Rücksichtnahme auf den Umfang der Arbeit verzichtet werden und es sei auf entsprechende Literatur verwiesen (z.B. Raven, 2008). An dieser Stelle sei lediglich er- wähnt, dass Belohnungs- und Bestrafungsmacht durch Ressourcenkontrolle im experimen- tellen Kontext in verschiedenen einbezogenen Studien realisiert wurde und dass wahrge- nommene Legitimität als Moderator für eine Reihe von Auswirkungen von Macht auf In- dividuen fungiert, siehe dazu Abschnitt 2.1.4 sowie Lammers, Galinsky, Gordijn und Ot- ten (2012) in Abschnitt 4.5.

2.1.2 Machtmotivation

Motive sind thematisch abgrenzbare „latente Bewertungsdispositionen für Ziele und für Situationsmerkmale, die eine Zielerreichung oder Zielverfehlung erwarten lassen“ (Puca, 2014). In der Tradition von McClelland werden verschiedene biogene und soziogene Motive unterschieden (1972; nach Schmalt & Langens, 2009). Am bedeutends- ten unter den soziogenen Motiven dürften für die psychologische Forschung das Leis- tungsmotiv, das Anschlussmotiv und das Machtmotiv sein. Letzteres wird definiert

„[…] als das Bedürfnis, sich in erster Linie stark zu fühlen […] und danach erst als Bedürfnis, machtvoll zu handeln. Andere zu beeinflussen ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, das Bedürfnis, sich stark zu fühlen, zu befriedigen“ (McClelland, 1975, S.77; nach Schmalt & Heckhausen, 2006, S. 213).

Machtmotiviertes Verhalten ist dadurch gekennzeichnet, dass Individuen andere dominieren, über sie bestimmen bzw. Einfluss auf sie ausüben (Schmalt, 2014). Das Machtmotiv enthält sowohl Hoffnungen und Wünsche, als auch Befürchtungen. Schmalt und Heckhausen (2006) unterscheiden fünf Furchtkomponenten5, die zusammen in Form einer Inhibitionstendenz das Machtverhalten moderieren: „Ein hohes Machtmotiv bei star- ker Inhibitionstendenz scheint […] den Ausdruck von Macht in sozial akzeptabler Weise zu kanalisieren“ (Schmalt & Heckhausen, 2006, S.218). Diese Konstellation führt aller- dings gleichzeitig zu beeinträchtigenden Wirkungen auf das sympathische Nervensystem und die Immunabwehr.

McClelland (1972; nach Schmalt & Langens, 2009) hat eine Unterscheidung in egoistische personalisierte Macht und altruistisch orientierte sozialisierte Macht getroffen, welche nach Schmalt und Langens (2009) in der späteren Forschung zugunsten eines Machtmotivs mit respektive ohne Inhibitionstendenz aufgegeben wurde. Allerdings fand sich während der Recherche die Arbeit von Magee und Langner (2008), in welcher die beiden Komponenten des Machtmotivs für differenzierte Aussagen zu pro- und antisozialer Entscheidungsfindung verwendet werden (s. Abschn. 4.4).

2.1.3 Zur Evolution von Macht

Dominanz- und Submissionsverhalten findet sich „bereits in geschlossenen, individuali- sierten Tiergesellschaften, in denen ein individuelles Erkennen möglich ist“ (Schmalt & Langens, 2009, S.219). Die lineare Hackordnung, angeführt vom sogenannten Alpha-Tier, ist nach einmal ausgetragenen Rangkämpfen stabil. Selbst für das rangniedrigste Tier, das von allen gehackt wird, überwiegt „der Netto-Vorteil, verglichen mit einer solitären Le- bensweise, noch positiv“ (Schmalt & Langens, 2009, S.219). Evolutionär betrachtet er- laubt ein höherer Status einerseits einen einfacheren Zugang zu Ressourcen (z.B. Nah- rung) und korreliert andererseits bei vielen Tierarten mit dem Fortpflanzungserfolg (Pérusse, 1994; nach Mack & Gonschior, 2009). Auch beim Menschen finden sich Korre- lationen zwischen dem Einkommen und der Anzahl an Sexualpartnern (Pérusse, 1993; nach Mack & Gonschior, 2009). Eine der in dieser Arbeit besprochenen Studien zeigt, dass Mächtige häufiger außerpartnerschaftliche Affären haben (Lammers, Stoker, Jordan, Pollmann & Stapel, 2011; s. Abschn. 4.2).

Ebenso finden sich subtile, offensichtlich genetisch verankerte nonverbale Verhal- tensweisen: In zwei Studien von Tiedens und Fragale (2003; nach Schmalt & Langens, 2009) beantworteten Versuchspersonen unbewusst die entweder dominante oder submissive Körpersprache eines Konföderierten komplementär. Bemerkenswert ist, dass sich bei Komplementarität Wohlbehagen einstellte, und dass keiner der Beteiligten die Zusammenhänge bewusst wahrnahm. Ähnliche Verhaltensweisen zu diesem beim Men- schen beobachteten Komplementaritätseffekt sind auch bei nichtmenschlichen Primaten beobachtet worden (Wright, 1994; nach Schmalt & Langens, 2009). Neuere Forschung zu Intragruppenprozessen, nach der sich Macht nach einiger Zeit auf ein einzelnes Gruppen- mitglied konzentriert (Friedkin, 2011) und Erkenntnisse, dass sich dominante Körperhal- tungen auf ethisches Verhalten auswirken (Yap, Wazlawek, Lucas, Cuddy & Carney, 2013; s. Abschn. 4.2) könnten Verbindungen zu evolutionär entwickelten Verhaltenswei- sen aufzeigen.

2.1.4 Verhaltensaktivierung, Informationsverarbeitung, Zielfokussierung und Legi- timität

Neuere Forschungen zeigen, dass Macht mit erhöhter Aktivität im Verhaltensakti- vierungssystem (Behavioral approach system) einhergeht (Hirsh, Galinsky & Zhong, 2011; Keltner, Gruenfeld & Anderson, 2003). Ebenfalls belegt ist eine größere Risikobe- reitschaft (Anderson & Galinsky, 2006). Mächtigen fällt es leichter, irrelevante Reize aus- zublenden und sich auf relevante Ziele zu konzentrieren (Guinote, 2007a, 2007b; Hirsh et al., 2011; Keltner et al., 2003). Wahrgenommene Legitimität wirkt als Moderator für eine Reihe von psychologischen Effekten von Macht. So führt illegitime Machtlosigkeit zu höherer Verhaltensaktivierung und eine illegitime Machtposition zu verstärkter Verhal- tensinhibition (Lammers, Galinsky, Gordijn & Otten, 2008; Willis, Guinote & Rodríguez- Bailón, 2010). Umgekehrt kann das Ausüben von approach behavior auch das persönliche Machtempfinden erhöhen (Smith, McCulloch & Schouwstra, 2013). Des Weiteren funkti- oniert Informationsverarbeitung bei Mächtigen abstrakter und erlaubt, sich auf die größe- ren Zusammenhänge zu fokussieren (Smith & Trope, 2006).

2.2 Ethik und Moral

2.2.1 Ethik und Moral in Psychologie und Philosophie

Sowohl das von Aristoteles verwendete griechische ethos wie auch seine lateinische Übersetzung mores durch Cicero beziehen sich auf Sitten, Gewohnheiten und Bräuche, wobei ethos auch Charaktereigenschaft bedeuten kann (Merker, 2010).

Nach Merker (2010) wird der Begriff Ethik heutzutage in verschiedenen Bedeu- tungen verwendet. Er dient als Überbegriff „für alle (philosophischen) Überlegungen, die Antwort geben auf die Fragen: Wie sollen wir leben? An welchen (letzten) Zielen und Werten sollen wir unser Leben ausrichten?“ (S.622). Aber auch zwei „Disziplinen, […] die auf die Grundfragen der Ethik im übergreifenden Sinne Antworten geben“ (Merker, 2010, S.622), werden Ethik genannt: Die eudämonische Ethik und die Moralphilosophie. Erstere sucht die Beantwortung der Frage, was Glück ist, und wie man sein Leben danach ausrichtet. Letztere beschäftigt sich hauptsächlich mit der „Konkretisierung und Begrün- dung eines moralischen Standpunktes, nebenher aber auch um psychologische Überlegun- gen zur Motivation und Realisierbarkeit moralischen Verhaltens“ (Merker, 2010, S.622).

Befragt man das Dorsch Psychologische Lexikon, wird unter Moral die „Gesamt- heit der das Urteil und Verhalten bestimmenden Normen“ (Artikel „Moral“, 2014) und unter Ethik die „Morallehre, die Lehre vom Guten und seinen Gegensätzen, von den Prin- zipien des sittlichen Handelns und von den sittlichen Werten“ verstanden. Damit ist die Ethik eine „praktische Disziplin der Philosophie“ (Artikel „Ethik“, 2014). Haidt (2008) definiert Moral als „interlocking sets of values, practices, institutions, and evolved psy- chological mechanisms that work together to suppress or regulate selfishness and make social life possible”. Es wird deutlich, dass Ethik und Moral durchaus mit für den Forscher messbarem Verhalten bzw. Verhaltensabsichten einhergeht. Immerhin lässt sich überprü- fen, ob sich Individuen an bestimmten Werten orientieren und ob sie sich an gesellschaft- liche Normen und Regeln halten. In der Moral Foundations Theory (MFT; Graham et al., 2011) werden fünf moralisch relevante Themenbereiche zusammengestellt: Harm/Care, Fairness/Reciprocity, Ingroup/Loyalty, Authority/Respect sowie Purity/Sanctity. Der Schwerpunkt psychologischer Forschung zur Moral liegt auf den ersten beiden Domänen. Ein Umstand, der nach Haidt und Joseph (2008) auf die politisch liberale Einstellung der Forscher zurückführbar ist. Auch die in diesen Review einbezogenen Primärstudien befas- sen sich hauptsächlich mit Empathie und Hilfeverhalten einerseits und Themen wie Ehr- lichkeit, Ungleichbehandlung von Personen und der Einhaltung von Regeln andererseits.

Trotz der empirischen Fassbarkeit handelt es sich bei Moral selbstverständlich nicht um originär psychologisches Terrain, sondern blickt auf eine lange Tradition philosophischer Diskurse zurück. Auf eine Darstellung der Geschichte der Moral wird an dieser Stelle verzichtet, für eine Einführung siehe z.B. Graham et al. (2011).

In der verwendeten Literatur ließ sich keine scharfe semantische Unterscheidung der Begriffe Ethik und Moral ausmachen. Der Begriff Ethik wird eher in Verbindung mit Verhalten verwendet, während Moral mehr mit Normen und subjektivem Urteilen assozi- iert ist. Teilweise werden beide Begriffe aber auch synonym gehandhabt, daher wird auch in der vorliegenden Arbeit keine strenge semantische Unterscheidung getroffen.

2.2.2 Deontologische und konsequentialistische Ethik in der Psychologie

Zwei konträre Moralphilosophien sind für die in diese Arbeit einbezogenen Studi- en (Abschn. 4.6) relevant. Der von Jeremy Bentham und John St. Mill entwickelte Utilita- rismus ist eine konsequentialistische Ethik, bei der die moralische Vertretbarkeit von Handlungen an deren Folgen und Ergebnissen gemessen wird (Merker, 2010, S.626). Ent- schieden wird nicht nach allgemeinen Regeln, sondern es steht die konkrete Maximierung des Guten als Resultat von im Einzelfall getroffenen Entscheidungen im Vordergrund. Im Gegensatz dazu basiert die deontologische Ethik auf absoluten Ge- und Verboten. Kant fordert als einzige unbedingte Pflicht die Erfüllung des Kategorischen Imperativs (nach Merker, 2010, S.627f). Diese zwei moralphilosophischen Positionen können anhand zwei- er moralischer Dilemmata veranschaulicht werden (Schilderung nach Cushman et al., 2010, p. 50). Im sogenannten „trolley“-Dilemma rast ein außer Kontrolle geratener Eisen- bahnwaggon auf eine Gruppe von Menschen zu. Diese können gerettet werden, indem man einen Schalter umlegt und den Waggon dadurch auf ein anderes Gleis umleitet. Dort befindet sich eine Person, die durch diese Aktion von dem Zug überrollt und getötet wür- de. Ist es moralisch vertretbar, den Schalter umzulegen? Mit einer konsequentialistischen Begründung könnte man argumentieren: Es werden mehr Menschenleben gerettet, wenn man eingreift. Dem steht eine regelbezogene (deontologische) Maxime entgegen: Du sollst nicht töten. Ein ähnliches Dilemma ist das „footbridge“-Dilemma: Auch hier bewegt sich ein Waggon unaufhaltsam auf eine Gruppe von Menschen zu. Der einzige Weg ihn zu stoppen ist, einen dicken Mann von der Brücke auf die Gleise zu stoßen (man selbst ist zu schmächtig, um den gewünschten Bremseffekt zu erreichen). Viele Befragten würden in diesem Fall die Handlung nicht ausführen, mit einer deontologischen Begründung: Jemand anderem zu schaden ist falsch, unabhängig von den Konsequenzen. Forschungen haben gezeigt, dass das footbridge-Dilemma im Vergleich zum trolley-Dilemma bedingt durch die geringere Distanz zum Opfer zu mehr inneren Konflikten und weniger konsequentialistischen Entscheidungen führt (Greene et al., 2001, 2004; nach Cushman et al., 2010; s. auch Côté, 2013, in Abschn. 4.6).

Utilitarismus und Deontologismus haben in ihrer Geschichte natürlich verschiedene Erweiterungen und Alterationen erfahren. Die in diese Arbeit einbezogenen Studien (Abschn. 4.6) beschränken sich auf die Unterscheidung von regelbezogenem Deontologismus, ergebnisbezogenem Konsequentialismus und (ebenfalls konsequentialistischem) Utilitarismus, bei dem das Wohl der Allgemeinheit (gegenüber dem Wohl eines Einzelnen) im Vordergrund steht.

2.2.3 Moralisches Urteilen

Die Grundlage für späteres Verhalten stellen moralische Urteile dar. Sie geben Orientierung darüber, was „richtig“ und „falsch“ ist (Cushman, Young & Green, 2010). Nach der Theorie der moralischen Entwicklung in Tradition von Piaget und Kohlberg ist moralisches Urteilen eng an kognitive Denk- und Urteilsprozesse geknüpft. Dem stehen neuere empirische Befunde entgegen, nach denen moralische Urteile eher intuitiv gefällt und erst nachträglich durch Denkprozesse untermauert werden (Heidbrink, 2014).

Mit der Dual Process Theory of Ethical Judgment (DPT; Greene, Nystrom, Engell, Darley & Cohen, 2004; Greene, Sommerville, Nystrom, Darley & Cohen, 2001; Greene, 2007; nach Cushman et al., 2010) wird ein integratives Modell vorgeschlagen: „[M]oral judgment is the product of both intuitive and rational psychological processes, and it is the product of what are conventionally thought of as ‚affective’ and ‚cognitive’ mechanisms” (Cushman et al., 2010, p. 48). Die Annahme der zwei Komponenten der DPT konnte in verschieden Studien repliziert werden: So verlangsamte eine Ablenkung kognitiver Art konsequentialistisches Urteilen, nicht aber deontologisches (Greene, Morell, Lowenberg, Nystrom & Cohen, 2008; nach Cushman et al., 2010) und die Aufhellung der Stimmung der Versuchspersonen durch einen erheiternden Film führte zu mehr konsequentialistischen Entscheidungen (Valdesolo & DeSteno, 2006; nach Cushman et al. 2010). Nach Keltner und Kollegen (2003) erleben mächtige Individuen generell häufiger positive und seltener negative Emotionen. Die in Abschnitt 4.6 besprochenen Studien können jedoch davon unabhängige Effekte von Macht(besitz) auf moralisches Urteilen feststellen.

2.3 Eingrenzung für diesen Review

Einleitung und Vorstellung der zentralen Begriffe deuteten die Themeneingrenzung für diese Arbeit bereits an, die an dieser Stelle noch einmal explizit gemacht werden soll. Angestrebt wird eine möglichst umfassende Darstellung der allgemeinen psychologischen Effekte von Macht(besitz) auf (un)ethisches Verhalten von Erwachsenen.

Entwicklungspsychologische Themen werden ausgeklammert. Ebenso bleiben schwerwiegende Straftaten und körperliche Übergriffe unberücksichtigt. Diese stellen zwar zweifellos eine Verletzung ethischer Werte dar und finden innerhalb eines Machtgefälles statt, werden aber in dieser Arbeit nicht behandelt, da diesen Themen sicherlich mehr Raum gegeben werden müsste, als es an dieser Stelle möglich ist.

Innerhalb dieser Eingrenzung wird versucht, ein möglichst breites Spektrum an verschiedenen Formen von Macht einerseits und (un)ethischen Verhaltensweisen anderer- seits aufzuzeigen. Unter Macht werden sowohl ein persönliches Machtempfinden von In- dividuen, Machtmotivik, Macht über andere aufgrund einer legitimierten hierarchischen Position als auch die Unabhängigkeit von anderen durch Ressourcenkontrolle in Form eines höheren sozialen Status verstanden. Die Formen (un)ethischen Verhaltens in dieser Arbeit sind vielfältig und reichen von Diskriminierung, rücksichtslosem Fahrstil über ver- schiedene Handlungen am Arbeitsplatz bis hin zu Formen prosozialen Verhaltens (Fair- ness/Reciprocity im Sinne der MFT). Ein weiteres Augenmerk liegt dabei auf dem The- menkomplex Empathie, interpersonelle Sensitivität, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft (Harm/Care im Sinne der MFT). Schließlich soll gezeigt werden, dass Macht moralisches Urteilen auch ganz direkt beeinflusst.

2.4 Fragestellungen

Die Durchsicht der behandelten Primärstudien erfolgte anhand mehrerer leselei- tender Hypothesen. Kipnis (1972) fand in einer vielbeachteten Arbeit empirische Bestäti- gung für ein berühmtes Zitat Lord Actons: “Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely“ (nach Kipnis, 1972). Wenn diese Aussage Gültigkeit hat, sollten sich mächtige Individuen in den besprochenen Primärstudien unethischer verhalten als macht- lose.

Hypothese: Macht hat einen korrumpierenden Effekt auf Individuen (H1).

Eine leichte Differenzierung kann noch getroffen werden:

Hypothese: Mächtige zeigen häufiger unethisches Verhalten (H1a).

Hypothese: Mächtige zeigen seltener ethisches Verhalten (H1b).

Neuere Forschungen weisen verstärkt alternative Interpretationen auf. So zeigen Chen, Lee-Chai und Bargh (2001) in ihrer Studie, dass die Effekte von Macht auf Individuen von deren Beziehungsorientierung abhängt. Daher folgt:

Hypothese: Macht verstärkt den Zusammenhang zwischen pro- bzw. antisozialen Tendenzen und tatsächlichem Verhalten (H2).

Auch hier lässt sich leicht differenzieren:

Hypothese: Eine Person mit prosozialer Orientierung zeigt mehr ethisches Verhalten, wenn man ihr Macht gibt (H2a).

Hypothese: Eine Person mit antisozialer Orientierung zeigt mehr unethisches Verhalten, wenn man ihr Macht gibt (H2b).

Wenn moralisches Urteilen tatsächlichem Verhalten vorausgeht, ist außerdem zu erwarten, dass Macht auch einen direkten Einfluss auf die Bearbeitung moralischer Dilemmata hat.

Hypothese: Macht beeinflusst moralisches Urteilen (H3).

Da noch keine genauen Vorannahmen zum Zusammenhang von Macht(besitz) und moralischem Urteilen getroffen wurden, ist an dieser Stelle eine ungerichtete Hypothese mit eher explorativem Charakter formuliert.

3. Methoden

3.1 Ein- und Ausschlusskriterien der verwendeten Literatur

Studien über moralische Entwicklung wurden aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit nicht berücksichtigt, ebenso Artikel, die sich mit sexuellen oder sonstigen körperlichen Übergriffen beschäftigten. Der Begriff „power“ wurde teilweise im Sinne von Effektstärke verwendet. Studien, die sich nur oder hauptsächlich mit einem der beiden zentralen Konstrukte befassten, wurden ausgeschlossen. Da das Phänomen Macht Gegen- stand reichhaltiger Forschung ist, fanden sich auch aktuelle Review-Artikel (Keltner et al., 2003; Hirsh et al., 2011; Bombari, Schmid Mast, Brosch & Sander, 2013), die in diese Arbeit mit eingegangen sind. Beiträge mit zu spezifischen Zielgruppen (z.B. Spitzensport- lern) wurden aussortiert.

3.2 Vorgehen

Alle Suchen wurde mittels EBSCOHost® und den Datenbanken Psychology and Behavioral Sciences Collection®, PSYNDEX®, PsycINFO® sowie PsycARTICLES® im Zeitraum von Januar bis April 2014 durchgeführt, beschränkt auf Literatur ab Erschei- nungsjahr 2004. Der Autor zog es vor, eine gröbere Suche durchzuführen und relevante Artikel nach Durchsicht der Abstracts selbst herauszusuchen. Verwendet wurden am 22.03.2014 die Suchbegriffe „power“ und „moral behavior“, verbunden mit dem boo- le’schen Operator „and“. Hieraus resultierten 425 Treffer. Auf dieser Informationsbasis und den Einschränkungen für diese Arbeit wurden relevante Treffer in Betracht gezogen. Zusätzlich wurde am 23.03.2014 eine Suche mit dem gleichen Vorgehen und den Begrif- fen „Power“ und „ethic“ durchgeführt, beschränkt auf peer-reviewed-journals. Das Such- ergebnis mit 1247 Treffern enthielt erwartungsgemäß viele Redundanzen, es wurden je- doch auch dem Thema nahestehende Artikel gefunden, die in der vorherigen Suche nicht aufgeführt waren. Eine gleichartige Suche mit den Begriffen „power“ und „corrupt“ ent- hielt die Dissertation von Andy J. Yap (2014). Da eine Dissertation kein peer-review- Verfahren durchläuft, wurde sie nicht einbezogen, jedoch ein in einem peer-reviewed- Journal publizierter Artikel des Autors (Yap et al., 2013). Die Suche mit „power“ und „empathy“ im April 2014 lieferte 220 Treffer und enthielt Bombari et al. (2013). Zusätz- lich wurden in Form einer Inverssuche aus dem Literaturverzeichnis relevanter Treffer weitere Artikel herausgesucht. Zuletzt lieferte eine freie Suche mit der Internetsuchmaschine Google eine Seite6, auf der Ergebnisse relevanter psychologischer Fachliteratur zusammengetragen sind. Die Artikel von Côté und Kollegen (2011) sowie Côté, Piff und Willer (2013) wurden dort gesehen und über EBSCOHost® recherchiert. Durch die Reichhaltigkeit an aktuellen Forschungsarbeiten erschien eine zeitliche Einschränkung auf Artikel, die im Jahr 2008 oder später veröffentlicht wurden, sinnvoll.

3.3 Verwendete Primärstudien

Insgesamt gingen 20 Primärstudien in diese Arbeit ein. Die meisten Untersuchun- gen wurden mit einer studentischen Stichprobe durchgeführt, teilweise aber auch mit an- deren Gruppen (Online-Befragung, Manager, aus der Allgemeinbevölkerung rekrutierte Versuchspersonen, etc.). In Tabelle 1 finden sich Angaben zur Stichprobe, zur Operationalisierung von Macht(besitz) und (un)ethischem Verhalten sowie, sofern vor- handen, zu Mediatoren und Moderatoren. Ebenfalls enthalten sind zentrale Ergebnisse der einzelnen Studien. Obwohl man aufgrund von Stereotypen von Geschlechtseffekten aus- gehen könnte, unterscheiden sich Frauen und Männer kaum (lediglich vereinzelt werden Unterschiede berichtet: so determinierte trait dominance das persönliche Machtempfinden von Frauen in Studie 5 von Anderson et al., 2012, stärker als das von Männern. Frauen wiesen höhere interpersonelle Sensitivität auf in Studie 2 von Schmid Mast et al., 2009. Frauen tendierten eher als Männer zur De-Eskalation in einer Simulation der Kuba-Krise bei Magee & Langner, 2008). In manchen Studien wird Macht auf mehrere Arten opera- tionalisiert, wobei an keiner Stelle von darauf zurückführbaren Unterschieden berichtet wird. Macht findet sich in der vorgestellten Literatur in Form des persönlichen Machtemp- findens, des personalisierten und sozialisierten Machtmotivs, Rollenzuteilung, Hierarchie- Unterschieden in der Arbeitswelt, soziometrischem Status, sozioökonomischem Status, Ressourcenkontrolle und -verteilung sowie episodischem und semantischem Priming.

(Un)ethisches Verhalten wird ebenso in einer großen Bandbreite behandelt. In den Studien finden sich Verhaltensabsichten, tatsächliches Verhalten sowie psychologische Konstrukte, deren Zusammenhang mit (un)ethischem Verhalten empirisch bereits gut etabliert ist (Macchiavellianismus, Empathie, prosoziale Orientierung). Der Schwerpunkt liegt auf Harm/Care und Fairness/Reciprocity im Sinne der MFT. Die Effekte von Macht(besitz) auf Moral werden anhand der Präferenz für unterschiedliche Moralphilosophien (Deontologismus, Konsequentialismus, Utilitarismus) gemessen.

Tabelle 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1 http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/psychologie-was-macht-aus-uns-macht-1590134.html, Zugriff am 17.06.2014.

2 Unter Mitarbeit Stapels entstandene Studien, die in diese Arbeit Eingang gefunden haben (Lammers & Stapel, 2009; Lammers, Stapel & Galinsky, 2010; Lammers, Stoker, Jordan, Pollmann & Stapel, 2011), wurden von der untersuchenden Kommission freigegeben (https://www.commissielevelt.nl/wpcontent/uploads_per_blog/commissielevelt/2013/01/finalreportLevelt1.pdf, Zugriff am 29.06.2014).

3 u.a. auch die bekannte Definition von Max Weber, nach der „Macht jede Chance [bedeutet], innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance besteht“ (1921; zit. nach Schmalt & Heckhausen, 2006, S.213)

4 Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit sind alternative Einteilungen an dieser Stelle ausgespart

5 Furcht vor Zuwachs an eigenen Machtquellen, Furcht vor Verlust eigener Machtquellen, Furcht vor Aus- übung eigener Macht, Furcht vor Gegenmacht des anderen, Furcht vor Erfolgslosigkeit des eigenen Machtverhaltens.

6 http://www.psych-it.com.au/Psychlopedia/article.asp?id=273, Zugriff am 21.04.2014

Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Effekte von Macht(besitz) auf (un)ethisches Verhalten
Untertitel
Ein empirischer Review neuerer Forschungsliteratur
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für Psychologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
60
Katalognummer
V342504
ISBN (eBook)
9783668324411
ISBN (Buch)
9783668324428
Dateigröße
723 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychologie, Ethik, Macht, Moral, Ethical Leadership, Leadership, Führung, Empathie, Verhalten
Arbeit zitieren
Daniel Schmidt (Autor:in), 2014, Effekte von Macht(besitz) auf (un)ethisches Verhalten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342504

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