Extrait
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
2. Diskussion der zentralen Begriffe und Anspruch der Arbeit
2.1 Der freie Wille und neuronaler Determinismus
2.2 Die philosophische Perspektive
3. Die neurowissenschaftliche Perspektive
3.1 Ausgewählte Experimente der Neurowissenschaften
3.1.1 Die Libet Experimente
3.1.2 Die Experimente von Haggard & Eimer
3.1.3 Die Experimente der Forschergruppe um John-Dylan Haynes
3.1.3.1 Der Punkt ohne Wiederkehr
4. Die Interdependenz von bewussten und unbewussten Prozessen
4.1 Die Beeinflussung unbewusster Prozesse durch bewusste Intentionen und Vorsätze: Freiheit im Gehirn!
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Vorbemerkung
Der Begriff des freien Willens prägt das Menschenbild der modernen demokratischen Welt in besonderer Weise, denn er bestimmt die sozial-moralischen Handlungen und die Selbstverantwortung des Einzelnen mit. Damit zusammenhängend spielen Selbstbestimmung,Selbstregulationund persönliche Veränderung eine zentrale Rolle, da von den Entwicklern desAutonomiekonzeptes(Deci& Ryan 2000)ein Bedürfnis angenommen wird, dass die Akteure ihre Lebensprozesse und sich selbst frei und ursächlich auch selbst gestalten können. Darüber hinaus findet sich das Konzept des freien Willens in der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. Der Mensch ist freier als beispielsweise primitivere Organismen, da er nicht auf jeden Reiz mit einem starren Reiz-Reaktion-Schema antworten muss.
2. Diskussion der zentralen Begriffe und Anspruch der Arbeit
Bei der Bestimmung des zentralen Begriffs Freier Wille muss klar unterschieden werden zwischen dem Begriff Wille und dem Begriff Freiheit bzw. dem Attribut frei. Bei einer Suche bei den Autoren neurowissenschaftlicher Beiträge wird deutlich, dass für den Begriff Wille keine kausalen Zusammenhänge oder Prozessbeschreibungen angeboten werden können. Im Gegenteil, der Neurobiologe Gerhard Roth (2003, S. 66) gibt an: "Eine Willensfreiheit, die eine Wirkung auf Handlungen hat, selbst aber nicht verursacht ist, kann es dann per definitionem nicht geben." An anderer Stelle wird dies relativiert, so schreibt Roth (2001 S. 433): „Der Wille ist ... ein wichtiger Faktor bei der Auswahl, der Vorbereitung und Steuerung komplexer Handlungen.“ Nach Roth tritt der Wille dann auf den Plan, wenn Fokussierung und eine klare Zielvorstellung besteht und konkurrierende Pläne und Realisierungsmöglichkeiten ausgeblendet werden (Roth 2007, S. 178). Richten wir die Perspektive auf die Neurophilosophie von Tretter &Grünhut (2010): Hier verstehen die Verfasser unter Wille ein Entscheiden, das auf einem bewussten Reflexionsprozess begründet ist. Damit kann eine Handlungsausführung initiiert werden, diese betrifft ebenfalls eine absichtsvolle Zielsetzung und das Streben nach einem Handlungserfolg.
Bei Freiheit wird im Kontext dieser Arbeit unterschieden zwischen der Freiheit des Wollens und der Freiheit zur aktuellen Handlung. Diese Differenzierung setzt sich fort in der Unterscheidung von innerer und äußerer Freiheit: Innere Freiheit wird als ein Zustand verstanden, der den Menschen befähigt, seine individuellen Möglichkeiten und Anlagen (Kompetenzen) wählen und darüber entscheiden zu können; während äußere Freiheit bedeutet, den Einsatz seinerFähigkeiten im sozialen Raum, ohne Zwang zuwählen und zu nutzen. Der Begriff schließt die Autonomie und Selbstverwirklichung des Individuums ein. Freiheit entwickelt sich alsein praktischer und kommunikativer Prozess, der im sozialen Raum erworben wird und ständig neu konstruiert werden muss (vgl. Schockenhoff2004).
Der freie Wille wird in der aktuellen Diskussion als eine subjektiv empfundene Fähigkeit beschrieben, bei vorhandenen Wahlmöglichkeiten, eine bewusste Entscheidung zu treffen und Handlungen kontrollieren zu können:
- Der handelnde Mensch hätte auch ein alternatives Verhalten wählen können.
- Die Entscheidung und Handlung wird selbst kontrolliert und ausgeführt.
- Der Mensch ist der Urheber seiner Entscheidungen und Handlungen und verantwortlich1.
Der Anspruch der Arbeit ist es, unterschiedliche Ansätze und Forschungen der Neurowissenschaften und deren Experimente ansatzweise darzustellen und ihre Stärkenund Mängeln zu betonen. Dabei steht folgende Perspektive im Vordergrund: Wenn eine überzeugende Rekonstruktion der Willensfreiheit und der neurowissenshaftlichen Untersuchungen gelingt, dann könnte das Zusammenspiel von unbewussten und bewussten Prozesse thematisiert werden.
2.1 Der freie Wille und neuronaler Determinismus
Mit dem Eintritt der Neurowissenschaften in die Diskussion zum freien Willen vollzog sich ein Wandel in der bisher philosophischen Betrachtungsweise. Die neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse wurden so interpretiert, dass Freiheit und der freie Wille eine Illusion sei, da unbewusste Gehirnprozesse bereits aktiv wären, bevor die Person eine bewusste Entscheidung getroffen hätte (s. traditionellen Experimente S. 4ff.). Die dominanten Positionen zu diesem Thema werden in Deutschland von dem Neurophysiologen Wolf Singer, dem Neurobiologen Gerhard Roth und dem Psychologen Wolfgang Prinz vertreten und unterschiedlich begründet (Singer 2004, 2005, Roth 2001, 2003, 2004, 2007, Prinz 2003).
Diese Positionen lassen sich auf drei, teilweise provozierenden Imperative reduzieren:
- „Wir sind determiniert. Der freie Wille ist eine Illusion!“ (Roth),
- „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen!“ (Singer),
- „Der Mensch ist nicht frei! Der freie Wille ist ein kulturelles Produkt“ (Prinz).
In dieser Arbeit werden nicht die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung verworfen. Es steht nur zur Diskussion, ob die bisherigen Erkenntnisse ausreichen, um solche fundamentalen Aussagen über die Natur des Menschen und Selbstkonzept abzuleiten.Nach Aussagen des Gehirnforschers AntonioDamasio (2000b) wäre es anmaßend zu sagen, die Neurowissenschaft hätte bereits eine zufriedenstellende Beschreibung psychischer Phänomene wie Selbst, Selbstkonzept, Persönlichkeit, Bewusstsein, Unbewusstes, Willensfreiheit, etc. auf den Weg gebracht, denn eine neurowissenschaftliche Erklärung ist erst dann erfolgreich, wenn die Konstitution dieser Phänomene geklärt ist (ebd. S. 111f.)2.
2.2 Die philosophische Perspektive
Ein aktuellesphilosophisches Konzept, das sich als kompatibel mit den Ergebnissen der Neurowissenschaften beweist, ist die naturalistische Philosophie von John Searle. Searle(2004a, 2004b) betont, dass Bewusstsein als höherstufige biologische Eigenschaft des Gehirns verstanden werden kann, welches von Neuronen und Synapsen realisiert wird. Eine Reduktion des Bewusstseins auf seine neuronalen Voraussetzungen lehnt er ab, denn „jeder Bewusstseinszustand existiert nur als ein von einem Subjekt erlebter (2004b, S. 91).
An diesen Gedanken setzt der Philosoph Thomas Metzinger(2000) mit der Suche nach„neuronalen Korrelaten des Bewusstseins“ an. Für ihn ist dies „der erste Schritt in der Zurückführung des Bewusstseins auf biologische Prozesse.“ Die Suchrichtung geht auf Prozesse und Strukturen im Gehirn, die mit bewussten Erleben in Beziehung stehen. Ein Korrelat wäre ein Befund, der einem Lebewesen bewusstes Erleben zusprechen könnte.
Der Philosoph Peter Bieri (2001, 2005) setzt sich mit dem Begriff Freiheit und den Positionen der Neurowissenschaftler auseinander, um eine Verbindung zwischen beiden Systemen zu erreichen. So fragt er, aus welcher Perspektive wir beispielsweise den Begriff Freiheit betrachten? Es ist die Perspektive, aus der heraus wir uns als Person sehen. „ Die Freiheit des Willens liegt darin, dass er auf eine bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen“ (Bieri 2001, S. 80), denn frei sind wir dann, wenn wir entsprechend unserer Überzeugungen handeln. Der Mensch könnte auch anderes handeln, wenn er anders urteilen würde. In der Beziehung zwischen Urteilen und Wollen liegt die Freiheit.
3. Die neurowissenschaftliche Perspektive
Die von Benjamin Libet (1985, 1999, 2002) durchgeführten undvon Haggard & Eimer (1999) später wiederholten Experimente können als Initiative für die neurowissenschaftliche Forschung der unbewussten Prozesse zur Willensfreiheit betrachtet werden. Einen Unterschied zu diesen Forschungen, machen die Experimente der Forschergruppe um John-Dylan Haynes, die dieselben Inhalte und Fragestellungen untersuchen, sich jedoch an der Diskussion um den freien Willen nicht aktiv beteiligen.
3.1 Ausgewählte Experimente der Neurowissenschaften
3.1.1 DieLibet Experimente
Benjamin Libetveröffentlichten die Ergebnisse seiner Experimente zu den Prozessen der Handlungsentscheidung, der Verarbeitung in den motorischen Arealen des Kortex (SMA) und der Aktivierung der Muskulatur im Jahr 1983. In Kürze die entscheidende Aussage: Ein symmetrisches Bereitschaftspotential3 in den suplementär-motorischen Arealen(SMA)geht zeitlich der Willensentscheidung voraus. Dies bedeutet, dass unbewusste Prozesse im Gehirn vor dem bewussten Willensakt auftreten.
In dem Versuchsaufbau erhielten die Versuchspersonen die Instruktion, innerhalb einer gegebenen Zeit (2:56 Sekunden) spontan den Entschluss zu fassen, einen Finger der rechten Hand oder die gesamte rechte Hand zu beugen. Ein Elektromyogramm (EMG) erlaubte eine genaue Messung der Aktivität der Muskeln; für die Messung des Bereitschaftspotentials im Kortex wurde ein EEG eingesetzt. Mehr Schwierigkeiten machte die Erfassung des exakten Zeitpunkts der bewusst erlebten Handlungsentscheidung. Libetet al. entschieden sich für den Einsatz einer Oszilloskop-Uhr, auf der ein Punkt innerhalb von 2:56 Sekunden einen vollständigen Kreis durchläuft. Nach einer Handbewegung sollten die Versuchspersonen die Stellung der Uhr zu dem Zeitpunkt benennen, bei dem sie den bewussten „Drang“ (urge) verspürten, den Finger oder die Hand zu bewegen (M). In einem anderen Setting genügte es, sich zu merken, ob sie die Entscheidung vor oder nach einem Stopp der Rotation gefällt hatten (W).in einer dritten Serie ging es um den Zeitpunkt der Empfindung eines somatosensorischen Reizes.4
In allen Experimenten wurde das „symmetrische Bereitschaftspotential“ gemessen. Der Nullpunkt der Zeitskala war auf den Beginn der Aktivierung der Muskulatur gelegt (EMG). Relativ zu diesem Bezugspunkt wurden die Zeitabstände von jeweils 40 EEG-Aufzeichnungen erfasst. Alle gemessenen Zeiten, relativ zum definierten Nullpunkt waren im Mittel wie folgt:
- Bei- 1050 ms trat das Bereitschaftspotential auf, bei einer Planung der Bewegung;
- Bei – 550 ms setzte das Bereitschaftspotential bei spontanen Handlungen ein;
- Bei – 200 mslag der Zeitpunkt bei willentlichen Handlungsentscheidungen.
Obwohl Libet(1983, 1985) von der Existenz einer bewussten Kontroll- und Korrekturfunktion ausging, die im Zeitraum von ca. 100 ms vor der Handlungsausführung eine bereits eingeleitete Handlung noch durch ein „Veto“ verhindern könnte, in dem sie „willensbestimmte Ergebnisse selektieren und unter ihre Kontrolle bringen“ kann, formuliertenLibetet al. folgende Schlussfolgerungen:
- Die Handlungsentscheidung folgt nach dem Bereitschaftspotential.
- Die Willenshandlungen werden von unbewussten Prozessen vorbereitet und sind demnach nicht frei.
Ursprünglich wollte Libet die Existenz der Willenfreiheit nachweisen (nach Roth 2001, S. 437). Durch die Diskussionen seiner Forschungsergebnisse, deren Interpretationen und Kritiken in der Philosophie, Psychologie, Rechtswissenschaften und den kognitiven Neurowissenschaften wurde über viele Jahre einvielfältiger Diskurszur Willensfreiheit und den neuronalen Determinanten von bewussten Handlungsentscheidungen geführt.
Die Libet Experimente wurden ausführlich diskutiert und vielfältig kritisiert. Als die hauptsächlichen Kritikpunkte wurden herausgestellt:
- dass die subjektive Bestimmung des Zeitpunktes des Willensaktes mit der objektiven Zeitmessung des Bereitschaftspotentials schwer in Beziehung zu setzen ist;
- dass die Annahme, die motorische Reaktion sei durch das symmetrische Bereitschafts-potenzial bestimmt, nicht ausreichend sei, denn es könne ja der freie Wille noch dazwischen aktiv sein;
- dass die untersuchten einfachen Handlungen nicht einfach auf komplexe Handlungsabläufe übertragen werden können;
- dass durch die vorgegebene Handlungsinstruktionen die Freiwilligkeit der Handlung in Frage gestellt werden kann.
3.1.2 Die Experimente von Haggard & Eimer
Die Libet Experimente und besonders der letzte Kritikpunkt der fehlenden Wahlfreiheit wurden von dem Neurophysiologen Haggard und dem Psychologe Eimer (1999) einer erneuten experimentellen Überprüfung unterzogen.
Einerseits überprüften sie neben dem symmetrischen Bereitschaftspotential auch das lateralisierteBereitschaftspotential, welches insbesondere die später einsetzenden Aktivitäten des dorsolateralen prämotorischen und motorischen Kortex widerspiegelt und dadurch die späteren Bewegungen präziser erfasst. Zum anderen wurden spontane Handlungsentscheidungen (W) und vorausgeplante Handlungsentscheidungen (M) unterschieden. Darüber hinaus beinhaltete der Versuchsaufbau, dass die Versuchspersonen zwischen der Bewegung der rechten Hand und der linken Hand wählen konnten. Es wurden acht Personen untersucht. Jeder Block bestand aus 40 Durchläufen. Am Ende sollten 20 Mal die linke Hand und 20 Mal die rechte Hand bewegt worden sein. Die Instruktionen von Haggard & Eimer unterschieden sich von Libets Anweisungen: Die Probanden sollten sich den Zeitpunkt merken, an dem sie beginnen, sich auf eine Bewegung vorzubereiten, während Libet seine Teilnehmer darum bat, sich den Zeitpunkt zu merken, an dem sie den Bewegungswunsch spürten.
Die relevanten Ergebnisse kurz gefasst: In ihrem Experimenten konnten Haggard und Eimer (1999) eine Korrelation zwischen dem LBP und den Zeitpunkt der spontanen Handlungsentscheidung deutlich aufzeigen (350 ms vor dem Zeitpunkt der Willensentscheidung). Der Zusammenhang von Entscheidungspunkt und LBP war hochsignifikant. Aufgrund der Annahme, dass kausal verknüpfte Prozesse zeitlich korrelieren sollten, folgerten sie, dass nur das LBP die unbewusste Ursache eines bewussten Willensaktes darstellen kann.
[...]
1 Diese Definition bezieht sich auf Kants Kritik der reinen Vernunft (1983).
2 Zur weiteren Diskussion dieser Themen, siehe Geyer (2004), Kane (2011).
3 Das Bereitschaftspotential ist ein elektrophysiologisch messbares Phänomen, das kurz vor willkürlichen Bewegungen in bestimmten Arealen der Großhirnrinde (im supplementärmotorischen Cortex) auftritt und als Ausdruck von Aktivierungs- und Vorbereitungsprozessen interpretiert wird. Das Bereitschaftspotential wird in der Gehirnforschung genutzt, weil verhaltensbezogene Gehirntätigkeit vor dem bewussten Erleben des entsprechenden Verhaltens angezeigt wird.
4 Um sicher zu gehen, dass die Versuchspersonen den Zeitpunkt der bewussten Wahrnehmung des Bewegungsdranges genau kommunizieren, wurde ein Vortest durchgeführt: Die Probanden erhielten leichte Elektroreize auf der Haut und sollten den Zeitpunkt der Stimulation mittels der Oszilloskop-Uhr angeben.Es ergaben sich geringe Variationen mit einer mittleren Abweichung von -50 ms verglichen mit dem realen Zeitpunkt des Reizes
- Citation du texte
- Svetlana Reinert (Auteur), 2016, Der menschliche Wille. Frei, determiniert und „befreit“ durch das Zusammenwirken von Neurowissenschaft, Psychologie und Philosophie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342597
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