Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren


Research Paper (undergraduate), 2016

47 Pages, Grade: 11,5


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Inhaltsverzeichnis

A. Überblick

B. Zur Terminologie

C. Die Arbeit von Gesetzgeber und BVerfG
I. Wissensdefizite des Gesetzgebers
II. Normenkontrollen durch das BVerfG
III. Die Entscheidungen des BVerfG

D. Verfassungsrechtliche Verankerung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers
I. Judical self-restraint und Political-question-Doktrin
II. Verankerung der Prärogative in den Staatsstrukturprinzipien
1. Demokratieprinzip
2. Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung
a) Grundsatz der Gewaltenteilung
b) Grundsatz der Funktionengerechtigkeit
3. Einordnung des BVerfG und des Gesetzgebers
a) Stellung des BVerfG im Staatsgefüge und seine funktionale Einordnung
b) Funktionale Einordnung des Gesetzgebers
c) Demokratietheoretische Bewertung der Organe
III. Zwischenfazit

E. Zur Rechtsprechung des BVerfG
I. Das BVerfG und die Kontrolldichte
II. Verfassungsrechtliche Bestimmung der Kontrolldichte
III. Entwicklung der Rechtsprechung
IV. Besonderheiten
1. Gesetzgebungskompetenz
2. Außen- und Wirtschaftspolitik
3. Umgehungsmöglichkeiten der Einschätzungsprärogative
V. Grenzen der Einschätzungsprärogative

F. Nachteile und Notwendigkeit der Kompensation gesetzgeberischer Entscheidungsdefizite .
I. Schädigung des Grundsatzes der funktionalen Gewaltenteilung
II. Verlust des gesellschaftlichen Kompromisses 29
III. Erschwerung von Politikwechseln
IV. Verlust der Schiedsrichterfunktion
V. Notwendigkeit der Kompensation

G. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Überblick

"Wir fördern und fordern den Bundestag",

Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts.1

Ist das BVerfG der „pädagogische Korrektor“2 des Gesetzgebers? Das BVerfG hat die staatliche Gewalt zu kontrollieren und die Fortbildung des Verfassungsrechts zu betreiben.3 Es stellt sich jedoch die Frage, in welchem Verhältnis das Bundesverfassungsgericht und der Gesetzgeber zueinander stehen. Mit welcher Strenge hat das BVerfG die Entscheidungen des Ge- setzgebers zu überprüfen? In welchen Fällen und warum sollte es sich ihm gegenüber zurückhalten?

Gesetzgebung geschieht aufgrund wahrgenommener Problemlagen und es werden dabei bestimmte Erwartungen an die künftige Wirksamkeit der aufgestellten Rechtsnorm gestellt.4

Im Geschäftsjahr 2015 wurden 13 Rechtsvorschriften in Normenkontrollund Verfassungsbeschwerdeverfahren vom BVerfG auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Davon wurden acht zumindest teilweise als unvereinbar mit dem Grundgesetz oder für nichtig erklärt.5 Durchschnittlich handelt es sich um zehn Fälle pro Jahr.6

Dass dies dem Gesetzgeber nicht gefallen kann, liegt auf der Hand. Schließ- lich wird ihm damit von dem Verfassungsorgan7, welches bei der Bevölke- rung das stärkste Vertrauen genießt, attestiert, dass Teile seiner Arbeit nicht den Anforderungen des vom Volk ebenso hoch geschätzten Grundgesetzes8 entsprechen.

Hinzu kommt, dass das BVerfG teilweise seine eigenen Rationalitätsvorstellungen an die Stelle der des Gesetzgebers setzt.9

Mit dieser Arbeit soll erörtert werden, ob und wie weit das Bestehen einer Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ein adäquates Mittel darstellt, um dem Machtverhältnis zwischen beiden Organen feste Konturen zu geben. Dafür ist ihre jeweilige Rolle im staatlichen Gefüge zu bestimmen und eine verfassungsrechtliche Herleitung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers vorzunehmen. Anschließend wird die Beachtung ebendieser in der Rechtsprechung des BVerfG untersucht.

Nach der Darstellung von Risiken einer zu laxen Beachtung durch das BVerfG wird eine Empfehlung für die Zukunft getroffen.

B. Zur Terminologie

Das Wort Prärogative kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Vorrang.10 Seit der Aufnahme seiner Arbeit 1951 hat das BVerfG in ständiger Recht- sprechung11 dem Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit einen grundsätzlich wei- ten Gestaltungsspielraum12 zugesprochen und immer wieder beteuert, diesen auch bei Entscheidungen mit Prognosecharakter geachtet zu haben.13 Den Begriff der Einschätzungsprärogative verwendet das BVerfG nahezu ubiquitär14 in seinen Entscheidungen seit dem Urteil zum Mitbestimmungs- gesetz15 (1979), um damit die rechtlichen und tatsachenbezogenen Spielräume des Gesetzgebers zu bezeichnen.16

Wenn vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers die Rede ist, ist damit der voluntative Teil der Gesetzgebung gemeint,17 also hauptsächlich die Art und der Umfang der gesetzlichen Regelung.

Das Gericht habe nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste oder 18 - scheiden, wie und auf welche Weise er ein legitimes Ziel erreichen wolle. Er darf grundsätzlich auf alle Mittel zurückgreifen, die ihrer Art nach nicht evident ungeeignet oder unverhältnismäßig sind.19

Bis es seit dem 79. Band der BVerfGE fortlaufend den Begriff der Einschätzungsprärogative verwendet, wechselte es die Terminologie mehr- fach.20 Zunächst war von der Ermessensfreiheit des Gesetzgebers bzw. von Gesetzgebungsermessen21 die Rede:22 „Das BVerfG hat nur die Rechtmä- ßigkeit einer Norm, nicht auch ihre Zweckmäßigkeit nachzuprüfen. Die Frage, ob das Grundgesetz dem Gesetzgeber Ermessensfreiheit einräumt, und wie weit sie reicht, ist eine vom BVerfG nachzuprüfende Rechtsfrage.“23

In den Entscheidungen ist dann von gesetzgeberischer Freiheit, Gestal tungsfreiheit oder -spielraum und vom Prognose - und Beurteilungsspiel raum des Gesetzgebers die Rede, auch die Begriffe Gestaltungsspielraum und Einschätzungsspielraum finden sich.24

In der Literatur werden ebenfalls die unterschiedlichen Begriffe verwendet.25 Die verschiedenen Begriffe sind bisher nicht aus der Rechtsprechung verschwunden.26

C. Die Arbeit von Gesetzgeber und BVerfG

I. Wissensdefizite des Gesetzgebers

Tägliches Brot des Gesetzgebers ist das Erlassen von Gesetzen. Die dabei anfallenden Entscheidungen sind zwangsläufig von „Wissensdefiziten“27 geprägt. Einerseits stehen künftige Umweltveränderungen und damit die anvisierte Gesetzeswirkung zum Zeitpunkt der Gesetzgebung nicht fest.28 Hinsichtlich der Wirksamkeit einer Norm beruht Gesetzgebung somit immer auf einer Zukunftsprognose, also der „Vorhersage einer zukünftigen Ent- wicklung“29. Es besteht eine „Entwicklungsunsicherheit“30. Es sei nur an gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen oder Naturereignisse ge- dacht, die zur Zeit des Legislativaktes nicht vorausgesehen werden können. Andererseits ist es dem Gesetzgeber nicht möglich, bei seiner Analyse der aktuellen Problemlage den tatsächlichen Ist-Zustand vollkommen „richtig“ zu erfassen.31 Die in seine Abwägungen einbezogenen Informationen wer- den daher immer unvollständig und zum Teil fehlerhaft sein. Dennoch muss der Gesetzgeber bei seiner Arbeit Wertungsentscheidungen treffen.

Dies wird auch vom BVerfG anerkannt. So verlangt es bspw. im Ur- teil zum Gentechnikgesetz (2010) ausdrücklich keinen wissenschaftlich- empirischen Risikonachweis bzgl. des Anbaus gentechnisch veränderter Or- ganismen. Der Gesetzgeber sei hier dennoch (trotz der Unsicherheit) befugt, die Gefahren- und Risikolage zu bewerten und zu entscheiden.32 In einer der Entscheidungen zu transsexuellen Menschen (Transsexuelle II) wird deutlich, dass auch die Bewertung der angenommenen Auswirkungen der getroffenen Regelung in den Bereich der Einschätzungsprärogative fal- len.33 Auch die Beurteilung der Geeignetheit einer Ma ß nahme zur Erreichung des Regelungsziels soll der Einschätzungsprärogative des Gesetzge- bers unterliegen.34

Durch die Verwendung des Begriffs Prärogative wird eine Kompetenzzuweisung vorgenommen, also der Vorrang des Gesetzgebers im Verhältnis zum BVerfG deutlich gemacht.35

Mit der Einschätzungsprärogative ist also gemeint, dass für eine bestimmte Zeit und Umfang die Einschätzungen des Gesetzgebers in all ihren Dimensionen vom BVerfG nicht durch dessen eigene ersetzt werden dürfen und sie als verbindlich gelten.36

II. Normenkontrollen durch das BVerfG

Das tägliche Brot der Richterinnen und Richter am BVerfG ist das Überprüfen der Gesetze.

Inhalt dieser Normenkontrollen ist eine Rechtsgültigkeitsprüfung der betreffenden Norm am Maßstab einer anderen.37

Das BVerfG prüft, ob die zu überprüfende Norm mit der vom Grundgesetz vorgegebenen Rahmenordnung38 vereinbar ist bzw. wenn es sich um Lan- desrechtliche Vorschriften handelt, ob diese mit dem Bundesrecht vereinbar sind. Es wird die formelle Verfassungsmäßigkeit (Zuständigkeit, Einhaltung des Gesetzgebungsverfahrens, Form) sowie die materielle Verfassungsmä- ßigkeit (Vereinbarkeit mit der höherrangigen Norm) überprüft.39

Das BVerfG führt Normenkontrollen in vielen Verfahrensarten durch. For- mell werden nur die abstrakte Normenkontrolle, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.

V. m. § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. BVerfGG und die konkrete Normenkontrolle (auch: Richtervorlage),40 Art. 100 Abs. 1 GG i. V. m. § 13 Nr. 11, §§ 80 ff. BVerfGG als Normenkontrollverfahren bezeichnet, was jedoch eher irreführend ist,41 da sich in den anderen Verfahrensarten auch Möglichkeiten fin- den, solche durchzuführen. Immer dann, wenn der (zulässige) Streit- bzw. Beschwerdegegenstand eine Rechtsnorm ist oder dieser auf einer solchen fußt, hat das BVerfG eine Normenkotrolle durchzuführen. Das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle dient der Sicherung des An- wendungsvorranges des Grundgesetzes sowie des Bundesrechts vor dem Landesrecht.42 Sie kann, wie das Organstreitverfahren, als „politische Waf- fe“43 der Opposition genutzt werden, da als Antragsberechtigte (Art. 93 Abs.

1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG) neben der Bundesregierung die Landesregierungen und bereits ein Viertel der Mitglieder des Bundesta- ges ausreichend sind. So kann die Opposition bei Überstimmung im Ge- setzgebungsverfahren die Norm im Nachhinein auf ihre Verfassungsmäßig- keit überprüfen lassen.44

III. Die Entscheidungen des BVerfG

Die Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG sind im BVerfGG geregelt.

Bei abstrakten Normenkontrollen und Verfassungsbeschwerden erfolgt grundsätzlich eine Nichtigerklärung45 der verfassungswidrigen Norm mit 46 deklaratorischer Wirkung , § 78 S. 1, §§ 82 Abs. 1 i. V. m. 78 S. 1, § 95 Abs. 3 BVerfGG. Entsprechendes gilt für die Richtervorlage.47 Interessant sind insbesondere die Entscheidungsformen, die durch das BVerfGG nicht vorgesehen sind.

Unter anderem, um die Entstehung eines Rechtsvakuums nach Nichtigerklä- rung zu vermeiden, bedient sich das BVerfG teilweise anderer, selbst einge- führter Entscheidungsformen.48 Insbesondere die Unvereinbarkeitserklä- rung sei hier angeführt, bei der zwar die Verfassungswidrigkeit der Norm,nicht jedoch ihre Nichtigkeit festgestellt wird und das BVerfG daran eine Nachbesserungspflicht 49 des Gesetzgebers innerhalb einer bestimmten Frist 50 knüpft. Teilweise trifft das BVerfG eigene Übergangsregelungen, wobei es sich auf § 35 BVerfGG stützt.51 Durch solche Regelungen soll ein verfassungsnäherer Zustand erreicht werden.52

Unter Appellentscheidungen werden die Entscheidungen verstanden, in de- nen das BVerfG feststellt, dass eine Regelung „noch“ verfassungsgemäß ist, die Prognose des Gesetzgebers jedoch fehlerhaft war und aufgrund von künftigen Entwicklungen zu erwarten ist, dass die Norm in absehbarer Zeit verfassungswidrig sein wird. Auch hier setzt das BVerfG eine Frist zur Neu- ordnung und steckt den Rahmen für die vom Gesetzgeber zu erbringende Neuregelung ab.53

Teilweise macht das Gericht sehr konkrete und detaillierte Lösungsvorschläge, die den Gesetzgeber faktisch binden, so bspw. im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch.54

Das BVerfG schreibt dem Gesetzgeber in diesen Fällen also maßgeblich vor, wie er einen Sachbereich zu regeln hat oder stellt sogar selbst Normen auf. Die Entscheidungen des BVerfG binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) und haben in den in § 31 Abs. 2 BVerfGG genannten Fällen Gesetzeskraft. Der Gesetzgeber kann eine Entscheidung des BVerfG mit Gesetzeskraft nicht durch einfaches Gesetz aufheben.55 Bei der Auslegung des Grundge- setzes kommt dem BVerfG so die Funktion des Letztinterpreten zu, seine Entscheidungen haben innerstaatlich autoritative56 Letztverbindlichkeit.57

D. Verfassungsrechtliche Verankerung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers

Diese Funktion als Letztinterpret der Verfassung in Verbindung mit der Er- mächtigung, Gesetze für nichtig erklären zu dürfen, vermittelt dem BVerfG eine erhebliche Macht gegenüber dem Gesetzgeber. Durch den Begriff der Einschätzungsprärogative wird dieses Verhältnis zugunsten des Gesetzge- bers eingeschränkt: Er hat im Verhältnis zum BVerfG einen Vorrang in Be- zug auf die Einschätzung tatsächlicher oder zukünftiger Gegebenheiten. Es stellt sich die Frage, wodurch dieses Verhältnis bestimmt wird und wie es ausgestaltet ist.

Es wird betont, dass es dem Gesetzgeber möglich bleiben soll, politische Gestaltungen zu vollziehen und er nicht in die Rolle eines Verordnungsge- bers gedrängt werden soll.58 Die Aufgabe des BVerfG sei allein die gerichts- förmige Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Rahmenordnung und es gehöre nicht zu seinen Aufgaben, an die Stelle des Gesetzgebers zu treten oder diesem konkrete Vorgaben zu machen, wie dieser seine Aufgaben zu erfüllen habe.59

Der Gesetzgeber ist hinsichtlich seiner Handlungen jedoch nicht omnipotent.60 Er ist an die Wertentscheidungen der Verfassung61 und somit an die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip gebunden.62 Gleiches gilt für das BVerfG.63 Im Folgenden wird zu klären sein, woraus sich die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ergibt.

I. Judical self-restraint und Political-question-Doktrin

Zunächst ist festzuhalten, dass sich das Verhältnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber und somit eine Einschätzungsprärogative nicht aus einem sog. Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung („judical self-restraint“) ergeben kann. Das Grundgesetz verbietet eine solche Selbstbeschränkung.

Sie würde eine Selbstermächtigung des Gerichts bedeuten.64 Dies gilt eben- so für die sog. Political-question-Doktrin. Das BVerfG ist bei Zuständigkeit verpflichtet, den Fall zu entscheiden.65 Die Kompetenzen des BVerfG sind in dem Rahmen zu suchen, der von der Verfassung vorgegeben ist.66

II. Verankerung der Prärogative in den Staatsstrukturprinzipien

Vielmehr ergibt sich die Einschätzungsprärogative aus den tragenden Prin- zipien67 der Verfassung, somit aus dem Demokratie- und aus dem Rechts- staatsprinzip, insbesondere der Gewaltenteilung. Dies wird im Folgenden zu beweisen sein.

Das Grundgesetz schreibt in Art. 20 Abs. 1 u. a. fest, dass Deutschland eine Demokratie ist. Das Demokratieprinzip dient, ebenso wie das Rechtsstaats- prinzip (Art. 28 Abs. 1 S. 1 i. V. m. 20 Abs. 3 GG), der Verwirklichung von Selbstbestimmung,68 ist im Normtext des Grundgesetzes jedoch im Gegen- satz zu diesem ausdrücklich und deutlich verankert.69 Beide sind zunächst gleichberechtigte, sich ergänzende70 Fundamentalprinzipien moderner Ver- fassungen, die jedoch auch in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis zueinander stehen.71

1. Demokratieprinzip

Das Prinzip der Volkssouveränität dient der Rechtfertigung menschlicher Herrschaft über Menschen.72 Demokratie im Sinne des Grundgesetzes ist eine Form von Herrschaft, die im Rahmen eines komplexen Regierungssystems eine demokratische Partizipation des Volkes verlangt, die Minderheiten schützt und die freie Entscheidungsfindung sichert.73

Jegliche Staatsgewalt muss in irgendeiner Weise dem Willen des Volkes zu- zuordnen und durch diesen gebunden sein.74

Das Gesetz ist das Mittel, um Volk und Herrschaft zu verbinden75 und ist wesentlicher Strukturbaustein demokratischer Legitimität.76 Der Wille der Abgeordneten, der in Form von Gesetzen als intersubjektiver Konsens zum Ausdruck kommt, gilt als Willensäußerung des Volkes.77

Daher soll in der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes die Gesetzgebung als Form der politischen Willensbildung bei grundlegenden Fragen des Gemeinwesens demokratisch legitimiert sein und in einem demokratischen Verfahren stattfinden.78

2. Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes in enger Wechselbeziehung.79

Demokratische Legitimität politischer Herrschaft bedarf eines bestimmten Maßes an staatlicher Leistungsfähigkeit und effektiver Garantien individuel- ler Freiheitssphären durch Herrschaftsbegrenzung. Gleichheit und Konflikt- lösungsmechanismen, also auch die Revisibilität von Mehrheitsentschei- dungen,80 der Schutz von Minderheiten und vor äußeren Angriffen sowie ein Minimum an öffentlicher Infrastruktur sind Grundvoraussetzungen.81

Das Rechtsstaatsprinzip beschränkt die staatliche Gewalt, indem es eine Sphäre individueller Autonomie durch die Grundrechte, den Vorrang des Gesetzes, die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Richter sichert.82 Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass die Verfassung als materielle Rechts- ordnung aufgefasst und eingehalten wird (Vorrang der Verfassung).83

[...]


1 So auf einer Podiumsdiskussion der Bertelsmann-Stiftung über das Verhältnis des BVerfG zum Parlament, 2013. Roßmann, Die Spitzen der Präsidenten, http://www.süddeutsche.de/politik/podiumsdiskussion-spitzen-der-praesidenten-1.1612881, am 06.03.16 um 18:20 Uhr.

2 Dann, Der Staat 49 (2010), S. 630 (642). Hesse, Grundzüge, Rn. 562.

3 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 130; Depenheuer, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 241 (262); Stettner, DVBl.

4 1982, S. 1123 ff. (1123).

5 Jahresstatistik 2015 BVerfG, http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2015/gb2015/A- VII.pdf?__blob=publicationFile&v=1, am 06.03.2015 um 20:36 Uhr.

6 Spannungsverhältnis mit europäischen Auswirkungen, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/36525489_k- w46_w_forum/206882, am 06.03.16 um 18:10 Uhr.

7 Die Stellung des BVerfG in der Verfassungsordnung wird in dieser Arbeit beleuchtet.

8 Vertrauenswerte für GG und Verfassungsorgane, u. andere bei: Köcher, Das Bollwerk, http://www.faz.net/aktuell/politik/in- and/bundesverfassungsgericht-das-bollwerk-11863396/infografik-grosses-vertrauen-11863709.html, am 07.04.2016 um 21:49 Uhr.

9 Dann, Der Staat 49 (2010), S. 630 (635, 638); dazu im Einzelnen, s. unten.

10 Prärogative, http://www.duden.de/rechtschreibung/Praerogative, am 07.03.2016 um 15:16 Uhr.

11 V. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 43/- Vo ß kuhle. m. w. N.

12 BVerfGE 71, 66, 77; 77, 84, 104; 81, 156, 205; 121, 317, 356; 107, 27, 47; v. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 43/- Vo ß kuhle m. w. N.

13 BVerfGE 62, 1, 50 mit Hinweis auf BVerfGE 50, 290, 333; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 530.

14 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 142.

15 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 18.

16 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 128.

17 BVerfGE 125, 175, 256; Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 130.

18 Im Bereich des Gleichheitssatzes aus Art. 3 I GG bspw: BVerfGE 3, 162, 182; 9, 201, 206,; außerhalb des Gleichheitssatzes: BVerfGE 95, 276, 310; v. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 43/- Vo ß kuhle m. w. N.

19 BVerfGE 40, 196, 218 ff.; v. Münch/Kunig, GGK II, Art. 93, Rn. 13/- Meyer; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke, GGK, Art. 93, Rn. 76/ Hopfauf m. w. N.

20 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 130.

21 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 238 ff.: Der Begriff wurde aus der Verwaltungsrechtsprechung herangezogen.

22 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 128.

23 BVerfGE 1, 14, LS 3.

24 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 129 f.

25 Neumann, RdA 2007, S. 71 (74); Raabe, Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 83.

26 BVerfGE 110, 141, 157; BVerfGE 99, 341, 354: In beiden Entscheidungen werden unterschiedliche Begriffe verwendet, es wird aber auf BVerfGE 50, 290, 333 verwiesen, gemeint ist die Einschätzungsprärogative.

27 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 130 f.

28 Depenheuer, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 241 (262); v. Mahngold/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 44/- Vo ß kuhle.

29 Nierhaus, DVBl. 1977, S. 19 (22).

30 Nierhaus, DVBl. 1977, S. 19 (22).

31 Seetzen, NJW 1975, S. 429 (430).

32 BVerfGE 128, 1, 39 f.

33 BVerfGE 88, 87, 97.

34 BVerfGE 110, 141, 157 f.

35 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 133 f.; v. Mahngoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 43/- Vo ß kuhle.

36 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 159; Neumann, RdA 2007, S. 71 (74); v. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art.93, Rn. 44/- Vo ß kuhle.

37 Maunz/Dürig, GGK VI, Art. 93, Rn. 17.

38 Alexy, VVDStRL 61, S. 7 ff. (14); Schmitt, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 63 (79): Der Inhalt politischer Ge- staltungsakte ist nicht aus der Verfassung abzuleiten.

39 Münz/Düring, GGK, Art. 93, Rn. 18/- Maunz.

40 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 121.

41 Heun, Verfassungsordnung, S. 199.

42 V. Münch/Kunig, GGK II, Art. 93, Rn. 30.

43 Heun, Verfassungsordnung, S. 200; die Funktion des Verfahrens herausstellend: Dreier, GGK III, Art. 93, Rn. 56.

44 Stüwe, Das BVerfG im politischen System, S. 215 (219 ff.).

45 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 855.

46 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 380 ff. m. w. N.

47 Zur Begründung der Entscheidungsform bei Richtervorlagen sowie zu den Entscheidungen in anderen Verfahren vor dem BVerfG ausführlich: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1368 ff.; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 378 ff.

48 V. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 46 ff./- Vo ß kuhle; v. Münch/Kunig, GGK II, Art. 93, Rn. 37/- Meyer.

49 BVerfGE 25, 1, 13; 50, 290, 335; 88, 5, 17; Möllers, Das entgrenzte Gericht, S. 281 (396 f.); Neumann, RdA 2007, S. 71 (74) m. w. N.; v. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 49/ Vo ß kuhle, m. w. N.

50 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1401.

51 V. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 50/ Vo ß kuhle.

52 Möllers, Das entgrenzte Gericht, S. 281 (381).

53 Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke, GGK, Art. 93, Rn. 321/- Hopfauf; v. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn. 51/- Vo ß kuhle; den Begriff der Appellentscheidung als Sammelbegriff für Entscheidungen auffassend, mit denen das BVerfG dem Gesetzgeber eine Neuregelung aufträgt: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1405 m. w. N.

54 BVerfGE 88, 203, 308 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck, GGK III, Art. 93, Rn.50/- Vo ß kuhle.

55 Maunz/Dürig, GGK VI, Art. 93, Rn. 47/- Maunz; dies ist jedoch umstritten: Heun, Verfassungsordnung, S. 206 m. w. N.

56 Schneider, NJW, 1980, 2103 (2104).

57 V. Münch/Kunig, GGK II, Art. 93, Rn. 3/- Meyer.

58 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (30); Dreier, GGK III, Art. 93, Rn. 36/- Wieland.

59 Dreier, GGK III, Art. 93, Rn. 38/- Wieland.

60 Stern, Staatsrecht II, S. 955.

61 Jestaedt, Das entgrenzte Gericht, S. 77 (102).

62 Dann, Der Staat 49 (2010) S. 630; Groß, DÖV 2006, S. 856 (860).

63 Hesse, Ausgewählte Schriften, S. 311 ff.; Heun, Schranken, S. 13; Heun, Verfassungsordnung, S. 216 f.

64 Murswiek, DÖV 1982, S. 529 (532).

65 Schneider, NJW 1980, S. 2103 (2104).

66 Heun, Verfassungsordnung, S. 216.

67 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 11 ff.

68 Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (63).

69 Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (66).

70 Möllers, AöR 132 (2007), S. 394 (503).

71 Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S 49 (64).

72 Heun, Verfassungsordnung, S. 39.

73 Heun, Verfassungsordnung, S. 37.

74 Heun, Verfassungsordnung, S. 39.

75 Bickenbach: Einschätzungsprärogative, S. 228; Lepsius, Demokratie und Freiheit, S. 123 m. w. N.

76 Heun, Verfassungsordnung, S. 134.

77 Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 230.

78 Hesse, Grundzüge, Rn. 503.

79 Hesse, Grundzüge, Rn. 128.

80 Heun, Verfassungsordnung, S. 37.

81 Heun, Verfassungsordnung, S. 33.

82 Heun, Verfassungsordnung, S. 34.

83 Heun, Verfassungsordnung, S. 44; Wahl, NVwZ 1984, S. 401 ff.

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Details

Title
Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren
College
Humboldt-University of Berlin  (Juristische Fakultät)
Course
Schwepunktbereich Rechtsgestaltung und Rechtspolitik
Grade
11,5
Author
Year
2016
Pages
47
Catalog Number
V342984
ISBN (eBook)
9783668328174
ISBN (Book)
9783668328181
File size
797 KB
Language
German
Keywords
Einschätzungsprärogative, Normenkontrollverfahren, Gesetzgeber, Verfassungsgericht
Quote paper
Lars Kofahl (Author), 2016, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342984

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