Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Definition des Begriffs „Politischer Mythos“
3.1 Begriffsbestimmung
3.2 Abgrenzung gegenüber Ideologie und Utopie
3.2.1 Mythos und Ideologie
3.2.2 Utopie und Mythos
4. Entstehung und Grundmotive von politischen Mythen
4.1 Wie entstehen politische Mythen?
4.2 Grundmotive von politischen Mythen
5. Vermittlung und Grundfunktionen von politischen Mythen
5.1 Vermittlungsformen des politischen Mythos
5.2 Grundfunktionen des politischen Mythos
6. Der EU- Beitritt Polens: Die Kampagne der Euroskeptiker vor der Volksabstimmung
6.1 Das Europaverständnis der Euroskeptiker
6.2 Polen und Europa: Eine Erzählung von Vertrauen und Verrat
6.3 Weltteilung als Argumentationsstrategie
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
9. Erklärung zur ordnungsgemäßen Abfassung der vorliegenden Arbeit
1. Einleitung
„Politische Mythen können konservativ oder revolutionär sein. Nur eines sind sie nicht: Indifferent gegenüber den bestehenden Verhältnisse[n]. Sie ergreifen für oder gegen sie Partei. Das erklärt, warum diejenigen die sich an der Macht befinden bzw. dorthin wollen, sich für die politischen Mythen interessieren, sich auf sie berufen oder sie als eine verhängnisvolle Irreführung bezeichnen, vor der man die Menschen warnen und beschützen müsse. Politische Mythen sind umkämpft, weil sie immer auch Mittel des Kampfes um die Macht sind.“[1]
Mit dieser Arbeit möchte ich deshalb untersuchen welchen Stellenwert der Mythos für und innerhalb der Politik besitzt und inwiefern er eingesetzt wird bzw. wurde, um die eigenen politischen Interessen durchsetzen zu können.
Hierzu werde ich mich im ersten Schritt mit dem derzeitigen Forschungsstand befassen und im Anschluss daran den Begriff des politischen Mythos zunächst definieren, bevor ich ihn von anderen Erzählungen wie der der Ideologie und der Utopie versuche abzugrenzen.
Das daran anschließende Kapitel beschäftigt sich mit der Frage wie politische Mythen überhaupt entstehen und welche Grundmotive, welche Formen des politischen Mythos bestehen und welche spezifischen Besonderheiten die einzelnen Arten besitzen.
Darauffolgend werde ich versuchen zu verdeutlichen, wie politische Mythen vermittelt werden und welche Vermittlungsformen hierbei besonders im Mittelpunkt stehen bevor ich mich dann den Grundfunktionen zuwende, welche dem Mythos innewohnen.
Abschließend möchte ich ein konkretes Beispiel für den Gebrauch von politischen Mythen beschreiben. Konkret handelt es sich dabei um die Kampagne der polnischen Euroskeptiker zum polnischen EU- Beitritt aus dem Jahre 2003, welche ganz bewusst mythisch aufgeladen wurde um die Massen für sich zu mobilisieren.
2. Forschungsstand
In den letzten Jahren lässt sich in der Gesellschaft wie auch in der Wissenschaft eine beinahe schon inflationäre Verwendung des Begriffs „Mythos“ feststellen. An Kontur gewinnt die historische Mythosforschung, vor dem Hintergrund neuerer methodischer Ansätze, jedoch erst seit den 1990er Jahren und das, obwohl es diesbezüglich bereits früher schon durchaus Impulse gab, wie z.B. im Zuge der Aufarbeitung und Analyse der autoritären sowie totalitären Regime des 20. Jahrhunderts.[2]
Zwar liegt bereits eine Vielzahl an geschichtswissenschaftlichen Werken vor, welche sich mit einzelnen politischen Mythen befassen, jedoch unterscheiden sich diese Arbeiten wiederum stark anhand ihres methodischen Zugangs, ihres Umfangs oder ihrer Qualität. Trotz der schieren Masse an mythentheoretischer Literatur, der großen Anzahl an theoretisch aufgeladenen Mythos- Konzepten, welche sich mit einzelnen kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich auseinandersetzen sowie mehreren neuen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich konkret mit einzelnen politischen Mythen befassen, fehlt dennoch weiterhin eine fundierte und umfassende geschichtswissenschaftliche Analyse und Theoriebildung.[3]
Gegenwärtig entwickelt sich die historische Mythosforschung „vor dem Hintergrund moderner kulturwissenschaftlicher und konstruktivistischer Ansätze, die den methodischen Rahmen liefern. Die Reflexionen und Ergebnisse der Arbeiten über die ‘invention of tradition‘ (Hobsbawm) und die ‚imagined communities‘ (Anderson), das kollektive und kulturelle Gedächtnis sowie Erinnerungsorte und darauf aufbauend zu einzelnen Vermittlungsformen des Mythos wie Denkmäler und Feiern stellen notwendige Voraussetzungen für die historische Mythosforschung dar, die über reine inhaltliche Deskription von Mythen hinausgehen muss.“[4]
3. Definition des Begriffs „Politischer Mythos“
3.1 Begriffsbestimmung
Die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs „Mythos“ bezieht sich mehrheitlich auf berühmte und beliebte Begebenheiten oder Personen. Aus wissenschaftlicher Perspektive, lässt sich ein Mythos als eine sinnstiftende Erzählung charakterisieren, welche versucht mit Bekanntem etwas schwer Verständliches oder etwas Unbekanntes vereinfacht darzustellen und somit versucht zu erläutern. Ein Mythos dient in diesem Kontext als geistiger Bezugsrahmen, schon allein deshalb, da „mythisches Denken auf einem Raster apriorischer Prämissen beruht.“ [5]
Religiöse Mythen unterscheiden sich von politischen Mythen hinsichtlich ihres Anspruchs.[6] Erstere berichten von der Entstehung der Welt und interpretieren aktuelle Geschehnisse, indem sie eben solche in diesen Bericht integrieren und Geschichten weiterspinnen, „die der gesamten Wirklichkeit als eine zusätzliche, Sinn und Bedeutung stiftende Dimension unterlegt sind.“[7] Entgegen dem Mythos bestreitet die Wissenschaft die Existenz dieser Dimension und ersetzt „gleichzeitig das narrative durch ein analytisch- erklärendes Verfahren (…), das materiell- immanente Kausalitäten und Gesetzmäßigkeiten auffindet.“ [8]
Politische Mythen lassen sich analog dazu also als Erzählungen verstehen, welche „auf das politisch- soziale Geschehen gemünzt sind und diesem Geschehen eine spezifische Bedeutung verleihen.“ [9] Der politische Mythos als sinnstiftende Narration, kann sich dabei sowohl auf politische Akteure, Institutionen und Handlungen als auch auf die Gesellschaftsordnung im Gesamten beziehen.[10] Der als emotional aufgeladene Narration definierte politische Mythos, gibt die historische Wirklichkeit also nicht den Tatsachen entsprechend wieder, sondern interpretiert sie in einer stereotypisierten und selektiven Art und Weise, welche dieser „mythischen Lesart der Wirklichkeit [dadurch] einen Anschein von Historizität verleiht.“ [11] Konkret bedeutet dies, dass bestimmte historische Aspekte stärker betont und andere dagegen zur Seite geschoben werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Heroengalerie oder einer Leistungsschau der jeweiligen Gemeinschaft. Die stereotypischen und verfestigten Geschichtsbilder heben innerhalb des kollektiven Gedächtnisses das hervor, was innerhalb der jeweiligen Kultur oder Gesellschaft als elementar notwendig erachtet wird. Damit stellen politische Mythen Erklärungen und Deutungen historischer Vorgänge dar und fungieren somit als Beglaubigungen der fundamentalen Ideen, Werten und Verhaltensweisen von Gruppen. Durch die starke Idealisierung der Vergangenheit, basiert der politische Mythos auf einer gemachten und gleichzeitig erfundenen Erinnerung.[12] Ähnlich den religiösen Mythen inszeniert er dabei „den ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen oder die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Reinen und dem Unreinen, dem Verbotenen und Gebotenen usw.“[13]
Durch seine semantische Struktur ist der Mythos stets wandelbar, weshalb er immer wieder neue Deutungsperspektiven ermöglicht, was wiederum besonders für veränderte gesellschaftliche Kontexte bedeutsam ist. In diesen unterliegt er nämlich einem erheblichem Funktionswandel. Politische Mythen sind aufgrund dessen ein Ergebnis von gewissen politischen Vorstellungen, „die historisch und damit veränderlich sind, so dass er als ‚an ideologically marked narrative [angesehen werden kann] which purports to give a true account of a set of past, present, or predicts political events and which is accepted as valid in its essentials by a social group‘.“[14]
Aufgrund dessen, dass der Mythos, wie weiter oben bereits angeschnitten, komplexe Ereignisse in einfache Vorgänge auflöst, besitzt er eine politisch- soziale Orientierungsfunktion. Charakteristisch für den politischen Mythos sind daher komprimierte sowie mitreißende Bilder, welche Wünsche, Ziele und auch Werte der jeweiligen sozialen Gruppe darstellen und die Mitglieder dieser Gruppen damit zu historisch wirksamen Einheiten zusammenschweißt.[15]
Der politische Mythos „ist daher ein zentrales Mittel zur Kommunikation und zur Mobilisierung von Massen.“ [16] Genau hierbei liegt für moderne Gesellschaften die Stärke und die Bedeutung des politischen Mythos. Moderne Gesellschaften, denen innerhalb der säkularisierten Welt die Orientierungs- sowie Sinngebungsmöglichkeiten abhandengekommen sind, kompensieren durch Mythen die Kosten der Rationalisierung. Sie stellen einen Religionsersatz dar, denn ohne die von ihnen ausgehende Orientierungsfunktion kann kein politisches Gemeinwesen aufrechterhalten werden. Politische Mythen zählen zu den elementaren Bausteinen des Politischen.
Als intellektuelle und emotionale Konstrukte sind sie jedoch von Utopien und Ideologien zu unterscheiden.[17]
3.2 Abgrenzungen gegenüber Ideologie und Utopie
Um ein Konzept wie das des Mythos gänzlich erfassen zu können, ist es wichtig neben dem genus proximum auch die differentia specifica zu bestimmen. Sowohl von der Utopie als auch von der Ideologie lässt sich der Mythos unterscheiden und das obwohl er mit beiden Formen der Narration verwand und oftmals auch verwoben ist. Allein aus diesem Grund erscheint eine Abgrenzung dieser drei Begriffe als dringend erforderlich.[18]
3.2.1 Mythos und Ideologie
Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten zwischen Mythos und Ideologie bildeten bisher nur selten den Gegenstand von Untersuchungen. Viele Autoren halten Ideologie und Mythos ohnehin für Phänomene die beinahe Deckungsgleichheit aufweisen.[19] Nach Lévi- Strauss sind Mythos und Ideologie so eng miteinander verwoben, dass er zu Folgendem Schluss kommt: „Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie. In unseren heutigen Gesellschaften hat diese möglicherweise jenes nur ersetzt!“ [20]
Mehrere Autoren sehen in Anlehnung an Claude Lévi- Strauss im Mythos „eine Vorform der Geschichte und der Ideologie.“ [21] Die These, dass der Mythos in der Moderne von der Geschichte und Ideologie abgelöst wurde trifft insofern zu, dass „ sich die alten mythischen Erzählungen angesichts der Verbreitung einer linearen Temporalität allmählich von in sich geschlossenen Erzählgebilden zu nach vorne offenen Narrationen weiterentwickelt haben.“ [22]
Es ist jedoch keineswegs so, dass die moderne Ideologie jedwede Spur des Mythos verwischt hat, da dieser zum Leben der Menschen dazugehört.[23] Rüdiger Voigt greift diesen Gedanken auf indem er sagt: „Mythen gehören zum Leben der Menschen, ohne Mythen kann der Mensch ebenso wenig leben wie eine Pflanze ohne Wurzeln. Sie erst ermöglichen das Verknüpfen der Gegenwart mit einer als sinnvoll angesehenen Vergangenheit und wirken damit sinnstiftend für diese.“ [24] Zwar hat die Ideologie den Mythos weitestgehend verdrängt und sich im 19. und 20. Jahrhundert zur dominanten Erzählung entwickelt, vollständig abgelöst hat sie ihn jedoch nicht, da die Ideologie gezielt Mythen einsetzt. Der Unterschied zwischen beiden Erzählungen liegt in ihren Auswirkungen auf den Menschen. Werden durch den Mythos Menschen zusammengebracht und zusammengehalten, so besitzt die Ideologie eine segregative Wirkung. Natürlich hat die Ideologie auch eine integrative Wirkung, beispielsweise ist sie besonders wirksam wenn es darum geht die kollektive Identität einer sozialen Gruppe zu stärken.[25] Die Integration auf Seiten der Ideologie erfolgt hierbei aber lediglich nach innen, d.h. sie mobilisiert „Kräfte gegen einen äußeren Feind bzw. gegen diejenigen, die das ideologische Glaubenssystem nicht teilen oder sogar in Frage stellen.“ [26]
Anders gesagt weißen auf der einen Seite Mythen eine sogenannte „sowohl/als auch“- Struktur auf, während die Ideologie auf der anderen Seite eine „entweder/oder“- Struktur aufweist. Benutzt eine Ideologie jedoch einen Mythos für die eigenen Zwecke, so verliert dieser seine Liberalität und nimmt ebenfalls die für die Ideologie typische „entweder/oder“- Struktur an. Bei den modernen politischen Mythen ist die, für den frühen religiös- sakralen Mythos charakteristische, prinzipielle Offenheit erheblich zurückgegangen. Somit haben sich die politischen Mythen zu gefährlichen Waffen im Kampf um Macht, ökonomischen Gewinn sowie für den Streit hinsichtlich verschiedener Weltanschauungen entwickelt.[27] So haben sich unter Zuhilfenahme des Mythos imaginäre Konstrukte wie beispielsweise die Menschenrassen oder sozialen Klassen beinahe magisch in Realitäten verwandelt und das im Auftrag der doktrinären Ideologien, welche hinter dem Mythos stehen.[28]
Da es sich bei Ideologien um eher trockene, rationelle Diskurse handelt sind sie, um sich tief in der Vorstellungswelt einer Gemeinschaft verwurzeln zu können, auf die Emotionswelt des Mythos angewiesen. Die Hauptfunktion der Mythen liegt also darin, der Ideologie durch die mythisch- poetische Sprache einen dramatischen Ausdruck zu verleihen und somit machtpolitische und weltanschauliche Ziele zu erreichen. Im Zuge dessen „werden nicht nur die Wertesysteme und Ideale der Gesellschaft bildlich dargestellt, sondern auch ihr Wesen und ihre Strukturen (Bestandteile, Beziehungen, Gleichgewichte und Spannungen) illustriert.“ [29] Ideologien müssen jedoch nicht immer vor dem Mythos bestehen, es kann ebenfalls vorkommen, dass sie einem Mythos entstammt und durch eben jenen auch hauptsächlich geformt wird.[30]
[...]
[1] Münkler, 2011, S. 146f
[2] Hein, 2006a, S. 30.
[3] Hein, 2006b, S. 2.
[4] Hein, 2006b, S. 2.
[5] Hein- Kircher, 2007, S.26
[6] Hein- Kircher, 2007, S.27
[7] Becker, 2005, S.131
[8] Becker, 2005, S.131
[9] Becker, 2005, S.131
[10] Becker, 2005, S. 131
[11] Hein- Kircher, 2007, S.27
[12] Hein, 2006b, S. 3
[13] Bizeul, 2000, S. 17
[14] Hein, 2006b, S. 4
[15] Hein, 2006b, S. 4
[16] Hein, 2006b, S. 4
[17] Hein- Kircher, 2006, S. 409
[18] Bizeul, 2006, S. 6
[19] Bizeul, 2009, S. 149
[20] Bizeul, 2006, S. 11
[21] Bizeul, 2009, S. 149
[22] Bizeul, 2009, S. 149
[23] Bizeul, 2009, S. 149
[24] Voigt, 1989, S. 11
[25] Bizeul, 2009, S. 149f
[26] Bizeul, 2006, S. 11
[27] Bizeul, 2009, S. 150
[28] Bizeul, 2009, S. 150
[29] Bizeul, 2009, S. 151
[30] Bizeul, 2009, S. 151