Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Debatte um die Existenz moralischer Dilemmas
2.1 Was sind moralische Dilemmas?
2.2 Argumente der deontischen Logik gegen die Existenz moralische Dilemmas
2.2.1 Paradox 1
2.2.1.1 Das Agglomerationsprinzip
2.2.1.2 Ought implies Can
2.2.2 Paradox 2 & 3
2.2.2.1 Obligation Execution Principle
2.2.2.2 Weak Obligation-, Weak Impermissibility- & Correlativity Principle
2.3 Ausblick: Wie soll die Debatte weitergehen?
3. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
November 1940: Seit knapp einem Jahr tobt der 2. Weltkrieg über Europa. Bereits Anfang 1940 ist es den Briten gelungen, den deutschen Funkcode zu entschlüsseln. Winston Churchill, damaliger britischer Pre- mierminister, erfährt dank der Entschlüsselung des deutschen Enigma-Codes von der Operation Mond- scheinsonate. Unter diesem Decknamen plant die deutsche Luftwaffe am Abend des 14. Novembers einen Luftangriff auf die britische Industriestadt Coventry. Im Wissen des bevorstehenden deutschen Luftan- griffs steht Winston Churchill vor einer schweren Entscheidung: Soll er Coventry evakuieren um so die Bewohner der Stadt zu retten? Wenn er dies täte, würden die Deutschen herausfinden, dass ihr Funkcode geknackt worden ist. In der Folge wären die Alliierten nicht mehr in der Lage die deutschen Funksprüche zu entschlüsseln und man gäbe damit ein wichtiges Mittel im Kampf für ein baldiges Kriegsende und die Rettung unzähliger weiterer Menschenleben aus der Hand. Doch sollte Churchill die Stadt nicht evakuie- ren, so würde er viele Einwohner von Coventry dem sicheren Tode überlassen.1
Was hätte Winston Churchill tun sollen?2 Ist es angesichts des bevorstehenden Luftangriffs seine moralische Pflicht, die Einwohner von Coventry zu retten? Oder ist es angesichts der vielen Menschenleben, welche gerettet werden könnten, wenn der Krieg ein schnelleres Ende nähme, seine moralische Pflicht, die Einwohner von Coventry nicht zu evakuieren? Oder kann man - im Wissen, dass Churchill beides, beziehungsweise sowohl das eine als auch das andere, nicht tun kann, behaupten, dass sowohl die Rettung der Einwohner von Coventry als auch die Rettung der vielen anderen Menschenleben, welche durch ein baldigeres Kriegsende gerettet werden könnten, Winston Churchills moralische Pflicht ist und Churchill sich somit, egal wofür er sich entscheidet, die Hände schmutzig macht?
Hinter all diesen Fragen verbirgt sich die Debatte um die Existenz moralischer Dilemmata. Wenn es - wie viele Philosophinnen und Philosophen denken - moralische Dilemmata gar nicht geben kann, so ist ent- weder die Rettung der Einwohner von Coventry oder die Nichtevakuierung der Einwohner von Coventry Churchills moralische Pflicht. Wenn es allerdings - wie einige andere Philosophinnen und Philosophen denken - moralische Dilemmata geben sollte, so ist sowohl die Rettung der Einwohner von Coventry als auch die Nichtevakuierung der Einwohner von Coventry Churchills moralische Pflicht. Doch kann es überhaupt sein, dass es Situationen geben soll, in welcher jemand moralisch verpflichtet ist, eine Handlung A zu tun und moralisch verpflichtet ist eine Handlung B zu tun, obwohl die- oder derjenige unmöglich sowohl A als auch B tun kann? Mit andern Worten, ist es möglich, dass es Situationen gibt, in welcher moralische Pflichten so miteinander in Widerspruch geraten, dass jemand sich letztlich dazu gezwungen sieht, eine ihrer bzw. seiner Pflichten zu verletzen?
Gegner moralischer Dilemmata sind der Ansicht, dass es solche Situationen aus Gründen moraltheoreti- scher Inkonsistenz nicht geben kann. Mit Rückgriff auf gängige Prinzipien der deontischen Logik, auf welchen unser moralisches Denken scheinbar wie selbstverständlich fusst, versuchen sie in Verbindung mit der Annahme, dass moralische Dilemmas existieren, Widersprüche herzuleiten, sodass entweder die Behauptung, dass moralische Dilemmas existieren, oder die Gültigkeit der scheinbar selbstverständlich geltenden Prinzipien, falsch sein muss. Und weil die betreffenden Prinzipien deontischer Logik den Dilemma-Gegnern weit weniger kontrovers erscheinen als die Annahme moralischer Dilemmata, gilt es, die Existenzannahme moralischer Dilemmata fallen zu lassen.3
Die vorliegende Seminararbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob die den Argumenten der Dilemma- Gegner zugrundeliegenden Prinzipien deontischer Logik wirklich so unkontrovers sind. Dabei werde ich aufzuzeigen versuchen, dass die betreffenden Prinzipien keinesfalls so unkontrovers sind, wie Dilemma- Gegner gerne behaupten und wie man zugegebenermassen auf den ersten Blick auch denken könnte.
Das Essay ist in drei Teile gegliedert: (1) In einem ersten Teil wird definiert, was unter einem moralischen Dilemma verstanden wird. (2) In einem zweiten Teil werden die Argumente der Dilemma-Gegner be- trachtet. Im Fokus stehen dabei die von David O. Brink angeführten drei Paradoxien. Jede dieser Parado- xien zielt - wie oben bereits angedeutet - darauf ab, einen Widerspruch zwischen der Existenzannahme verschiedener moralischer Prinzipien und der Existenzannahme moralischer Dilemmas abzuleiten, sodass letztlich, basierend auf diesem Widerspruch und der scheinbar selbstverständlichen Gültigkeit der ver- wendeten moralischen Prinzipien, zwingend die Existenzannahme moralischer Dilemmas verworfen wer- den muss. In der Auseinandersetzung mit diesen Argumenten der Dilemmagegner werde ich jeweils so vorgehen, dass ich zunächst das jeweilige Paradoxon erläutere und mich danach den darin verwendeten moralischen Prinzipien widme. Dabei wird sich zeigen, dass die Prinzipien keinesfalls so unkontrovers sind, wie von Dilemmagegnern häufig angenommen. Und wenn sich schliesslich solche Zweifel an diesen moralischen Prinzipien zeigen lassen, so wäre klar, dass die von Dilemmagegnern so oft ins Gefecht ge- führten Argumente der deontischen Logik kein Grund sind, die Annahme moralischer Dilemma fallen zu lassen. Denn genauso gut könnte man die betreffenden moralischen Prinzipien fallen lassen. (3) Schliess- lich widme ich mich im dritten und letzten Teil des vorliegenden Essays abschliessend und eher knapp der Frage, wie die Debatte zwischen Dilemmagegnern und Dilemmabefürwortern angesichts der verhärteten Fronten denn nun weitergehen soll. Dabei verweise ich auf Terrence McConnell, welcher den Fokus in der Debatte um die Existenz moralischer Dilemmas auf die Frage lenkt, was eine moralische Theorie zu einer guten moralischen Theorie macht.
2. Die Debatte um die Existenz moralischer Dilemmas
Der nachfolgende Hauptteil ist, wie einleitend gesagt, in drei Teile aufgeteilt: Der erste Teil (2.1) beschäf- tigt sich mit der Frage: „Was sind moralische Dilemmas?“. Der zweite Teil (2.2) widmet sich den Argu- menten der Dilemmagegner gegen die Existenz moralischer Dilemmas. Ein kurzer, dritter und abschlies- sender Teil (2.3) widmet sich der Frage, wie die Debatte zwischen Dilemmagegnern und Dilemmabefür- wortern weitergehen soll.
2.1 Was sind moralische Dilemmas?
Einleitend war bereits einige Male die Rede von moralischen Dilemmas und Winston Churchills Entscheidungskonflikt lieferte bereits ein Beispiel eines solchen moralischen Dilemmas. Doch was versteht man unter einem moralischen Dilemma? Es gibt verschiedene Definitionen moralischer Dilemmas. Auf zwei davon werde ich im nachfolgenden eingehen: Zum einen bediene ich mich zunächst der ausführlicheren Charakterisierung von Sellmaier. Zum anderen verweise ich anschliessend auf die eher knappe Definition von David O. Brink. Erstere dient dem Zweck, eine klare Vorstellung von einem moralischen Dilemma zu erhalten. Letztere gilt es zu erwähnen, da die nachstehenden Abschnitte, insbesondere die darin enthaltenen Argumente der Dilemmagegner, auf dieser Definition aufbauen.
Zur Charakterisierung von Sellmaier: Ein moralisches Dilemma besteht demgemäss dann, wenn für einen oder mehrere Akteure die nachfolgenden fünf Bedingungen erfüllt sind:
„1. Es bestehen moralische Forderungen für verschiedene einander ausschliessende und erschöpfende positive beziehungsweise negative Handlungsalternativen innerhalb einer ethischen Theorie.
2. Mindestens zwei moralische Forderungen sind für verschiedene Alternativen ausschlaggebend, werden also nicht durch eine übergeordnete moralische Forderung übertroffen.
3. Die Dilemmasituation ist weder fahrlässig noch wissentlich durch den Akteur beziehungsweise die Akteure herbeigeführt.
4. Der Akteur beziehungsweise die Akteure können jede ausschlaggebende moralische Forderung an und für sich ausführen.
5. Der Akteur beziehungsweise die Akteure können aber nicht allen bestehenden ausschlaggebenden moralischen Forderungen zugleich gerecht werden.“4
Das charakteristische Herzstück eines moralischen Dilemmas beschreibt Sellmaier in den Punkten 1 und Punkt 2. Darin heisst es, dass ein moralisches Dilemma von verschiedenen, einander ausschliessenden und ausschlaggebenden moralischen Forderungen5 geprägt sei. Man spricht in diesem Zusammenhang auch moralisch gefordert, in jeder Situation für karitative Zwecke Geld zu spenden. Ein Nicht-Befolgen einer moralischen Forderung hat dann auch direkte moralische Konsequenzen (vgl. Sellmaier, 2008, S. 43-44).
von einer ethischen Pattsituation. Mit anderen Worten bleiben auch nach reiflicher, ethischer Überlegun- gen mehrere Handlungsoptionen (wobei es sich dabei sowohl um Handlungsgebote als auch Handlungs- unterlassungen handeln kann) übrig, von welchen keine als die eindeutig moralisch angemessene Hand- lungsalternative hervorsticht und somit alle Optionen als moralisch gleichwertig und gleichsam geboten erachtet werden müssen6. Aufgrund dessen ist es dem Akteur beziehungsweise den Akteuren, unabhängig davon, welcher moralischen Forderung sie nachkommen, nicht möglich, allen moralischen Erfordernissen Folge zu leisten (dies verdeutlichen die Punkte 4 und 5). Und so ist der sich in einer Dilemmasituation befindende Akteur, beziehungsweise sind die sich in einer Dilemmasituation befindenden Akteure, unge- achtet ihrer Wahl notwendigerweise zum moralischen Versagen verurteilt. Wie Punkt 3 der Sellmaierschen Definition verdeutlicht, darf eine solche Dilemmasituation weder fahrlässig noch wissentlich vom Akteur beziehungsweise den Akteuren herbeigeführt worden sein. Denn im Falle einer selbstverschuldeten Di- lemmasituation ist das eigene moralisch fahrlässige Verhalten des Akteurs beziehungsweise der Akteure und nicht unverantwortbare Umstände die Ursache des Dilemmas7. Überdies beschränkt sich Sellmaier in seiner Charakterisierung moralischer Dilemmas - wie nun bereits mehrmals erwähnt - nicht ausschliess- lich auf intrapersonale Entscheidungskonflikte. Er verweist in diesem Zusammenhang auf das Antigone- Beispiel - auf welches ich aus Platzgründen lediglich verweisen kann8. Es gilt sich jedoch zu merken, dass sobald interpersonale Entscheidungskonflikte die obigen strukturellen Eigenschaften moralischer Dilem- mata erfüllen, auch diese zum Bereich moralischer Dilemmata zu rechnen sind.9
Sellmaiers Charakterisierung eines moralischen Dilemmas liefert nun den Hintergrund, vor welchem die nachfolgende, etwas vereinfachte Definition eines moralischen Dilemmas von David O. Brink diskutiert werden kann:
„If an agent is faced with a moral dilemma, he has an obligation to do A and an obligation to do B, but can’t do both.”10
Formal: O(A) & O(B) & ~¹(A&B)11
Ein Akteur befindet sich also dann in einer moralischen Dilemmasituation, wenn er sowohl die moralische Pflicht hat, eine Handlung A zu tun, als auch die moralische Pflicht hat, eine Handlung B zu tun, jedoch beide Handlungen (A&B) nicht tun kann.
Brinks Definition ist im Vergleich zu jener von Sellmaier eher kurz und allgemein gehalten. Sie erfasst jedoch einige wesentliche Charakteristika, welche bereits in der obigen Definition von Sellmaier angespro- chen wurden. So kommt in Brinks Definition zunächst zum Ausdruck, dass der Akteur sich mit verschie- denen moralischen Forderungen konfrontiert sieht (vergleiche dazu Punkt 1 in Sellmaiers Definition). Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass der Akteur zum einen jeder moralischen Forderung an und für sich nachkommen kann (vergleiche dazu Punkt 4 in Sellmaiers Definition). Zum anderen ist es dem Ak- teur jedoch nicht möglich, beiden moralischen Forderungen zugleich nachkommen zu können (vergleiche dazu Punkt 5 in Sellmaiers Definition).
Punkt 2 - die Bedingung, dass die moralischen Forderungen A zu tun, wie auch B zu tun, nicht durch eine übergeordnete moralische Forderung übertroffen wird - sowie die Tatsache, dass sowohl die moralische Forderung A zu tun, als auch die moralische Forderung B zu tun, gleichwertig verpflichtend sind, scheint Brink stillschweigend vorauszusetzen. Über Punkt 3 - die Bedingung, dass die Dilemmasituation weder fahrlässig noch wissentlich durch den Akteur herbeigeführt werden darf - lässt sich Brink in einer Fusszeile insofern aus, als dass er darauf hinweist, dass es sich dabei um eine Unterscheidung handelt, welche im Rahmen seiner Argumentation keine Rolle spielt:
„I shall not distinguish between conflicts whose existence is the agent’s own fault (secundum quit) and those that are not (simpliciter). These two sorts of conflicts are interestingly different. But these differences seem irrelevant to my main claims.”12
Diese Unterscheidung ist jedoch - wie im Abschnitt zum Obligation-Execution-Principle noch zu zeigen sein wird - auch im Rahmen der Brinkschen Argumentation nicht als irrelevant zu betrachten. Dazu je- doch später.
Brinks Definition eines moralischen Dilemmas wird in den nachfolgenden Abschnitten omnipräsent sein. Ein moralisches Dilemmas ist demgemäss also eine Situation, in welcher ein Akteur sowohl die moralische Pflicht hat, eine Handlung A zu tun, als auch die moralische Pflicht hat, eine Handlung B zu tun, beide Handlungen (A&B) jedoch nicht (gleichzeitig) tun kann. Dilemmagegner behaupten nun, dass es nicht möglich ist, dass ein Akteur sowohl die moralische Pflicht hat eine Handlung A zu tun, als auch die mora- lische Pflicht hat eine Handlung B zu tun, wenn er beide Handlungen (A&B) nicht tun kann. Die Argu-
2.2 Argumente der deontischen Logik gegen die Existenz moralische Dilemmas
Dilemmagegner wie David O. Brink bedienen sich in ihrer Begründung der Nichtexistenz moralischer Dilemmas gerne Argumenten der deontischen Logik. Das Kernstück Brinks Argumentation bilden dabei drei Paradoxien. Jede dieser Paradoxien zielt darauf ab, Widersprüche zwischen der Existenz moralischer Dilemmas und gängiger moralischer Prinzipien aufzuzeigen. Diese Widersprüche gepaart mit der Annah- me der Gültigkeit der betreffenden moralischen Prinzipien verleiten Dilemmagegner zur Annahme, dass moralische Dilemmas nicht existieren können. In den nachfolgenden Abschnitten soll jeweils in einem ersten Schritt auf diese Paradoxien eingegangen werden und in einem zweiten Schritt gezeigt werden, dass die darin verwendeten moralischen Prinzipien nicht so unkontrovers sind, wie von Dilemmagegner häufig angenommen wird.
2.2.1 Paradox 1
In diesem ersten Abschnitt widme ich mich dem ersten Paradoxon von dreien, welche von David O. Brink13 als Argument gegen die Existenz moralischer Dilemmas hervorgebracht wurden. Das Argument entstammt, wie die beiden anderen Paradoxien auch, der deontischen Logik. Das Argumentationsmuster ist bei allen dreien dasselbe. Dilemmagegner versuchen stets zu zeigen, dass die Existenz moralischer Di- lemmata gewissen Prinzipien, von welchen wir in unserem moralischen Denken ausgehen und denen allen Moraltheorien genügen müssen,14 widersprechen. Aus diesem Widerspruch und der Annahme der Gültig- keit der betreffenden Prinzipien folgt die Erkenntnis, dass die Existenz moralischer Dilemmas ein Irrtum sein muss.
Paradox 1 basiert auf den Prinzipien „Ought implies Can (OIC)“ und „Agglomeration Principle (AP)“. „Ought implies Can (OIC)” besagt, dass nur Handlungen gefordert werden können, zu welchen Menschen prinzipiell auch in der Lage sind. Niemand soll demgemäss die Pflicht haben, etwas zu tun, was er zu leisten gar nicht imstande ist. Formal wird OIC wie folgt dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das „Agglomeration Principle (AP)“ besagt, dass wenn sich ein oder mehrere Akteure mehreren moralischen Forderungen gegenübersehen, es ihre Pflicht ist, allen moralischen Forderungen nachzukommen. Wenn also ein Akteur in einer bestimmten Situation sowohl die moralische Pflicht hat, A zu tun, als auch die moralische Pflicht hat, B zu tun, so hat der betreffende Akteur die moralische Pflicht beides (A und B) zu tun. Formal wird AP wie folgt dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Aus der Existenzannahme moralischer Dilemmata (entspricht der obigen Definition eines moralischen Dilemmas) und den beiden genannten Prinzipien, lässt sich nun folgendes Paradoxon15 ableiten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die ersten drei Prämissen entsprechen zusammen der obigen Definition eines moralischen Dilemmas und bilden gemeinsam die Existenzannahme moralischer Dilemmata. Prämisse 4 beinhaltet das „Agglomerati- on Principle“. Aus den Prämissen 1 und 2 gepaart mit dem in Prämisse 4 enthaltenen „Agglomeration Principle“ folgt nun als Zwischenkonklusion die Prämisse 5. Prämisse 6 beinhaltet das Prinzip „Ought implies Can“. Mithilfe dessen folgt aus der Prämisse 5 eine zweite Zwischenkonklusion (Prämisse 7). Der in Punkt 8 enthaltene Widerspruch ergibt sich nun durch Gegenüberstellung der Prämissen 3 und 7.
Das hier beschriebene Argument ist das bekannteste Argument der deontischen Logik gegen die Existenz moralischer Dilemmas.16 Im Kern sagt es aus, dass die beiden moralischen Grundprinzipien „Ought implies Can“ sowie das „Agglomeration-Principle“ in einem klaren Widerspruch zu der Aussage, es gebe moralische Dilemmas, stehen. Denn aus AP folgt, dass wenn es sowohl jemandes Pflicht ist, A zu tun, als auch jemandes Pflicht ist, B zu tun, so ist es seine Pflicht A und B zu tun. Aus OIC wiederum folgt, dass ein jedes Sollen ein Können voraussetzt. Wenn es also die Pflicht von jemandem ist, A und B zu tun, so soll dieser jemand auch in der Lage sein, A und B tun zu können. Diese Aussage wurde jedoch in der Dilemmabeschreibung (siehe die ersten drei Prämissen) gerade verneint. Aus diesem Widerspruch heraus, folgern die Dilemmagegner, dass es moralische Dilemmas nicht geben kann. Doch das hier beschriebene Argument ist nicht nur das bekannteste Argument der deontischen Logik gegen die Existenz moralischer Dilemmas, es ist auch - wie manche Dilemmagegner auch selbst zugeben - ein sehr kontroverses Argu- ment17. 18
Der Grund für diese Umstrittenheit liegt nicht etwa an der Form des Arguments, sondern vielmehr an den darin enthaltenen Prinzipien. Diese Prinzipien werden nun in den nachfolgenden Abschnitten diskutiert.
[...]
1 Betzler (2005, S. 5) s. auch Schmidt-Klingenberg (2003).
2 [Winston Churchill entschied sich dazu die Stadt nicht zu evakuieren. Bei der Operation Mondscheinsonate fielen über 550 Menschen dem Luftangriff zum Opfer, mehr als tausend Menschen wurden verletzt. Zum ersten Mal in Grossbritannien mussten die Opfer in Massengräbern beigesetzt werden. (Schmidt-Klingenberg, 2003)]
3 Kühler (2008, S. 516-517); s. auch Boshammer (2008, Abschn. 1, 5).
4 Sellmaier (2008, S. 50-51).
5 Moralische Forderungen gilt es von moralischen Idealen zu unterscheiden. Erstere unterscheiden sich von letzteren insofern, als dass sie dem Einzelnen weniger Handlungsspielraum lassen und ein Verstoss gegen sie gewöhnlich als moralisch falsch gilt. So sind wir stets moralisch gefordert, ein Versprechen einzuhalten; hingegen sind wir nicht
6 Im gleichen Sinne auch bekanntere Philosophen wie Nagel oder Van Fraasen: „The strongest cases of conflict are genuine dilemmas, where there is decisive support for two or more incompatible courses of action or inaction […] since either choice will mean acting against some reasons without being able to claim that they are outweighed.”
(Nagel, 1987, S. 175). „a conflict between what ought to be for one reason and what ought to be for another reason, which cannot be resolved in terms of one reason overriding another” (Van Fraasen, 1987, S.141).
7 Wenn jemand wissentlich zwei einander ausschliessende Versprechen abgibt, so ist dieser Person moralisch das gleiche vorzuwerfen, wie einer Person, welche etwas verspricht, jedoch nie beabsichtigt, das Versprechen zu halten. Die daraus resultierende Dilemmasituation ist lediglich die logische Konsequenz einer bereits ausgeführten, mora-
lisch fehlbaren Handlung. Solche Dilemmasituationen verfügen über einen anderen theoretischen Status und gehören nicht zu der Art Dilemma, welche in der Metaethik diskutiert werden. (Sellmaier, 2008, S. 46-47)
8 „Polyneikes, der Bruder von Antigone, war ein Verräter. Um den Frieden in Theben zu sichern, verbietet König Kreon jedem, den Leichnam des Verräters Polyneikes, der im Zweikampf mit seinem Bruder Eteokles getötet wurde, zu bestatten. Antigone sieht es aber als ihre schwesterliche Pflicht an, den gestorbenen Bruder vor den
Leiden in der Nachwelt zu bewahren, und will Polyneikes deshalb begraben.“ (Sellmaier, 2008, S. 50)
9 Sellmaier (2008, S. 37-52)
10 Brink (1994, S.215).
11 Brink (1994, S.228). Das “O“ steht für “ought“, das ~¹ steht für “nicht der Lage“ beziehungsweise “nicht mög- lich“.
12 Brink (1994, S. 216) .
mente, mit welchen sie diese Behauptung untermauern, stehen im Zentrum der nachfolgenden Abschnit- te.
13 Brink (1994, S.227-236)
14 Boshammer (2008, Abschn. 5)
15 Brink (1994, S. 228).
16 De Haan (2001, S. 273).
17 Brink (1994, S. 236-237), siehe auch De Haan (2001, S. 273).
18 Siehe auch Boshammer (2008, Abschn. 5).