Kultur und Pfeffersäcke. Zum Verhältnis von Diplomatie und Kunst in Hamburg am Beispiel der Oper "Boris Goudenow" von 1710


Term Paper (Advanced seminar), 2015

18 Pages, Grade: 2,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historischer Kontext Hamburgs

3. Politik und Diplomatie
a) Zum Gesandtenwesen Hamburgs
b) Diplomatische Verbindungen Matthesons
c) Zurücknahme der Aufführung 1710

4. Gänsemarktoper und Hamburger Stilelemente
a) Über die Institution als Politikum
b) Festoperntradition und kulturelle Infrastruktur Hamburgs
c) Weitere Elemente eines Hamburger Stils
i. Historische Sujets und historische Personen
ii. Volksfiguren
iii. Zum deutschen Libretto/ zur deutschen Sprache

5. Zum Nachlass

6. Zusammenfassung/ Fazit

7. Literaturverzeichnis:

1. Einleitung

Inwiefern kann sich eine Stadt wie Hamburg auf die Entstehung von Kunst und im Speziellen auf die Entstehung von Theater - und Opernproduktionen auswirken?

Nicht bloß in unserer heutigen Zeit stehen die Kultur- und Opernlandschaft in Hamburg unter großem Einfluss der Politik und deren rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen, ihren öffentlichen Institutionen und privaten Kulturschaffenden.

Auch schon zu Barockzeiten wurden das Hamburger Kulturwesen und für die Oper bestimmend, die Gänsemarktoper, in großen Teilen durch Politik, Diplomatie und weitere Faktoren der Stadt Hamburg beeinflusst.

Inwiefern die Bereiche Kunst, Politik und Diplomatie zusammenhingen und welche weiteren Faktoren im Stadtbild und deren Kulturlandschaft zur Entstehung, Konzeption und Aufführung einer Produktion beigetragen haben, soll folgende Arbeit untersuchen.

Zur Verdeutlichung wird hierbei das Beispiel der Oper Boris Goudenow von Johann Mattheson dienen, einem Komponisten, der sich sehr mit Hamburg verbunden fühlte und bei dessen Kompositionen ebenfalls der Einfluss der Stadt, in der er lebte und arbeitete, abzulesen ist.

1710 entstanden, wurde die Oper Boris Goudenow aus politischen Gründen von der Aufführung zurückgenommen und erst im Jahre 2005 im Bucerius Kunstforum in Hamburg konzertant welturaufgeführt, 2007 dann im St. Pauli Theater auch szenisch.

Es sind zu dem Werk zwei unterschiedliche Titel vermerkt: „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“ in der Partitur und „Die durch Neigung glücklich Verknüpfte Ehre“ im Libretto.

Sowohl Musik und Text der Oper sind von Mattheson selbst verfasst und John Wich, dem damaligen englischen Gesandten der Britischen Krone, gewidmet.[1]

Die Handlung der Oper spielt zum Ende des 16. Jahrhunderts, zur Zeit des Zaren und Großfürsten Boris Goudenow, der von 1598 – 1605 Russland regierte, Komposition und Textschreibung erfolgten also erst 100 Jahre später.

Im ersten Akt ruft der alte, sterbende Zar und Großfürst Theodorus den Kronrat zusammen, um sein Zepter weiterzureichen.

Er bietet es dem Bojaren Ivan an, welcher jedoch gar nicht zum Regieren berechtigt ist. Da sich der alte Zar hierdurch als geistig umnachtet zeigt, kann Fedro – ein rechtmäßiger Thronfolger - das Zepter auch nicht mehr annehmen. Theodorus stirbt, ohne einen rechtmäßigen Nachfolger bestimmt zu haben und lässt das Zepter und damit die Staatsmacht zu Boden fallen. Boris hebt es nun auf, jedoch unter der Aussage, der Macht zu entsagen und stattdessen mit seiner Schwester Irina ins Kloster zu gehen. Hiermit täuscht er vor, kein Interesse an der Krone zu haben und erreicht, dass er im zweiten Akt im Kloster vom Volk aufgesucht und darum gebeten wird, zu regieren. Durch diese List wird Boris im dritten Akt zum neuen Zaren gekrönt. Dieser Strang bildet die Haupthandlung.

In der auch nicht unwichtigen Nebenhandlung spielt die russische Fürstin Olga eine große Rolle, die ebenfalls auf den Thron gelangen möchte und dafür die Hilfe der Prinzen Gavust und Josennah benötigt. Doch Olga wird vom Bojaren Ivan geliebt, dieser Umstand durchkreuzt ihre Pläne. Gavust liebt eigentlich Axinja, die Tochter des Zaren Theodorus und Irinas. Irina wird vom Bojaren Fedro geliebt. Bis sich diese Paare finden, müssen einige Intrigen überwunden werden. Als letzte Person existiert noch Boris treuer Diener Bogda, die komische Person in diesem Werk.

Zur Erarbeitung soll zunächst ein kurzer Überblick über den historischen Kontext der Hansestadt, die Problematik zwischen den Fronten im Nordischen Krieg, das aufkommende Gesandtenwesen und den besonderen Status von Mattheson als Gesandtschaftssekretär im Englischen Dienst gegeben werden.

Diese Punkte sollen darauf hinarbeiten, dass Kunst in Hamburg keinesfalls nur um ihrer selbst existierte, sondern in großem Maße der Förderung persönlicher Zwecke, Interessen und Verbindungen diente. Dies kann man Dorothea Schröders Werk „Zeitgeschichte auf der Opernbühne“ von 1998[2] entnehmen. Hier wurde eine Zeitgeschichte über barocke Opernwerke in Hamburg herausgearbeitet, die im Dienst von Politik und Diplomatie standen.

So erklärt sich im Anschluss auch die darauf folgende Behandlung des politischen Sujets Boris Goudenows und der damit verbundenen Rücknahme der Uraufführung von 1710.

Denn auch die Oper Boris Goudenow steht keineswegs nur als Kunstwerk für sich, sondern muss in ihrem politischen und diplomatischen Zweck gewertet werden.

Über die Zurücknahme der Uraufführung äußert sich auch Johannes Pausch im Programmheft der Aufführung von 2007.[3]

Im Anschluss wird der Fokus der Arbeit mehr auf die Institution der Gänsemarktoper, die Festoperntradition und die kulturelle Infrastruktur Hamburgs gelenkt, die quasi mit die kulturellen Voraussetzungen für solche Art von Opernaufführungen boten.

Als letzter Schritt sollen bestimmte Stellen der Oper Boris Goudenow vorgestellt werden, die weitere typische Hamburger Stilelemente enthalten. So sollen die Thematik der historischen Sujets und Personen, die komische Person, große Volksszenen und die Verwendung der deutschen Sprache in den Libretti bearbeitet und im Werk nachgewiesen werden.

Einen wichtigen Beitrag über die Hamburger Oper der Barockzeit nimmt das 1957 erschienene Werk „Die Barockoper in Hamburg“ von Hellmuth Christian Wolff ein. Er berichtet hier über den Zeitraum von 1678 – 1738, in dem in Hamburg größtenteils Opern in deutscher Sprache zur Aufführung gelangten.[4]

Für mich sind Opern der Zeit in großem Maße durch ihre Entstehungsstädte geprägt und beeinflusst. Dies soll anhand der Oper Boris Goudenow von Mattheson in Hamburg nachgewiesen werden.

2. Historischer Kontext Hamburgs

Betrachtet man die zeitgenössischen Geschehnisse, wird man mitten in eine Zeit der Unruhen geworfen: Die Pest gerade besiegt, tobten an allen Fronten des Deutschen Reiches Kriege, die auch den Norddeutschen Raum hin- und herwarfen. Im Osten wurde gegen die Türken gekämpft, im Westen gegen die Franzosen unter Ludwig XIV, Seekriege zwischen England und den Niederlanden schwächten den nördlichen Handel und Dänemark, Schweden und Russland rangen im großen Nordischen Krieg zwischen den Jahren 1700 – 1721 um die Vorherrschaft im Ostseeraum.[5] Schröder gibt hierzu einen guten Überblick der politischen Konstellationen.

Nachdem in der Schlacht bei Poltawa die Schweden besiegt worden waren, hatte sich das politische Klima stark gewandelt und ein Gutstellen mit den Russen erschien für Hamburg sinnvoll, da diese nun als Hilfe gegen die aus dem Norden anrückenden Dänen gebraucht wurden, die beständig Besitzansprüche an der Stadt anmeldeten.[6]

Einen weiteren entscheidenden Einfluss auf Hamburgs Situation zwischen den Fronten haben ebenfalls das sowohl zu Dänemark, als auch zu Schweden gehörende Schleswig-Holstein und das Schloß Gottorf,[7] das als letzter Puffer gegen Dänemark und dessen andauernde Gebietsbeanspruchungen an Hamburg diente.[8]

Die Stadt entwickelte ein ausgeprägtes Diplomatenwesen, um all diesen Verhandlungs- und Machtschwierigkeiten zwischen den Fronten stehend gekonnt begegnen zu können.

Hamburg war auch schon immer durch seinen Hafen geprägt. Dieser brachte der Stadt eine rege Verbindung zum Seehandel, Binnenseehandel und somit zusätzlich eine Notwendigkeit zur Handelspolitik ein. Hamburg stand gerade zu Kriegszeiten, in denen andere Meerzugänge durch verfeindete Länder abgeriegelt waren, als einziger freier Hafen zur Verfügung. Dies verhalf der Stadt zu enormer Wichtigkeit und machte den Hafen zum Wichtigsten um 1700 für Österreich und weitere Teile des Reiches.

So stand die Stadt beispielsweise trotz zeitweisen kaiserlichen Verbots, mit Frankreich, seit der Hansezeit auch mit England und seit der Gründung St. Petersburgs durch Zar Peter I. auch mit Russland in engen Handelsverbindungen. Sowohl die Verbindungen Hamburgs nach London, als auch nach St. Petersburg schlugen sich entscheidend in der Oper Boris Goudenow nieder.[9]

Über das russische Sujet der Oper sollten die russischen Herrscher mit ihrem Wohlwollen für die Stadt und für Handelsbeziehungen gewonnen werden, die Verbindung zu London wirkte sich vor allem maßgeblich auf Matthesons persönliche diplomatische Tätigkeiten aus.

3. Politik und Diplomatie

a) Zum Gesandtenwesen Hamburgs

Die eigentliche Funktion des „Botschafters“ oder „Gesandten“ oder „Diplomaten“ war das Überbringen politischer Nachrichten an fremde Höfe und Herrscher. Besonders das Gesandtschaftswesen des antiken Griechenlands, Rom und Byzanz hatte einen prägenden Einfluss auf nachmittelalterliche, europäische Staaten. Um eine möglichst zuverlässige Nachrichtenübergabe zu sichern, wurden ab dem 15. Jahrhundert stehende - also fest im Lande installierte - Gesandtschaften eingerichtet. Somit steigerte sich auch das Ansehen der Gesandten im 17. Jahrhundert.[10]

Das kulturell aufblühende, gesellschaftliche Leben in der Stadt und seine wirtschaftlich perfekte Lage ließen Hamburg zu einem zentralen Knotenpunkt des Diplomatenwesens anwachsen. Hamburg wird sogar in einem diplomatischen Lehrbuch als, „le lieu le plus commode“[11] aufgeführt. So richteten im Verlauf des 17. Jahrhunderts auch Dänemark, Frankreich, die Niederlande, Holstein, Polen, Portugal, Preußen, Sachsen und Spanien Gesandtschaften in der Stadt ein.

Eine der Hauptaufgaben eines Diplomaten in Hamburg war neben Verhandlungsführungen, das Repräsentieren seines Landes. So hielten diese zu Geburtstagen ihres Herrschers, Krönungen oder anderen Feierlichkeiten große Feste ab, die von großen Festessen und Feuerwerken begleitet wurden.

Umgekehrt war aber natürlich auch die Aufgabe des Diplomaten als „Zeuge“ des Residenzortes, die dargebotene Aufmerksamkeit an den Herrscher nach Hause weiterzuleiten. So war bei in Hamburg dargebotenen politischen Opernaufführungen auch immer der Diplomat der wichtigste Zuschauer und Sprachrohr in die jeweilige Heimat.[12]

Somit war für Boris Goudenow’s Entstehung unter anderen der erste russische Vertreter des Zaren, Johann Friedrich Böttger, der 1709 in die Hansestadt einzog, von großer Wichtigkeit.[13] Mit ihm galt es sich gutzustellen, so dass er als positives Sprachrohr nach Russland fungieren konnte.

Die geplante Aufführung von Boris Goudenow liegt zeitlich nicht weit von Böttgers Amtsantritt in Hamburg entfernt. Die Oper kann somit als politische Botschaft gewertet werden, die – wäre sie damals aufgeführt worden - hinter dem Mantel der Kunst über den Gesandten als Botschafter nach Russland geschickt werden sollte.

Diese Form der Nachrichtenübermittlung wurde mehr und mehr verfeinert und entwickelte sich langsam zu einer Art Kunst, zum „eleganten und subtilen Stil, in dem der Gesandte vor allem mit psychologischen Mitteln operiert, in erster Linie mit der Prachtentfaltung [...] und eventuell auch mit Bestechung“[14].

b) Diplomatische Verbindungen Matthesons

Besonders Mattheson blieb von der Hamburger Stadtentwicklung und Politik nicht unberührt: Vor allem die englische Gesandtschaftsniederlassung in der Stadt war entscheidend für seine Vita.

Der englische Gesandtenposten wurde insgesamt dreimal von Familienmitgliedern der Wichs belegt[15] und bei diesen arbeitete Mattheson zunächst als Lehrer von Cyrill Wich, bald als Sekretär dessen Vaters.[16] Von 1705 – 1751 war Mattheson somit als Gesandtschaftssekretär im englischen Dienst tätig.[17]

Matthesons hierdurch ermöglichter Einstieg in die diplomatischen Kreise brachte ihn mit vielen wichtigen Herrschern und Größen der Zeit zusammen. Diesen Posten genoss Mattheson sehr und er zeigte großes diplomatisches Talent.

In diesem Umfeld arbeitend, war ihm durchaus bewusst, welche politischen Prozesse gerade abliefen und welche Entscheidungen wer, wann mit wem traf.

Er nahm somit einen besonderen Posten ein; in einer Stadt wie Hamburg, die eh schon eine Prägung durch politische Kompositionen wie von z.B. Reinhard Keiser aufwies, war er zusätzlich durch seine eigenen diplomatischen Tätigkeiten in die Richtung gebracht, Werke mit politischem Sujet wie Boris Goudenow zu komponieren und diese gezielt zu bestimmten Anlässen aufzuführen.

c) Zurücknahme der Aufführung 1710

Über die Gründe für die Rücknahme der eigentlich für 1710 geplanten Aufführung wurde vielfach spekuliert. Matthesons damalige Entschuldigung hierzu war folgende:

„Das Jahr 1710. wurde fast mit lauter Staatsgeschäften erfüllet. [... und] nahmen viel Zeit weg. Doch was die Musik betrifft, wurde dieselbe so wenig auf die Seite gesetzet, das Mattheson, zu seiner besonderen Ubung und Lust, eine neue Oper, die Boris hieß, so wohl der Poesie, als auch Composition nach, verfertigte; selbige aber aus Ursachen, dem Theatro zu überlassen Bedenken trug. Sie ist also nicht aufgeführet worden.“[18]

Hier führt Mattheson also eine für das Orchester der Gänsemarktoper zu anspruchsvolle Musik auf, was jedoch mehrfach widerlegt werden konnte, da mehrfach sogar musikalisch anspruchsvollere Werke in Hamburg aufgeführt wurden. Dass solch eine großangelegte Oper nur zur Übung und Lust, nicht aber um auch aufgeführt zu werden komponiert worden sein soll, überzeugt auch nicht. Hierfür scheint Mattheson in seinem Tun viel zu zielorientiert.

Der erste Teil des Zitates, der von Mattheson selbst in den Hintergrund gerückt wurde, scheint viel ergiebiger zu sein. Wie sehr die Staatsgeschäfte von 1710 die Rücknahme von Boris Goudenow beeinflusst haben ist unübersehbar.

Pausch führt hierzu die handelnden Personen der Oper in den Fokus. Die beiden ausländischen Prinzen Gavust und Josennah sind historischen Prinzen nachempfunden. Hierbei handelt es sich einerseits um Gustav, Herzog von Schweden (1568 – 1607) und um den dänischen Herzog Johann. Die beiden kamen wie in der Opernhandlung nach Russland, um sich dort Frauen zu suchen. Der dänische Prinz wird in der Opernhandlung des Landes verwiesen und der Schwede bekommt Axinja zur Frau.

Angesichts der politischen Ereignisse um 1710 könne dies sehr gut als Wunschbild gewertet werden. Ebenso hätte die in der Oper durch das Zusammenkommen von Gavust mit Axinja dargestellte erneute Verbindung zwischen Schweden und Russland dem Wunschdenken entsprochen. England hätte diese gewünschte erneute Verbindung zwischen Russland und Schweden durch ein Eintreten in den Nordischen Krieg als Vermittler eventuell fördern können. Nachdem in England nun aber bei den Unterhauswahlen im Herbst 1710 die Tory-Opposition gesiegt hatte, die zuvor den Ausstieg aus dem Spanischen Erbfolgekrieg versprochen hatte, wurde auch der Eintritt Englands in den Nordischen Krieg unrealistisch. Somit wurde nach Pausch auch die in der Oper dargestellte Option sinnlos und eine Aufführung überflüssig.[19]

Ein weiterer Grund für eine Rücknahme mit ebenfalls politischem Hintergrund, könnte folgender gewesen sein: Der russische Zar hatte Darstellungen von lebenden oder auch bereits verstorbenen Zaren Russlands auf der Bühne verboten. Da man den Zaren von Seiten Hamburgs aus natürlich nicht verärgern wollte, konnte keine Oper aufgeführt werden, die erstens einen historischen Zaren als Hauptperson hat und zweitens diesen noch als ein wenig verschlagen darstellt.[20]

Daher könnte auch der zweite Titel der Oper Boris rühren: Der Titel „Die durch Neigung glücklich Verknüpfte Ehre“ ist wesentlich netter formuliert als „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“.[21] Beide dieser möglichen Ursachen zur Rücknahme der Aufführung weisen die Abhängigkeit von Boris Goudenow zur Hamburgischen Politik nach.

Ohne einen politischen Hintergedanken, wäre das Werk vermutlich niemals entstanden und im engen Gegenzug von der Uraufführung zurückgenommen worden.

4. Gänsemarktoper und Hamburger Stilelemente

Die Gattung der Oper an sich entsprang der italienischen Spätrenaissance.

So bildete die italienische Oper und vor allen Dingen die Venezianische das Vorbild für die Hamburger Oper. Aus Venedig wurden das genossenschaftliche Pachtsystem und die Zugänglichkeit für alle Bürger zur Oper, sowie viele musikalische Stilelemente übernommen. In der Republik Venedig herrschten wirtschaftlich und gesellschaftlich sehr ähnliche Zustände wie in Hamburg.

In Venedig wurde der künstlerische Geschmack einer Gruppe dargestellt und vor einem Publikum, das sich aus allen sozialen Schichten zusammensetzte, präsentiert. Genauso setzte sich auch das Hamburger Publikum aus vielen sozialen Schichten zusammen.

In diesem Opernstil verschmolzen fürstlich-absolutistische mit volkstümlichen Elementen; in den Texten wurden höfisch-aristokratische Ideale zusammen mit Liebesproblemen dargestellt. Hinzu kamen Elemente des volkstümlichen italienischen Theaters, der Commedia dell’Arte, das gerne das Fürstentum und seine Ideale verspottete.[22] Dieses Zusammenbringen eines höfisch aristokratischen Sujets mit Liebesproblemen ist auch im Boris Goudenow deutlich zu sehen:

Die Handlung spielt schließlich am Hofe des Zaren in Russland, es geht inhaltlich wie eingangs beschrieben um die Nachfolge der russischen Krone und in der Nebenhandlung um die verschiedenen zunächst unglücklichen Liebschaften, die dann zueinander finden. Auch die volkstümlichen Elementen der Commedia dell’Arte wie die komische Person des Diener Bogdas und die Volkschöre werden im Folgenden genauer beschrieben.

a) Über die Institution als Politikum

Zunächst ist zu erwähnen, dass Hamburgs Oper als Institution selbst schon ein Politikum darstellte. Gerne wird die Hamburger Gänsemarktoper nachträglich als Produkt einer demokratischen Bürgerkultur der Zeit dargestellt, als erste Oper, die ohne Fürstenunterstützung nur durch die Bürger der Stadt entstehen konnte.

So stellte noch der damalige Bundespräsident Walter Scheel 1977 in seiner Rede zum 300. Geburtstag der Operngründung folgendes in den Vordergrund: „Vor 300 Jahren wurde in Hamburg die erste stehende deutsche Oper gegründet. Kein König, kein Fürst stand dabei Pate. Die Hamburger Bürger wollten ihre Bürger-Oper haben.“[23]

Dies stellt sich historisch jedoch als Täuschung heraus, denn treibend hinter dem Opernbau-Projekt stand tatsächlich Herzog Christian Albrecht von Holstein-Gottorf.[24]

Mit Tradition wird die Gänsemarktoper von der Stadt also auch heute noch als Selbstdarstellungsmittel genutzt, in diesem Falle, um die antihöfische Kultur Hamburgs herauszustellen. Auch hieran ist ersichtlich, dass das Selbstbild einer Institution die eigenen Produktionen in eine zu diesem Selbstbild passende Richtung lenkt. In diesem Falle Kompositionen mit politischem Sujet.

b) Festoperntradition und kulturelle Infrastruktur Hamburgs

Diese überzeugte antihöfische Kultur führte dazu, dass erst Dorothea Schröder sich mit der Untersuchung der sogenannten Festopern beschäftigte. Diese Opern waren nämlich anlässlich höfischer Höhepunkte komponiert worden; zu besonderen Feiern wie Krönungen oder Fürstengeburtstagen. Diese Festopern standen im engen Zusammenhang zum politischen Geschehen der Zeit; durch sie wurden die herrschaftlichen Beziehungen in Form von politischen Botschaften mit gelenkt und beeinflusst. Hierfür wurde jeweils ein eigens komponiertes Werk mit jeweils neuem, oftmals politischem Sujet aufgeführt. In dieser Tradition war Hamburg herausragend.[25]

So könnte man auch vermuten, dass Boris Goudenow für einen besonderen Anlass mit Anwesenheit der russischen Diplomaten geplant war.

Hamburg bot sich als Standort für diese Art von Kunst an; als zweitgrößte Stadt des Reiches und großes Diplomatie- und Handelszentrum fanden hier auch große Feste – und somit die Aufführungen von Festopern – statt. Ganz genau so, wie Fürsten sich große Paläste bauten und versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen, wurden in Hamburg ebenso Opern als Medium zur prunkhaften Selbstdarstellung genutzt. Hierbei besaß Hamburg eine enorme Vielschichtigkeit in seinem Festopernwesen.[26]

[...]


[1] Vgl., http://emedien.sub.uni-hamburg.de/han/sfx/em.oxfordjournals.org/content/33/2/283 [06.02.2015], S. 289.

[2] Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690-1745) (Abhandlungen zur Musikgeschichte/ Unipress 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998.

[3] Boris Goudenow oder „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“. Premiere der Barockoper des Hamburger Komponisten Johann Mattheson (1710), Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg: 2007.

[4] Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg. (1678-1738). 1. Textband, Wolfenbüttel: Möseler, 1957.

[5] Vgl., Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690-1745) (Abhandlungen zur Musikgeschichte/ Unipress 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, S. 13.

[6] Vgl., Boris Goudenow oder „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“. Premiere der Barockoper des Hamburger Komponisten Johann Mattheson (1710), Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg: 2007, S. 13.

[7] Vgl., Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690-1745) (Abhandlungen zur Musikgeschichte/ Unipress 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, S. 14f.

[8] Vgl, Boris Goudenow oder „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“. Premiere der Barockoper des Hamburger Komponisten Johann Mattheson (1710), Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg: 2007, S. 7.

[9] Vgl., Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690-1745) (Abhandlungen zur Musikgeschichte/ Unipress 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, S. 35ff.

[10] Vgl., Ebd., S. 37.

[11] Ebd., S. 38.

[12] Vgl., Ebd., S. 41f.

[13] Vgl., Ebd., S. 38.

[14] Ebd., S. 37, zitiert nach: Pietro Gerbore, Formen und Stile der Diplomatie (=rowohlts deutsche enzyklopädie), Reinbek 1964, S. 18.

[15] Vgl., Ebd., S. 207.

[16] Vgl., http://emedien.sub.uni-hamburg.de/han/sfx/em.oxfordjournals.org/content/33/2/283 [06.02.2015], S. 286.

[17] Vgl., Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690-1745) (Abhandlungen zur Musikgeschichte/ Unipress 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, S. 208.

[18] Johann Mattheson: Grundlage einer Ehrenpforte, woran der Tüchtistgen Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler, etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen, Berlin: Liepmannssohn, 1910, S. 197.

[19] Vgl., Boris Goudenow oder „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“. Premiere der Barockoper des Hamburger Komponisten Johann Mattheson (1710), Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg: 2007, S. 9f.

[20] Vgl., http://emedien.sub.uni-hamburg.de/han/sfx/em.oxfordjournals.org/content/33/2/283 [06.02.2015], S. 286f.

[21] Vgl., Ebd., S. 289.

[22] Vgl., Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg. (1678-1738). 2. Notenbeispiele, Wolfenbüttel: Möseler, 1957, S. 10f.

[23] Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690-1745) (Abhandlungen zur Musikgeschichte/ Unipress 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, S. 2f.

[24] Ebd., S. 2f.

[25] Vgl., Ebd., S. 1.

[26] Vgl., Ebd., S. 297f.

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Details

Title
Kultur und Pfeffersäcke. Zum Verhältnis von Diplomatie und Kunst in Hamburg am Beispiel der Oper "Boris Goudenow" von 1710
College
University of Hamburg  (Institut für Musikwissenschaft)
Course
Hauptseminar: Johann Mattheson
Grade
2,3
Author
Year
2015
Pages
18
Catalog Number
V344695
ISBN (eBook)
9783668346208
ISBN (Book)
9783668346215
File size
548 KB
Language
German
Keywords
Kunst, Politik, Oper, Hamburg, Diplomatie, Boris Gudenow, Johann Mattheson
Quote paper
Marta Denker (Author), 2015, Kultur und Pfeffersäcke. Zum Verhältnis von Diplomatie und Kunst in Hamburg am Beispiel der Oper "Boris Goudenow" von 1710, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/344695

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