Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einordnung in den literaturhistorischen Kontext
3. Biografische Einflüsse Zorillas in Tabaré
4. Analyse Tabaré
4.1 Aufbau
4.2 ‚Stummes’ Volk der Charrúa/ Identitätsproblematik in Uruguay
4.3 Zur Musikalität/ Leitmotivik
4.4 Romantische Naturdarstellung und metaphysische Ebene
4.5 Darstellung der Charrúa/ Ausnahmen Yamandú und Tabaré
4.6 Tabaré als ‚stummer’ Held/ Blanca als ‚starke’ Stimme
5. Zusammenfassung/ Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Handlung des 1888 erschienenen epischen Gedichtes Tabaré des uruguayischen Schriftstellers Juan Zorilla de San Martín entwickelt sich zu Beginn der Kolonialisierung im 16. Jahrhundert im Gebiet des Río de la Plata. Dies ist die Zeit vor der Selbständigkeit Uruguays, als das Gebiet gerade von den Spaniern besiedelt, die indigene Bevölkerung vertrieben wurde und die Macht noch in den Händen der spanischen Krone lag.
Der blauäugige Mestize Tabaré, Sohn eines indigenen Häuptlings und einer Spanierin, wird zusammen mit anderen Charrúa von Don Gonzalo, dem Oberhaupt einer spanischen Ansiedlung, gefangen genommen.
Tabaré fühlt sich weder den Charrúa noch den Spaniern richtig zugehörig, nur zu Blanca fühlt er sich hingezogen, da diese ihn ihm nicht den Wilden, sondern den Menschen sieht und sie ihn an seine verstorbene Mutter erinnert. Als Blanca bei einem Angriff der kriegerischen Charrúa vom Häuptling Yamandú geraubt wird, rettet Tabaré sie. Zurück im Dorf wird Tabaré, der Entführung beschuldigt und von Don Gonzalo getötet.
Mein Thema soll sich mit der Machtlosigkeit und der geringen Wertschätzung der unterdrückten indigenen Bevölkerung durch die ansiedelnden Spanier beschäftigen.
Enrique Anderson Imbert widmete sich in zwei Werken von 1957 und 1968 der Analyse des Gedichts,[1] diese befassen sich hauptsächlich mit geschichtlichen Hintergründen, dem Leben des Autors, der Entstehung, dem theologischen Faden, Versmaß, Konzeption und Stil des Werkes. Spätere Literatur, wie beispielsweise die Gustavo San Románs, beschäftigt sich mit der ungleichen Beziehung zwischen Tabaré und Blanca. Allerdings arbeitete Román die ungleiche Beziehung nicht durch Untersuchung der Stimmen, sondern über die unterdrückte Erotik zwischen den beiden heraus.[2]
Hugo Emilio Pedemonte brachte 1991 ein Werk heraus, welches einen Überblick über die uruguayische Poesie der Romantik bietet. Hieraus kann man viel über diese literarische Epoche und Zorilla als einen ihrer Hauptvertreter entnehmen.[3]
Die Arbeit beginnt mit einer Verortung des Gedichts in der literarischen Epoche der Romantik. Diese verlief in Hispanoamerika zeitlich parallel zur Nationenbildung, woran sich Inhalte, Schreibweisen und Zielsetzungen der literarischen Werke, die in dieser Zeit entstanden, orientieren. In der Forschung ist nicht nur die Bedeutung von Tabaré als der Nationenbildung zuträgliches Werk hervorgehoben worden, sondern Graciela Palau de Nemes[4] hat ihm auch prä-modernistische Züge nachweisen können.
Zorillas Leben war durch längere Aufenthalte im Exil geprägt. Die Ausweisung aus Uruguay soll hier als Sprachverbot im eigenen Land gewertet werden. Dieser Umstand wird dem Autor Verständnis für die Situation einer Vertreibung aus dem eigenen Lande, wie es der indigenen Bevölkerung widerfahren ist, eingebracht haben und mit in das Gedicht eingeflossen sein.
In der Analyse des Gedichts werde ich auf seine metaphysische Bedeutung, die romantische Naturdarstellung und seine Musikalität eingehen, Metrik und Versmaß untersuchen und einige grundlegende Beobachtungen herausarbeiten, die das Gedicht als romantisches kennzeichnen.
Schwerpunktmäßig soll das Verhalten und der Charakter Tabarés im Verhältnis zu Blanca untersucht werden.
Viel über das Verhalten der Charaktere, die Machtverteilung untereinander und den Einfluss aufeinander, sagt die Verwendung ihrer Stimmen im Gedicht aus.
Tabaré findet nur selten eine Stimme und in diesem Zusammenhang ist es ihm ebenfalls unmöglich, eine eigene Identität zu entwickeln.
Macht, Identität, Einfluss, Selbstbestimmung und Stimme stehen hier also in einem engen Zusammenhang.
Die Stimmlosigkeit des Helden ist eng mit der Stimmlosigkeit des gesamten Volkes der Charrúa verbunden, das als kollektive Figur für die Sinnkonstitution in dem Werk eine Rolle spielt, denn nach Vannina Sztainbok[5] stehen die Gründung des Nationalstaates Uruguay und die Bildung einer nationalen Identität in engem Zusammenhang mit dem Aussterben des Volkes der Charrúa.
Für mich artikuliert der Autor Juan Zorrilla de San Martín auch die Absicht, in seinem Werk dem Volk der Charrúa nachträglich noch eine Stimme zu verleihen.
2. Einordnung in den literaturhistorischen Kontext
Die Romantik in Hispanoamerika wird nach Hugo Emilio Pedemonte in zwei Perioden unterteilt; die erste beginnt um 1840, die zweite um 1880.[6]
In der ersten Periode war Hispanoamerika auf der Suche nach seinem eigenen Ausdruck. Die Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika und die Suche nach der jeweils eigenen nationalen Identität spiegelten sich auch in der Literatur wieder.[7]
In diese Zeit lässt sich maßgeblich das Gedicht mit Nationalcharakter La leyenda patria (1879) von Zorilla einordnen.
Neben den nationalen Bestrebungen werden zu dieser Zeit ebenso Gedanken eines zusammenhängenden Hispanoamerikas sichtbar.
Die Werke der zweiten Periode nach Pedemonte haben im Gegensatz zur ersten kaum mehr Nationalcharakter. Sie haben stattdessen häufig einen von dem spanischen Romantiker Gustavo Adolfo Bécquer beeinflussten Stil.[8]
Die Entstehungszeit Tabarés fällt in die erste Periode, die Veröffentlichung (1888) in die zweite.
Man kann Zorilla und Tabaré also in beiden Perioden als wichtigen Vertreter der Romantik einordnen: „Eso lo valió ser el poeta de la patria; pero también iba a ser el poeta americano de Tabaré.“.[9]
Das Gedicht Tabaré behandelt sowohl ein nationales Thema - häufig ist vom Vaterland die Rede - als auch ein hispanoamerikanisches. Es geht schließlich um die Conquista, die Christianisierung und die Vertreibung und Bekämpfung der indigenen Völker, in diesem Falle um das Aussterben der Charrúa.
Diese Themen müssen nicht nur einem einzelnen speziellen Land zugeordnet werden, sondern stehen symbolhaft für ganz Hispanoamerika.
Dieser symbolhafte Charakter des Gedichts zeigt nach Graciela Palau de Nemes eher eine Abwesenheit von nationaler Präsenz. In diesem Punkt besitzt das Gedicht bereits prä-modernistische Züge.[10]
Gemeinsam waren den Texten der Romantik die Gefühle der Einsamkeit, der Melancholie, des sozialen Abseits und das Leid des Einzelnen in der Literatur verarbeitet. Tabarés Bezug zur Vergangenheit der Indios erklärt sich durch den Bezug der Romantik in Europa auf das Mittelalter; dem entsprechend bezog sich Hispanoamerika auf die Kolonialzeit.[11] Einerseits steht Zorilla also unter dem Einfluss Europas und deren Romantik, andererseits zeigt er einen Hang zur alten Geschichte Uruguays.[12]
3. Biografische Einflüsse Zorillas in Tabaré
Zorilla kam 1875 zur Welt und verlor wie der Held des Gedichts Tabaré selbst schon früh seine Mutter. Insofern können hier durchaus schon biografische Bezüge zwischen dem Leben des Autors und dem Tabarés gezogen werden.[13]
Als zweiter Einfluss kann die strenge katholische Erziehung, die Zorilla in seiner Kindheit genossen hat, gewertet werden. Jahrelang besuchte er eine jesuitische Schule in Chile.[14]
Wie viele andere Schriftsteller der Zeit war auch Zorilla politisch sehr aktiv.
Sein national romantisches Gedicht La leyenda Patria enthält beispielsweise viele Gedanken zum Vaterland, aber erst in Tabaré konnte er seine eigentlichen Ideen hierzu äußern; dass nämlich auch die indigene Bevölkerung ein Anrecht auf das Land gehabt hätte. Er nimmt hierin die Stimme der Indios auf und geht auf die Kontroversen der Kolonisation ein.[15]
Von 1880 - 1885 hatte Zorilla einen Lehrstuhl für Literatur in Montevideo und hielt dort sehr stark besuchte Vorlesungen gegen die damalige Diktatur Máximo Santos, für Demokratie und für Freiheit.
Hierauf wurde er 1887 des Landes verwiesen und musste sich nach Buenos Aires ins Exil begeben. Dort blieb er einige Jahre. Einige Teile seines Werkes und auch Tabaré wurden somit in der Verbannung geschrieben, in Zeiten der Enttäuschung und der Isolation. Vielleicht rührte hierher das im Gedicht erkennbare Verständnis für die Indios, die ihr Land hergeben und fliehen mussten; auch Tabaré wird des Dorfes verwiesen, ist heimatlos.[16]
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[1] Anderson Imbert, Enrique: Análisis de Tabaré (Enciclopedia literaria 23), Buenos Aires: Centro Eidtor de América Latina, 1968.
Anderson Imbert, Enrique: „La originalidad del Tabaré“, in: La cultura y la literatura iberoamericanas, Berkeley u.a.: Univ. of California Pr. u.a., 1957, S. 33 – 57.
[2] San Román, Gustavo: „Negotiating Nationhood. The Repressed Desire of the Native in Tabaré“, in: Forum for Modern Language Studies (1993); Oct: 29 (4): 300-310.
[3] Pedemonte, Hugo Emilio: Nueva Poesía uruguaya (Antologías hispanoamericanas La Encina y el mar), Madrid: Ed. Cultura Hispánica, 1958.
[4] Palau De Nemes, Graciela: Tabaré y Soledad. Símbolos de una ausencia nacional, in: Garfield, Evelyn Picón / Schulman, Ivan A.: Contextos. Literatura y sociedad latinoamericanas del siglo XIX, Urbana: University of Illinois Press, 1991.
[5] Sztainbok, Vannina: „From Salsipuedes to Tabaré“, in: Anette Hoffmann / Esther Pereen (Hg.), Representation matters. (Re)articulating collective identities in a postcolonial world (= Thamyris, intersecting: place, sex and race 20), Amsterdam u.a.: Rodopi, 2010, S. 175 – 192.
[6] Vgl., Hugo Emilio Pedemonte: Nueva Poesía uruguaya (Antologías hispanoamericanas La Encina y el mar), Madrid: Ed. Cultura Hispánica, 1958, S. 51 – 79.
[7] Vgl., Vera Kuteischikova Nikolayevna: El romanticismo y el problema de la conciencia nacional en la literatura latinoamericana en el siglo XIX, in: Garfield, Evelyn Picón / Schulman, Ivan A.: Contextos. Literatura y sociedad latinoamericanas del siglo XIX, Urbana: University of Illinois Press, 1991, S. 1.
[8] Vgl., Hugo Emilio Pedemonte: Nueva Poesía uruguaya (Antologías hispanoamericanas La Encina y el mar), Madrid: Ed. Cultura Hispánica, 1958, S. 61.
[9] Ebd., S. 67.
[10] Vgl., Graciela Palau De Nemes: Tabaré y Soledad. Símbolos de una ausencia nacional, in: Garfield, Evelyn Picón / Schulman, Ivan A.: Contextos. Literatura y sociedad latinoamericanas del siglo XIX, Urbana: University of Illinois Press, 1991, S. 28.
[11] Vgl., Zorilla de San Martín. Vida y obra (Capítulo oriental: la historia de la literatura uruguaya 7), Montevideo: Centro Editor de América Latina, 1968, S. 111.
[12] Vgl., Hugo Emilio Pedemonte: Nueva Poesía uruguaya (Antologías hispanoamericanas La Encina y el mar), Madrid: Ed. Cultura Hispánica, 1958, S. 64.
[13] Vgl., Graciela Palau De Nemes: Tabaré y Soledad. Símbolos de una ausencia nacional, in: Garfield, Evelyn Picón / Schulman, Ivan A.: Contextos. Literatura y sociedad latinoamericanas del siglo XIX, Urbana: University of Illinois Press, 1991, S. 28.
[14] Vgl., Enrique Anderson Imbert: „La originalidad del Tabaré“, in: La cultura y la literatura iberoamericanas, Berkeley u.a.: Univ. of California Pr. u.a., 1957,S. 33f.
[15] Vgl. Ebd., S. 34f.
[16] Vgl., Naïade Anido: „Tabaré. Mythe stigmatique de l’indigénisme uruguayen et realité génétique dans la société ‚rioplatense’“, in: Charles Dumas (Hg.), Culture et Société en Espagne et en Amérique Latine au dixneuvième siècle, Lille: Univ. de Lille III, 1980, S. 173f.