Odoardo Galotti. Dimensionen einer Dramenfigur

Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti" in der Analyse


Term Paper, 2013

35 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Forschungsüberblick zu Emilia Galotti

3. Odoardo Galotti – Typus oder Charakter?
3.1 Definition und Entwicklung von Typus, Typenkomödie und Charakter
3.2 Odoardo Galotti als Charakter

4. Odoardo Galotti – ein guter Vater?
4.1 Kulturgeschichte der Vaterschaft
4.2 Emilia Galotti
4.2.1 Die schwache Tochter
4.2.2 Zwei Elternteile, zwei Erziehungen
4.2.3 Verspätete Vaterschaft
4.3 Claudia Galotti
4.4 Vom tugendhaften Vater zum cholerischen Patriarchen

5. Odoardo Galotti – ein Mann in der Krise?
5.1 Theorien und Zielsetzung der Männlichkeitsforschung
5.2 Krisensymptome bei Odoardo Galotti
5.2.1 Verunsicherter Vater, verunsicherter Mann
5.2.2 Die Rivalität mit dem Prinzen

6. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Bis heute zählt Emilia Galotti zu den meist aufgeführten Stücken auf deutschsprachigen Bühnen. Ob in den jüngsten Inszenierungen am Hamburger Thalia Theater, am Deutschen Theater in Berlin oder am Wiener Burgtheater, Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel ist ein wahrer „Bühnen-Evergreen“[1]. Dass das Stück knapp 240 Jahre nach seiner Entstehung noch immer modern ist, liegt vor allem an der Psychologie der Figuren.[2] In Emilia Galotti findet man komplexe, getriebene Charaktere wie Emilias Vater Odoardo Galotti, dessen ambivalentes Auftreten eine Vielzahl von Lesarten ermöglicht.

Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sollen im Folgenden drei dieser Lesarten exemplarisch ausgelotet werden. Zu untersuchen ist erstens, ob es sich bei Odoardo Galotti um einen Typus oder einen Charakter handelt. Zweitens soll gefragt werden, ob der alte Galotti überhaupt ein guter Vater ist. Drittens soll erläutert werden, inwiefern der Mann Odoardo Galotti in einer Krise steckt, denn immerhin tötet er seine Tochter. Zur Beantwortung dieser Fragen werden dieselben in entsprechende theoretische Kontexte eingebettet. Es handelt sich dabei um Theorien zur Gattungsgeschichte des Dramas, zur Kulturgeschichte von Vaterschaft und Familie sowie um Theorien der Männlichkeitsforschung.

In auffälligem Widerspruch zu den vielfältigen Deutungen des Dramas und seiner Figuren steht der simple, schnell erzählte Plot. Es stehen sich zwei Konfliktparteien gegenüber, auf der einen Seite der Prinz Hettore Gonzaga mit seinem Kammerherrn, dem Marchese Marinelli, auf der anderen Seite die Familie Galotti. Der Prinz verliebt sich in die Tochter der Galottis, Marinelli lässt sie auf das Schloss seines Herrn entführen. Hier kommt es zur Katastrophe: Emilia will nicht als eine weitere Mätresse des Prinzen enden, obwohl sie sich durchaus zu ihm hingezogen fühlt[3], und lässt sich deshalb von ihrem Vater erstechen.

Gotthold Ephraim Lessing hat für sein Trauerspiel den antiken Virginia-Stoff[4] modifiziert. Einerseits hat er die Handlung in die damalige Gegenwart versetzt, andererseits dessen politische Dimension gestrichen.[5] Die Figuren hat Lessing frei erfunden.

Wie Monika Fick betont, ist der Inhalt des Trauerspiels nur scheinbar simpel und klar, denn bei genauerem Hinsehen zeigen sich zahlreiche Doppelböden, offene Fragen und Widersprüche.[6] Bis heute verweigert sich Emilia Galotti einer allumfassenden Deutung, wovon die intensive Forschungsarbeit zeugt.

2. Forschungsüberblick zu Emilia Galotti

Tatsächlich gehört Lessings Trauerspiel Emilia Galotti auch zu den am meisten untersuchten Werken der deutschsprachigen Literatur. Fick spricht von einer „unübersichtliche[n] Fülle der Analysen„[7] sowie einer nicht mehr zu bewältigenden Einzelforschung[8]. Dennoch versucht sie, die verschiedenen Forschungsansätze zu systematisieren.[9]

Die politische Deutung des Dramas beschäftigt sich mit seinem gesellschafts- und systemkritischen Gehalt, die literatursoziologische untersucht das soziale Gefüge der Figuren, während die geistesgeschichtliche und philosophische Hermeneutik das schwierige Verhältnis von Tugend und Verführbarkeit analysiert. Im Kontext von Emilias Verführbarkeit und Sexualität sind auch psychoanalytische bzw. feministische Studien zu sehen. Die Schlüsselworte Inzest, Patriarchat und Passivität lassen erkennen, dass es sich hierbei vor allem um Interpretationen handelt, die das Verhältnis von Emilia zu ihrem Vater durchleuchten. Schließlich fragen gattungstheoretische Untersuchungen, ob das Trauerspiel logisch aufgebaut ist und ob das Handeln der einzelnen Charaktere psychologisch glaubhaft gemacht wird.

Wolfgang Albrecht weist zudem darauf hin, dass in der neueren Lessing-Forschung „die Beschäftigung mit Einzelproblemen des Stückes [überwiegt], während es nur wenige Gesamt- oder Modellanalysen gibt, die auffälligerweise alle sozialhistorisch akzentuiert sind“[10]. Zu diesen Einzelproblemen zählen besonders die Frage nach der Schuld bzw. nach dem Sinn und den Ursachen von Emilias Tod sowie die ambivalenten Figuren Hettore Gonzaga und Odoardo Galotti.[11]

In Bezug auf die vorliegende Arbeit lässt sich vorwegnehmen, dass die diversen Deutungen Odoardo Galottis alle genannten Forschungsansätze berühren, nicht zuletzt deshalb, um das Bild der Figur möglichst detailliert und umfassend nachzuzeichnen.

3. Odoardo Galotti – Typus oder Charakter?

Die Frage, ob es sich bei der Figur des Odoardo Galotti um einen Typus handelt oder um einen Charakter, ist gattungshistorisch bedingt. Denn die Entstehung von Emilia Galotti zwischen 1750 und 1772[12] fällt just in jenen Zeitraum, in welchem die Sächsische Typenkomödie – und damit der Typus – massiv an Bedeutung verlieren und sich der Charakter auf den Theaterbühnen durchsetzt. Doch was versteht man eigentlich unter einem „Typus“ bzw. einem „Charakter“?

3.1 Definition und Entwicklung von Typus, Typenkomödie und Charakter

Der Terminus „Typus“ bezeichnet eine Dramenfigur, die „auf karikierende Weise meist nur durch wenige Eigenschaften bestimmt“[13] ist. Diese wenigen, stereotypen Eigenschaften sind negativer Natur und realisieren sich in mehr oder minder standardisierten Figuren wie dem Geizigem, dem Hypochonder, dem heuchlerischen Priester oder dem lüsternen Alten[14] bzw. in simplen Oppositionspaaren wie männlich/weiblich, ernst/komisch oder jung/alt.

Die Struktur der Typenkomödie sieht vor, dass Typen dieser Art im Verlauf des Stücks allgemein gültige Normen verletzen, woraus die für die Typenkomödie typische Bühnenkomik – das sogenannte Verlachen – resultiert. Schließlich scheitern die Typen aufgrund ihrer charakterlicher Mängel.[15]

Die Typisierung wirkte sich natürlich auf die Textproduktion aus, da der Komödienautor sich entsprechender Figuren bediente. Auf der Bühne wiederum wurden den einzelnen Typen entsprechende schauspielerische Rollenfächer zugeordnet.[16]

Historisch betrachtet, existiert die Typenkomödie seit der Antike. Sie entwickelte sich weiter über die italienische Commedia dell'arte und die satirische Typenkomödie des Barock, in Deutschland bildete sie sich seit den 1730er Jahren zur Sächsischen Typenkomödie heraus.[17] Heute sind typenhafte Figuren kaum noch relevant, sie spielen nur mehr im Volks-, Dialekt- oder Boulevardtheater eine Rolle.

Der Bedeutungsverlust der Typenkomödie geht vor allem auf Lessing selbst zurück. Bediente er sich für seine Jugendkomödien wie Die Juden oder Der junge Gelehrte ganz bewusst typenhafter Figuren, etablierte sein bürgerliches Trauerspiel Minna von Barnhelm aus dem Jahr 1767 endlich den Charakter.[18] Lessing steht somit an der historischen Schwelle, in seinen Stücken treten sowohl eindimensionale Figuren als auch vielschichtige Charaktere auf.

Im Gegensatz zum Typus zeichnet sich dieser „Charakter“ durch „Komplexität, Individualität und Unwiederholbarkeit“[19] aus. Er stellt ein Bündel spezifischer Eigenschaften dar, das nur ihm zugeordnet werden kann.[20]

Warum diese Weiterentwicklung vom grellen Typus zum gemäßigten Charakter notwendig war, erklärt Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie am Beispiel des französischen Theaters. So kritisiert er den Druck, den Autoren wie Corneille auf ihre Figuren ausgeübt haben, bis „aus lasterhaften oder tugendhaften Menschen hagere Gerippe von Lastern und Tugenden geworden sind“[21]. Auch Diderot straft Lessing ab. Dieser schlug vor, nicht mehr die Charaktere, sondern die Stände auf die Bühne zu bringen“[22], denn laut Diderot „muß der Stand das Hauptwerk und der Charakter das Zufällige werden“[23]. Doch eben diese Klippe der sogenannten „vollkommenen Charaktere“ gelte es zu umschiffen, fordert Lessing.[24] Was bliebe sonst, fragt er, von einem Stück übrig, wenn die Personen nie anders handeln würden als nach allgemeiner Vorschrift? „Können dergleichen Vorstellungen anziehend genug sein?“[25]

Zusammengefasst bedeutet dies, dass das Menschliche hinter dem Typischen verschwunden war, die Figuren waren überzeichnet. Diese Überzeichnung brachte weder inhaltliche Neuerungen noch führte es zu einer Identifikation des Publikums mit einer Bühnenfigur.

In der Konsequenz entstand der sogenannte „gemischte Charakter“: eine Figur, die sowohl tugend- als auch lasterhaft sein kann, die, vereinfacht gesagt, gut und böse zugleich ist. Asmuth führt zudem sich wandelnde Moralvorstellungen als Ursache für das Entstehen des gemischten Charakters an, da das moralische Handeln eine Figur nicht mehr allein ausschlaggebend für die Gunst der Zuschauer ist. Viel entscheidender wird nun, dass sie durch Ambivalenz fasziniert.[26]

Insgesamt ist diese Figurendebatte im Kontext der Aufklärung zu sehen. Denn vor allem die Hochaufklärung entdeckt die empirische Psychologie für sich, und damit die Vielfältigkeit der menschlichen Dispositionen. Die Erkenntnis, dass der Mensch nicht gut oder schlecht, nicht stark oder schwach ist, sondern beides zugleich sein kann, und, was noch viel gewichtiger ist, trotz guter Absichten böse handeln kann, wirkt sich auf die zeitgenössische Dramenproduktion aus und beeinflusst vor allem Lessing stark.[27] Stichwort ist hier die conditio humana, der menschliche Widerstreit zwischen Geist und Fleisch, Vernunft und Sinn.[28] Sie beweist, wie schwach der Mensch in Wahrheit ist. Es wird offensichtlich, wie unrealistisch der dogmatisch konstruierte Typus ist, zumal er überhaupt keine „Bewegungsfreiheit“ hat. Die differenzierte Ausgestaltung der Bühnenfiguren nimmt ihren Lauf, „konsequent individualisiert“[29] sind jedoch erst die Charaktere des Sturm und Drang.

3.2 Odoardo Galotti als Charakter

Nach diesem gattungstheoretischen Exkurs soll nun explizit die Figur des alten Galotti betrachtet werden. Handelt es sich bei Emilias Vater um einen simplen Typus, oder hat Lessing mit ihm einen authentischen Charakter entworfen?

Ohne Frage verkörpert Odoardo Galotti im Stück die Tugendhaftigkeit. Frömmigkeit, Keuschheit, Unschuld, Respekt und Gewissenhaftigkeit sind seine Maximen. Das beweist allein sein erster Auftritt. Emilia hat am Morgen ihrer Trauung trotz der Hochzeitsvorbereitungen „alles liegen“ (II/2)[30] gelassen, um noch einmal in die Kirche zu gehen, in die sie laut ihrer Mutter regelrecht „eilte“ (II/2). Doch diese doppelte, wenn nicht sogar dreifache Tugendhaftigkeit Emilias ist dem Vater nicht genug, er fürchtet dennoch einen Fehltritt, da sie allein gegangen ist. Auch die beschwichtigenden Worte Claudias, es handle sich doch nur um wenige Schritte bis zur Kirche (Vgl. II/2), schmettert er vehement ab: „Einer ist genug zu einem Fehltritt!“ (II/2). Das Ausrufezeichen unterstreicht die Entschiedenheit seiner Worte, und damit seine außerordentliche Tugendhaftigkeit.

Auch die anderen Figuren beschreiben ihn entsprechend. So nennt der Prinz Odoardo „bieder und gut“ (I/4), während sein Kammerherr Marinelli von Galotti als einem anständigen Mann spricht, der trotz der Entführung seines Kindes „ganz untertänigst“ (V/1) und „in tiefster Unterwerfung“ (V/1) agiere. Bemerkenswert ist an dieser Stelle die zweifache Verwendung des Superlativs. Einerseits möchte Marinelli den Prinzen auf diese Weise beruhigen und auf die Konfrontation mit dem alten Galotti vorbereiten, andererseits nimmt er das weitere Geschehen tatsächlich vorweg. Denn Odoardo Galotti bleibt trotz Emilias Entführung außerordentlich korrekt, wie es seiner Vorstellung von Anstand und Höflichkeit entspricht: „Der Prinz vergönne nur, dass ich mich so lange mit meiner Tochter noch hier verweile.“ (V/3) Natürlich ist ihm zu diesem Zeitpunkt nur halb bewusst, dass der Prinz bzw. dessen Kammerherr die Drahtzieher hinter der Entführung sind.[31] Außerdem ist der Prinz sein Landesherr und damit die höchste Respektsperson. Es gilt, in jeder Situation die Contenance zu wahren. Dennoch wurde seine Tochter am Tag ihrer Hochzeit verschleppt, es handelt sich also um eine emotionale Ausnahmesituation, so dass es durchaus verständlich wäre, wenn Odoardo aufgebrachter wäre.

Wäre Odoardo Galotti ein Typus, eine simpel gezeichnete Figur, könnte man ihn der Kategorie „kauziger Vater“ zuordnen oder ihn mit dem Attribut „übertrieben tugendhaft“ versehen. Dennoch gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die Figur ambivalent, wenn nicht sogar regelrecht gebrochen ist.

Dies zeigt sich deutlich an Odoardos Zorn, in den seine Tugendhaftigkeit sofort umschlägt, sobald sie von anderen missachtet wird. Auch die laute, unbeherrschte Facette Odoardos ist im Stück von Beginn an präsent. Er schimpft über einen eventuellen Fehltritt seiner Tochter, Claudia unterbricht ihn mit einem „Zürnen Sie nicht, mein Bester“ (II/2), woraufhin ihr der Ehemann sofort widerspricht: „Wie du meinest, Claudia. - Aber sie sollte nicht allein gegangen sein. -“ (II/2). Tugendhaftigkeit und Wut konstituieren gleichermaßen die Figur des Odoardo Galotti. Claudia und Emilia kennen die Wutausbrüche Odoardos wiederum so gut, dass sie ihm die Begegnung mit dem Prinzen bei der morgendlichen Messe aus Angst vor „seinem Zorne“ (II/6) verschweigen. Claudia berät sich mit ihrer Tochter: „Gott! Gott! wenn dein Vater das wüsste! - Wie wild er schon war, als er nur hörte, dass der Prinz dich jüngst nicht ohne Missfallen gesehen!“ (II/6)

Dass Odoardo Galotti eher einem Charakter als einem Typus entspricht, belegt natürlich auch der Mord an der eigenen Tochter. Hier verkehrt sich die Tugendhaftigkeit ins krasse Gegenteil, denn „ironischerweise ist es […] der tugendstrenge Odoardo, bei dem der Affekt mit dem Verstand davonrennt. Opfer seiner Unbeherrschtheit, wird er so zum schrecklichen Täter.“[32] Der Mord höhlt die stets hoch gehaltene Tugend aus, er ist Beweis für sein gebrochenes Wesen.

Für den Entwurf Odoardos als gemischten Charakter spricht außerdem die Datierung der Stücke aus der Hamburgischen Dramaturgie. Lessing äußert sich zur Figurendebatte zu Beginn des Jahres 1768 – also kurz nach der Publikation von Minna von Barnhelm und zur Zeit der Hochaufklärung mit ihrem Interesse an der Psychologie des Menschen. Seine theoretischen Überlegungen zum Dramencharakter konnte er also in die 1772 veröffentlichte Emilia Galotti einfließen lassen.

Nicht zuletzt handelt es sich bei Emilia Galotti um ein Trauerspiel, und nicht um eine Komödie. Ein stereotyper Typus, dessen Absicht es sein soll, Komik zu erzeugen, ist hier also fehl am Platz. Die Genrebezeichnung „Trauerspiel“ lässt also vermuten, dass die Figuren (tragische) Charaktere sind und keine komischen Typen. Wie jedoch bereits erwähnt wurde, bringt erst die Literatur des Sturm und Drang die Möglichkeiten der Charakterzeichnung zur vollen Blüte. Die Figur des Odoardo Galotti hätte also durchaus konsequenter und eindeutiger als Charakter entworfen sein können.

4. Odoardo Galotti – ein guter Vater?

Tatsächlich markieren die beiden nachgezeichneten Extreme von Odoardos Charakter – Tugendversessenheit versus Zorn – die zentralen Ansätze in den Studien über Odoardo Galotti. Wie Wolfgang Albrecht erklärt, tendierte die ältere Lessing-Forschung zu einer Aufwertung des alten Galotti.[33] Sein bürgerliches Selbstbewusstsein in Verbindung mit seinen tugendhaften Idealen brachte ihm viel Sympathie ein. Inzwischen haben sich die Deutungen so verkehrt, dass „allzu kritische Abwertungen“[34] überwiegen. Im Mittelpunkt der Forschung stehen nun Probleme der Vaterschaft bzw. die damit verbundenen familiären Spannungen.

An eben diesem Punkt setzt das folgende Kapitel an, das sich den verschiedenen Dimensionen von Odoardos problematischer Vaterschaft zuwendet. Es soll auf Odoardo Galottis Verhältnis zu seiner Tochter und zu seiner Frau eingegangen werden, um anschließend wieder auf den ambivalenten Charakter Odoardos zwischen Tugend und Jähzorn zurückzukommen.

4.1 Kulturgeschichte der Vaterschaft

Um das Problem der Vaterschaft verstehen zu können, soll jedoch vorerst ein Exkurs in die Geschichte der Vaterschaft unternommen werden, und zwar von ihren Anfängen bis zur Zeit der Aufklärung. Als Grundlage dient hierzu vor allem der Aufsatz Zur Kulturgeschichte der Vaterschaft[35] von Dieter Lenzen.

Interessanterweise wissen die Menschen erst seit dem frühen 2. Jahrtausend vor Christus, dass es überhaupt einen biologischen Vater gibt.[36] Davor herrschte weitgehende Unkenntnis über den Zusammenhang von Zeugungsakt und Niederkunft, wahrscheinlich aufgrund des großen zeitlichen Abstands zwischen beiden Ereignissen. Einer der wichtigsten Geburtsorte der kulturellen Vaterkonzeption ist Israel. Mit der Entstehung des jüdischen, monotheistischen Glaubens geht die Vorstellung von Jahwe als dem einen Vater einher, „diese Struktur wird nämlich später auf die Vater-Kind-Beziehung projiziert“[37]. So wie Gott sein Volk liebt und führt, erzieht und liebt auch der Vater sein Kind, wobei sich das Vaterhaus zur zentralen Kultstätte entwickelt.

Doch bereits bei den Griechen sieht Dieter Lenzen erste Anzeichen der Demontage der Vaterfigur. In Sparta wird das Kind i.e. der Sohn als Objekt zweier Väter gedacht – eines leiblichen und eines Liebhabers, so dass sich die Erziehung auf Dritte überträgt.[38] Im Verlauf der Jahrhunderte wird diese Demontage fortgesetzt, etwa indem Maria als Mutter Gottes an Bedeutung[39] gewinnt oder der Hauslehrer die Erziehungsfunktion des Vaters übernimmt.[40]

In der Aufklärung gewinnt die Ehefrau so weit an Einfluss, dass ihr die Erziehungsaufgaben „definitiv“[41] übertragen werden. Von ihr lernen die Kinder „Ordnung, Reinlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Harmoniebreitschaft, Zärtlichkeit“[42], sie übernimmt also die Vorbildfunktion ihres Mannes.

Doch auch das Bild des Vaters verschiebt sich. Regierte der sogenannte Hausvater noch bis ins 18. Jahrhundert hinein die Familie, veränderte sich diese männliche Herrschaft im Zuge der Empfindsamkeit. Brachte man dem Vater bisher vor allem Furcht, Vertrauen und Dankbarkeit entgegen, so setzt nun eine Emotionalisierung der Familie ein.[43] Die Furcht wird zur Liebe, die auf beiden Seiten erwidert wird.[44] Begleitet wird dieser Wandel durch ökonomische Veränderungen, denn das geschäftige Bauernhaus, die „Lebens- und Arbeitsgemeinschaft aus Eltern, Kindern und Gesinde, Verwandten und Mitarbeitern“[45], wird aufgelöst. Haus und Betrieb werden voneinander getrennt, es entsteht die bürgerliche Kleinfamilie im eigentlichen Sinne und mit ihr ein abgeschlossener Privatbereich, den es so vorher nicht gab.[46]

Wie gewaltig die familiären Umbrüche für den Vater zur Zeit der Aufklärung gewesen sein müssen, davon zeugt vor allem die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema. Müsste man ein Epochenthema bestimmen, so wäre dies das Thema der Vaterschaft.[47]

[...]


[1] Theurich, Werner: Macht ist mächtiger als Hirn. „Emilia Galotti“ im Thalia Theater. in: Der Spiegel, 21.9.2003. Zitiert nach http://www.spiegel.de/kultur/literatur/a-266592.html.

[2] Vgl. Fick, Monika: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u.a. 2010, S.389.

[3] „Emilia selbst redet nicht von einer Liebe zu dem Prinzen, die eine Neigung zur Person mit einschlösse, sie redet von ihren Sinnen und ihrem Blut, d.h. von ihrem sexuellen Begehren.“ ebd., S.389.

[4] Im 5. Jahrhundert v. Christus tötet der Römer Verginius seine Tochter Virginia, um der Willkürherrschaft der Decemvirn, allen voran den Verbrechen Appius Claudius', ein Ende zu bereiten. Das dominierende Mordmotiv ist die Wiedererlangung der Freiheit, weniger die Rettung der Keuschheit der Tochter. Ihr persönliches Schicksal ist dem staatlichen untergeordnet. Der Machtverlust der Decemvirn markiert den Beginn der Römischen Republik. Der Stoff ist also vorwiegend politischer Natur. Vgl. ebd., S.380.

[5] An seinen Bruder Karl schreibt Lessing im März 1772, dass Emilia Galotti „weiter nichts als eine modernisierte, von allem Staatsinteresse befreite Virginia sein soll“. Lessing, Gotthold Ephraim zitiert nach Fick 2010, S.378.

[6] Vgl. ebd., S.380.

[7] Ebd.

[8] Vgl. ebd.

[9] Vgl. zu den verschiedenen Forschungsansätzen ebd., S.381-395.

[10] Albrecht, Wolfgang: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart u.a. 1997, S.79.

[11] Vgl. ebd., S.80.

[12] Vgl. Fick 2010, S.378.

[13] Saße, Günter: Typenkomödie. in: Müller, Jan-Dirk (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band III. Berlin u.a. 2003, S.700-702, hier S.700.

[14] Vgl. ebd., hier S.701.

[15] Vgl. ebd., hier S.700.

[16] Vgl. Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart u.a. 2009, S.88.

[17] Vgl. Saße 2003, hier S.701.

[18] Vgl. ebd.

[19] Ebd.

[20] Bernhard Asmuth weist darauf hin, dass im 18. Jahrhundert anfangs auch die typenhafte Figur als Charakter bezeichnet wurde. Heute dagegen kann der Begriff „Charakter“ durchaus Typisches und Individuelles verkörpern. Eine genaue, kontextgebundene Verwendung des Terminus' ist also notwendig. Vgl. Asmuth, Bernhard: Charakter. in: Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band I. Berlin u.a. 1997, S.297-299, hier S.297.

[21] Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. in: Balser, Karl (Hg.).: Lessings Werke in fünf Bänden. Band IV. Berlin u.a. 1982, S.402.

[22] Ebd., S.413.

[23] Ebd.

[24] Vgl. ebd., S.415.

[25] Ebd.

[26] Asmuth führt einige Beispiele für diesen neuen gemischten Charakter an, etwa edle Räuber oder unverdorbene, gefallene Mädchen. Vgl. Asmuth 2009, S.95f.

[27] Vgl. zum Kontext der zeitgenössischen Psychologie Fick 2010, S.396.

[28] Vgl. ebd., S.398.

[29] Asmuth 1997, hier S.299.

[30] Hier und im Folgenden zitiert nach Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart 2001.

[31] Vgl. dazu Odoardos ersten von insgesamt drei Monologen (V/2).

[32] Pikulik, Lothar: »Sonst ist alles besser an Euch, als an Uns«. Über Odoardos Lobrede auf die Frau in Emilia Galotti. in: Friedrich, Hans-Edwin u.a. (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S.303-322, hier S.312.

[33] Vgl. Albrecht 1997, S.80.

[34] Ebd.

[35] So interessant und aufschlussreich Lenzens Aufsatz ist, so tendenziös und reaktionär ist er, etwa indem er zu dementieren scheint, dass es je ein Patriarchat gegeben habe. Später behauptet er, wäre der Vater über Jahrhunderte hinweg nicht systematisch in seiner Bedeutung geschwächt und generell irritiert worden, hätte es auch den „Blutzoll“ des 20. Jahrhunderts nicht gegeben. Heute seien die Väter sogar „tendenziell selbst um ihre Zeugungsfunktion gebracht[en]“. Vgl. Lenzen, Dieter: Zur Kulturgeschichte der Vaterschaft. in: Erhart, Walter/Herrmann, Britta (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart u.a. 1997, 87-113, hier S.101 und 110.

[36] Vgl. ebd., hier S.89.

[37] Ebd., hier S.95.

[38] Vgl. ebd., hier S.98.

[39] Vgl. ebd., hier S.101 und 103.

[40] Zusammenfassend führt Lenzen Prozesse der Maternalisierung bzw. Feminisierung, der Institutionalisierung, Hypostatisierung, Virilisierung und der Infantilisierung an, welche die Vaterkonzeption bis heute komplett verändert haben. Vgl. ebd., hier S.104.

[41] Ebd., hier S.106.

[42] Ebd., hier S.107.

[43] Vgl. Hempel, Brita: Sara, Emilia, Luise: drei tugendhafte Töchter. Das empfindsame Patriarchat im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller. Heidelberg 2006, S.21f.

[44] „Die alte Vorstellung des pater familias konkurriert mit dem neuen ›empfindsamen‹ Ideal des ›Seelenfreundes‹“. Vgl. Erhart; Walter/Herrmann, Britta: Der erforschte Mann? in: dies. (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart u.a. 1997, S.3-31, hier S.21.

[45] Hempel 2006, S.21.

[46] Vgl. ebd., S.21f.

Judith Frömmer weist daraufhin, dass der Wandel vom gemeinsam wirtschaftenden Haushalt zur affektiven Kleinfamilie zwar in der Aufklärung beginnt, das breite Volk aber erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts erreicht. Vgl. Frömmer, Judith: Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung. Paderborn 2008, S.41.

[47] Vgl. Wilms, Winfried: Im Griff des Politischen – Konfliktfähigkeit und Vaterwerdung in Emilia Galotti. in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Heft 1/2002. Stuttgart 2002, S.50-73, hier S.60f.

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Title
Odoardo Galotti. Dimensionen einer Dramenfigur
Subtitle
Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti" in der Analyse
College
University of Vienna  (Institut für Germanistik)
Course
SE Gotthold Ephraim Lessing
Grade
1,0
Author
Year
2013
Pages
35
Catalog Number
V344787
ISBN (eBook)
9783668344853
ISBN (Book)
9783668344860
File size
765 KB
Language
German
Keywords
Germanistik Drama Galotti Odoardo Figur Analyse Lessing Emilia
Quote paper
Michael Thiele (Author), 2013, Odoardo Galotti. Dimensionen einer Dramenfigur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/344787

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