Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Ziel dieser Arbeit
1.2. Ursprung der Bezeichnung beur
1.3. Beginn der maghrebinischen Immigration nach Frankreich
2. Hauptteil
2.1. Wohnverhältnisse der Familien.
2.2. Schullaufbahn der beurs
2.3. Schule - Auslöser eines Generationskonflikts
2.4. Leben zwischen Schule und Straße - Entstehung einer multikulturellen Subkultur
2.5. Ausprägung des Islams
2.6. Mouvement beur - Schaffung einer neuen beur -Identität
2.7. Maghrebinische Schriftsteller auf der Suche nach ihrer Identität
3. Fazit
4. Bibliographie.
1. Einleitung
1.1. Ziel dieser Arbeit
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts immigrierten maghrebinische Einwanderer aus Algerien, Marokko und Tunesien nach Frankreich. Auf der Suche nach Arbeit ließen sie sich im neuen Land nieder und machen mittlerweile einen Großteil der Immigranten in Frankreich aus. Sie entwickelten eine eigene Kultur, die culture beur, welche sich als Genre in der Literatur, auf der Bühne und im Film etabliert hat.
Die erste Generation der Immigranten verließ ihr Heimatland auf Grund von wirtschaftlichen oder politischen Faktoren. Die zweite, in Frankreich geborene Generation, begann Anfang der 80er Jahre, angetrieben von einer ständigen Suche nach ihrer Identität, sich mit der eigenen und der französischen Kultur auseinander zu setzen. Aus diesem Konflikt heraus entstand die Bewegung der beur1. Nicht selten führte diese Suche damals, und noch heute, zu Gefühlen wie Anziehung und Abneigung. Zum einen kommt es zur Abneigung gegenüber den traditionellen Werten der Familie, aber auch gegenüber den westlichen Werten. Zum anderen fühlen sie sich in der vertrauten maghrebinischen Kultur geborgen, sehen aber auch in der französischen Kultur ihre Vorteile.
Es kann auch zur totalen Entfremdung vom eigenen Elternhaus führen. Frankreich, als Symbol der Freiheit, Gleichheit und Modernität steht den traditionellen Werten der maghrebinischen Kultur gegenüber. Doch wie gehen die beurs mit der Situation um? So beschreibt sich Madjid, der jugendliche Protagonist in dem Roman ‘Le thé au harem d’Archi Ahmed’, verfasst von dem in Frankreich lebenden algerischen Autor Mehdi Charef, mit folgenden Worten:
„…ni arabe ni français (...), fils d’immigrés, paumé entre deux cultures, deux histoires, deux langues, deux couleurs de peau, ni blanc ni noir, à s’inventer ses propres racines.“2
Die folgende Arbeit befasst sich mit der Fragestellung einer sog. beur -Identität. Dazu gehört die Analyse der culture beur, in der die Immigrationsgeschichte geklärt wird und die Auseinandersetzung mit der sozialen Situation, die von der Integration, der Rolle der Schule, die Stellung des Islams bis hin zu den politischen Aktivitäten der beurs reicht.
Diese Arbeit ist weder darauf ausgelegt eine Lösung des Problems zu geben, noch soll über eventuelle Perspektiven spekuliert werden. Sie soll lediglich zeigen, wie sich die Entwicklung der Identitätsfindung der maghrebinischen Einwanderer in Frankreich vollzog und welchen Einfluss die neue Umgebung auf sie hatte.
1.2. Ursprung der Bezeichnung beur
Die Bezeichnung beur wird für die in Frankreich lebenden maghrebinischen Immigranten verwendet. Jedoch meint man damit nicht die erste Generation, sondern die zweite und dritte. Der Ausdruck entstammt dem Pariser banlieue, jene Vorstadtviertel in denen die Immigranten und Franzosen der unteren sozialen Schicht leben. Dort entstand er in der verwendeten Jugendsprache verlan3, und bildete sich aus der Wortverdrehung von arabe. Ursprünglich wurde beur als Schimpfwort gebraucht, doch verwendeten ihn auch einige maghrebinische Jugendliche als Bezeichnung ihrer Clique. Als sich sogar ein Radiosender radio beur nannte, etablierte sich der Ausdruck in der französischen Gesellschaft.
1.3. Beginn der maghrebinischen Immigration nach Frankreich
Im Jahr 1871 kam es in der französisch besetzten Kabylei, einer Region in Algerien, zu einem Aufstand, welcher sich gegen die Siedlungspolitik Frankreichs richtete. Viele der dort ansässigen Männer versuchten dieser Misere zu entkommen und wanderten in Frankreich ein.
Die erste große Abwanderung von Algerien nach Frankreich begann 1904 und hielt bis 1907 an. Die zweite Immigrationswelle fand während des ersten Weltkrieges statt, denn in der französischen Rüstungsindustrie bestand ein großer Bedarf an Arbeitskräften, was die Franzosen dazu veranlasste Gastarbeiter ins Land zu holen. Schon zur damaligen Zeit gab es kaum Bemühungen die Einwanderer in die französische Gesellschaft zu integrieren, denn man spekulierte darauf, dass diese in ihr Heimatland zurückkehren würden. Um eine zu große Zahl der einwandernden Immigranten zu beschränken, führte man Einwanderungsquoten ein.
Jedoch kamen nach dem Ersten Weltkrieg weitere Algerier nach Frankreich, denn die Löhne waren dort unvergleichbar höher als in ihrem Heimatland.
Während der Weltwirtschaftskrise von 1929 waren es dann jedoch die vorher so dringend gebrauchten ausländischen Arbeitskräfte, die keine Arbeit mehr fanden. Mit der Aufhebung der zuvor eingeführten Einwanderungsquoten kamen trotz der sozialen Unsicherheit immer mehr Algerier nach Frankreich, jedoch waren es nach wie vor nur Männer. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg folgten die Familien der Arbeiter.
Für die wachsende Immigration nach 1945 gab es mehrere Gründe. Auf Grund der Kriegsverluste bestand wieder ein hoher Bedarf an Arbeitskräften. Des Weiteren galten die Algerier bis zum Ende des Algerienkrieges, in dem sie von 1954 bis 1962 um ihre Unabhängigkeit von Frankreich kämpften, als französische Staatsbürger, was ihnen die Möglichkeit nach Frankreich einzuwandern, noch erleichterte. Aus dieser Entwicklung heraus lässt sich erkennen, dass Frankreich auf der Suche nach Arbeitskräften seine Grenzen für Immigranten öffnete, aber immer mit dem Glauben daran, dass diese als Gastarbeiter wieder in ihr Land zurückkehren würden. Nach Ende des französisch-algerischen Krieges verloren die Algerier ihre Freizügigkeit4 und erhielten erneute Einwandererquoten.
Neben diesen sog. Wirtschaftsimmigranten, die auf Grund ihrer ärmlichen Lebensumstände aus ihrem Heimatland nach Frankreich kamen, gab es noch eine andere Gruppe von Immigranten, die als die harkis5 oder auch Fran ç ais musulmans6 bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich um Algerier, die während des französisch-algerischen Krieges im Dienst der französischen Kolonialmacht standen und die auf Grund dessen mit Ende des Krieges Algerien zwangsweise mit ihren Familien verlassen mussten. Es waren insgesamt 60.000 Personen die 1962 nach Frankreich kamen.
Die Immigration aus Marokko und Tunesien nach Frankreich vollzog sich unter völlig anderen Voraussetzungen. 1963 schloss Frankreich mit beiden Ländern einen Anwerbervertrag von Arbeitskräften, was dazu führte, dass die Zahl der Einwanderer aus diesen Ländern in die Höhe schoss. Nachdem 1974 Frankreich einen allgemeinen Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer erlassen hatte, wurde die Immigration auf Familienzusammenführung reduziert. Auf diese Weise kamen nur noch maghrebinische Frauen und Kinder, oder Männer, die bereits in Frankreich ansässige Frauen heiraten wollten, nach Frankreich. Dies führte zur Entwicklung eines regelrechten Heiratsmarktes,7 denn viele versuchten diese letzte Möglichkeit für sich zu nutzen. Gleichzeitig nahm auch die illegale Einwanderung beträchtlich zu. Trotz dessen, dass Frankreich versuchte die Zahlen zu senken, wurden erst ab 1980 weniger Immigrationszahlen verzeichnet.
2. Hauptteil
2.1. Wohnverhältnisse der Familien
In den 50er und 60er Jahren hatten viele Immigranten auf Grund von schlecht bezahlter Arbeit, keine andere Möglichkeit, als in den am Stadtrand gelegenen Wohnghettos zu leben. Diese Viertel hatten meist „[...]neither mains of gas nor electricity, tarmaced roads nor a proper sewerage system [...].“8 Staatliche Initiativen zur Verbesserung der Wohnsitutation dieser Slums führten zu cit é s de transit,9, jenen Wohnvierteln, welche als Übergangslösung dienen sollten, bis der Staat bessere erbaut hätte. Doch auch in diesen cit é s de transit stieg die Qualität der Wohnverhältnisse nicht. Zu Beginn der 70er Jahre wurden in vielen großen Städten Frankreichs weitere Wohnblocks errichtet, um den großen Bedarf an billigen Wohnungen zu decken. In ihnen brachte man Algerier, aber auch verstärkt Marokkaner, Tunesier, Südafrikaner und Franzosen der Arbeiterklasse unter. So entstanden multikulturelle Viertel am Stadtrand. Doch kamen die Wohnviertel, die sog. banlieue, in Verruf und viele Bewohner versuchten außerhalb derer Wohnungen zu finden. Am ehesten schafften dies die europäischen Immigranten. Die Statistiken von 1990 besagen, dass ca. 67 %10 der Bewohner der banlieue aus Nord- und Schwarzafrika stammten und in den sog. quartiers prioritaires11 waren es ca. 81%.12
Großer sozialer und kultureller Notstand gehörte zum täglichen Leben in den banlieues. So beschreibt der Autor Klaus Manfrass die Situation in den banlieues mit den Worten:
„Es haben sich inzwischen sowohl unter sozialen wie auch unter kulturellen Gesichtspunkten [...] wahre Ghettos herausgebildet, deren Hauptmerkmale die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit [...] sind. Begleiterscheinungen sind Klein- und Gewaltkriminalität, Vandalismus von Jugendbanden, Gewalt an den Schulen, Drogenproblematik, zeitweise offene Aufruhr.“13
Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre kam es vermehrt zu Jugendkrawallen. Mit Förderungsprogrammen wollte man zunächst den Problemen der banlieues begegnen, um die Lebensqualität in den Vorstädten zu verbessern. 1990 wurde das Minist è re de la ville14 gegründet, das zunächst mit der Renovierung der Häuser begann.15 Jedoch lässt sich bis heute eine prekäre Wohnsituation in den Stadtvierteln verzeichnen.
„Aktuell zählt man 752 solcher städtischen Problemgebiete, die als so genannte „Zones Urbaines Sensibles (ZUS) vom Zentralstaat in den Städten und Gemeinden Frankreich ausgewiesen werden. Diese städtischen Sonderzonen werden definiert durch das Vorhandensein von „Grands Ensembles“ bzw. stark sanierungsbedürftiger Wohnquartiere und einem „erheblichen Ungleichgewicht von Wohnen und Arbeiten in diesen Quartieren“. Die durchschnittliche Größe dieser „ sensiblen Stadtzonen“ liegt bei etwas über 6000 Bewohnern.“16
Die quartiers prioritaires und banlieues waren in den 90er Jahren und auch heute noch, bekannt für ihre Auseinandersetzungen von Jugendbanden untereinander oder gemeinsamen Kämpfen gegen die Polizei. Die Jugendbanden wiesen meist eine multikulturelle Zusammensetzung auf und stellten den Zusammenschluss derer dar, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten. Damit wurden diese Stadtviertel zum Synonym für soziale Ausgrenzung. Trotz der Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse in den letzten 20 Jahren kämpfen viele Familien noch immer mit der sozialen Ausgrenzung und nur wenige von ihnen erreichen einen sozialen Aufstieg.
[...]
1 Erklärung des Begriffs unter 1.2.
2 Charef, M. (1983): Le th é au harem d ’ Archi Ahmed. Paris: Folio, S. 17.
3 Verlan ist eine in der französischen Jugendkultur verbreitete Sprache, in der die Silben umgekehrt werden.
4 Als Freizügigkeit bezeichnete man das den Algeriern zugesprochene Recht, während der französischen Besatzung, zw. Frankreich und Algerien uneingeschränkt hin und her reisen zu können.
5 Hargreaves, A. and Heffernan, M. (1993): French and Algerian Identities from Colonial Times to the Present, a Century of Interaction. New York: Edwin Mellen Press, S.190.
6 Ebenda S. 190.
7 Tribalat, M. (1995): Faire France. Une enqu ê te sur les immigr é s et leurs enfants. Paris: La Découverte, S. 3.
8 Hargreaves, A. (1991): Voices from the North African Immigrant Community in France, Immigration and Identity in Beur Fiction. New York/ Oxford: Berg, S. 15.
9 Ebenda S. 15.
10 L’Hardy, P. / Guével, C. (1994): Les é trangers en France. Paris: INSEE, S.105.
11 Bezeichnung für die Viertel, die auf Grund ihres großen Anteils an rebellischen Jugendlichen als gefährlich galten.
12 L’Hardy, P. / Guével, C. (1994): Les é trangers en France. Paris: INSEE, S.105.
13 Manfrass, K. (1997): Migration aus den Maghrebländern nach Frankreich. In: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich-Jahrbuch 1997. Opladen: Leske + Budrich, S. 143.
14 Ministerium für Stadtentwicklung
15 Menanteau, J. (1994): Les Banlieue. Paris: Le Monde-Editions, S.161.
16 Hofman, A. (2005): Stadtpolitik in Frankreich vor Herausforderungen in einer neuen Dimension.