„Grau, teuerer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.“
(Johann Wolfgang Goethe, Faust I)
„Betrachtet die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte.“
Mit diesem in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (im folgenden HL genannt) entworfenen Gleichnis, illustriert Friedrich Nietzsche auf pointierte Weise die Sehnsucht des in seiner Geschichtlichkeit verwobenen Menschen, heimlich nach dem Glück der ahistorischen Tiere zu streben, die, „an den Pflock des Augenblicks“ gebunden, weder in der Lage sind, Vergangenheit zu erinnern noch Zukunft zu entwerfen. Um ersteres geht es freilich Nietzsche, wenn er seine Auffassung dessen, was das menschliche Glück eigentlich ausmacht, zum Ausdruck bringt, indem er das „Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden“ als das menschliche Glück schlechthin ausweist und es somit mit dem des Tieres identifiziert. Damit ist schon indirekt das Thema dieser wohl berühmtesten seiner insgesamt vier kulturkritischen Schriften angerissen: Nietzsche beklagt in einer für ihn typischen bilderwütigen Rede die übermäßige (wissenschaftliche) Beschäftigung mit der Historie, die nicht nur das Glück des Menschen gefährdet, sondern auch, so Nietzsches unmissverständliche These, dem Leben schadet.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung, Thesenformulierung, Methode
- 2. Warum ein Übermaß an Historie dem Leben schadet
- 2.1 Was ist „Leben“?
- 2.2 Hyperthropie der Historie
- 2.3 Die Plastische Kraft
- 3. Friedrich Nietzsches Trias der historischen Bildung
- 3.1 Die drei Arten Historie zu betrachten
- 3.2 Die kritisch-kritische Historie
- 3.2.1 Erster Schritt: Die historische Kontemplation
- 3.2.2 Zweiter Schritt: Die unhistorische Transformation
- 3.2.3 Dritter Schritt: Die überhistorische Produktion
- 4. Kurzes Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht Friedrich Nietzsches Kritik an der übermäßigen Beschäftigung mit der Historie im Kontext der historischen Bildung. Ziel ist es, Nietzsches Modell der historischen Bildung zu rekonstruieren und zu analysieren, um dessen Relevanz für die heutige Bildungspraxis zu beleuchten.
- Die Gefahren einer übermäßigen Historisierung für das menschliche Leben
- Nietzsches Trias der historischen Bildung
- Die Bedeutung des „Vergessenkönnens“ für die menschliche Kreativität
- Die Rolle der ästhetischen Produktion im historischen Bildungsprozess
- Die Kritik an der „historischen Bildung“ des 19. Jahrhunderts
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet die Gefahren einer übermäßigen Beschäftigung mit der Historie für das menschliche Leben. Es wird argumentiert, dass eine Überdosis an Geschichte das Individuum daran hindert, im Hier und Jetzt zu leben und seine eigene Kreativität zu entfalten. Das zweite Kapitel stellt Nietzsches Trias der historischen Bildung vor, die aus der kritisch-kritischen Historie besteht. Diese wird in drei Schritte unterteilt: die historische Kontemplation, die unhistorische Transformation und die überhistorische Produktion. Die Bedeutung des „Vergessenkönnens“ für die menschliche Kreativität wird im dritten Kapitel untersucht, welches die Rolle der ästhetischen Produktion im historischen Bildungsprozess beleuchtet. Schließlich wird im vierten Kapitel Nietzsches Kritik an der „historischen Bildung“ des 19. Jahrhunderts zusammengefasst und deren Auswirkungen auf die heutige Bildungspraxis beleuchtet.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den zentralen Begriffen und Themen der historischen Bildung, insbesondere im Hinblick auf Nietzsches Kritik an der Überdosis an Historie. Themen wie „Vergessenkönnen“, „Ästhetische Produktion“, „Historische Kontemplation“, „Unhistorische Transformation“, „Überhistorische Produktion“ und „Trias der historischen Bildung“ spielen eine zentrale Rolle.
- Citar trabajo
- Marcus Erben (Autor), 2004, "Zu allem Handeln gehört vergessen": Friedrich Nietzsche und das Problem der historischen Bildung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34510