Konfusion oder Verhandlungsstrategie?


Dossier / Travail, 2004

20 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einleitung
1. Die sowjetische Sicht auf die deutsche Einheit
2. Zusammenfassung der Sowjetischen Haltung zur Deutschen Frage unter Gorbatschow
3. Fragestellung und Gegenstand der Untersuchung

Hauptteil
4. Konfusion oder Verhandlungsstrategie?
4.1 Der Prozess der sowjetischen Positionsfindung
4.2 Schewardnadse und die Bündnisfrage
4.3 Die Gegner der Wiedervereinigung
4.4 Orientierungslosigkeit
4.4.1 Der Neutralitätsvorschlag
4.4.2 Französischer Status
4.4.3 Gesamteuropäisches Sicherheitssystem
4.4.4 Doppelmitgliedschaft
4.5 Die Wende in der Bündnisfrage

Schluss
5. Fazit

Einleitung

1. Die sowjetische Sicht auf die deutsche Einheit

„Schon 1986. Bereits zu jener Zeit äußerte ich im Gespräch mit einem unserer herausragenden Deutschland-Experten die Vermutung, dass dieses Problem demnächst aufkommen werde. Ich sagte damals, in der allernächsten Zukunft würde die deutsche Frage zum wichtigsten, für Europa ausschlaggebenden Problem aufrücken. Unter den Bedingungen einer seit nahezu einem Jahrhundert währenden Spaltung eines Volkes sei dies eine nationale Frage. Eine Frage der Einheit einer Nation, die durch die Mauern der Ideologie, der Waffen und des Stahlbetons nicht getrennt sein will.“[1]

Dieses Zitat macht Eduard Schewardnadse gegenüber Hans-Dietrich Genscher nach seinem Rücktritt als Außenminister der Sowjetunion.

Und die deutsche Frage ist zu einem politischen Weltereignis aufgerückt, das nun bereits 14 Jahre zurück liegt. Nicht nur in Europa, auch in den USA wurde es in der Öffentlichkeit mit großem Interesse verfolgt. In der Sowjetunion jedoch konzentrierte sich zu der Zeit ca. 80% der politischen Entscheidungen auf die Innenpolitik. Die deutsche Frage spielte eine untergeordnete Rolle, sie hatte für das oberste Parteigremium nicht annähernd jene Bedeutung, wie die baltische oder die Nationalitätenproblematik. Doch sie sollte auch für die Sowjetunion von herausragender Bedeutung werden, denn im Zuge der Wiedervereinigung nahm auch der Kalte Krieg sein Ende und der Warschauer Pakt verlor seine Bedeutung.

Um die Rolle der sowjetischen Führung entstand schnell der Mythos, dass Gorbatschow die deutsche Einheit bewusst herbeigeführt habe. Jedoch bestand über die konkreten Motive und Taten des sowjetischen Präsidenten oft keine Klarheit. Und wenn er die Einheit bewusst herbeigeführt hat, warum hat die sowjetische Führung mit ihren Positionen so lange herum laviert, und wie lassen sich diese Schwankungen erkläre?

Im Folgenden werde ich die Positionen der Sowjetischen Führung zur deutschen Frage zusammenfassen.

2. Zusammenfassung der sowjetischen Haltung zur deutschen Frage unter Gorbatschow.

- Von 1985 bis 1987 war die deutsche Frage kein Thema der sowjetischen Tagespolitik, sie wurde weiterhin als gelöst betrachtet.
- Im Juli 1987 anlässlich des Besuchs von Weizsäcker in Moskau, wurde die deutsche Frage thematisiert. Gorbatschow sagte gegenüber Weizsäcker, dass man derzeit von den gegebenen Realitäten ausgehen solle und dass es an der Geschichte liege zu entscheiden, welche Formen deutscher Staatlichkeit sich entwickelten. Gorbatschow fügte aber noch hinzu, dass er sich eine derartige Entwicklung erst in 100 Jahren vorstellen könne.[2]

Das Neue an Gorbatschows Aussage war, dass die Geschichte offen gelassen wurde und somit erstmals von der sowjetischen Theorie der endgültigen Zweistaatlichkeit Deutschlands abwich.

- Allerdings wurde in der Folgezeit 1988-89 am Status quo nicht gerüttelt, und die Sowjet-union ging zur Sicherung der Stabilität weiterhin von der Existenz zweier deutscher Staaten aus.
- Am 13. Juni 1989 erfolgte bei dem Staatsbesuch Gorbatschows in Bonn eine „Gemeinsame Erklärung“. Ein wesentlicher Punkt aus deutscher Sicht war die Erklärung: „Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden.“[3]

Weiter heißt es: “Jeder hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen.“[4] Diese Erklärung war ein deutliches Zeichen für die Abkehr der offiziellen sowjetischen Politik von der Breshnew-Doktrin. Für Deutschland bedeutete es, dass die Sowjetunion sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik oder der DDR einmischen würde und nicht versuchen würde, die DDR gewaltsam im sozialistischen Staatenbund zu halten.

Es bedeutete jedoch noch nicht, dass Gorbatschow die deutsche Wiedervereinigung gutgeheißen hat.

- Im Herbst 1989 wurde wiederholt betont, dass die Sowjetunion zur DDR halte und der Status quo aufrechterhalten bleibe. Im Dezember machte Gorbatschow gegenüber dem französischen Staatspräsidenten Mitterand deutlich, dass es zwei deutsche Staaten gebe und die „gegenwärtigen Entwicklungen“ nichts daran ändern.[5]

„Mehr als die Hälfte der DDR-Bürger möchten das derzeitige Aussehen ihres Landes beibehalten, die Strukturen verändern, die Demokratie vertiefen usw. Sie stellen sich die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD als die zwischen zwei souveränen Staaten vor.“[6]

- Als das 10-Punkte-Programm von Helmut Kohl veröffentlicht wurde, warf Gorbatschow ihm vor, damit in die Souveränität der DDR einzugreifen und somit einen Kurs zur Bildung einer Konföderation anzusteuern.
- Am 30.1. 1990 gibt Gorbatschow seine Einwilligung zur „Deutschen Einheit“, indem er anlässlich des Besuchs Modrows versichert, dass die „Vereinigung der Deutschen niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen werde.“[7]

Dies war jedoch noch keine direkte Zustimmung von Gorbatschow für eine Wiedervereinigung zum jetzigen Zeitpunkt. Denn er riet Modrow, auf den Abschluss eines Vertrages mit der BRD über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft hinzuarbeiten und somit zu konföderativen Strukturen zu kommen, die erst in ferner Zukunft zu einem einheitlichen Staat übergehen sollten. So eine Konföderation hatte er gerade an Kohls 10-Punkte-Programm kritisiert.

- Erst am 10.2.1990 beim Besuch Kohls in Moskau wurde deutlich, dass Gorbatschow einer Wiedervereinigung prinzipiell zustimmen würde.

Schon in seiner Eingangserklärung begann Gorbatschow mit einem Einlenken in die deutsche Frage. „Es gebe zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der DDR keine Meinungsverschiedenheit über die Einheit und über das Recht der Menschen, sie anzustreben. Sie müssen selbst wissen, welchen Weg sie gehen wollen.“[8]

Damit erhielten die Deutschen Entscheidungsfreiheit über die Art der Wiedervereinigung, dem Tempo und den inneren Bedingungen.

- Der Weg wurde somit frei für die Verhandlungen der äußeren Rahmenbedingungen.

Das zentrale Verhandlungsthema auf den 2+4 Verhandlungen war die zukünftige Bündniszugehörigkeit der DDR. Hierüber herrschte in der sowjetischen Führungsspitze jedoch keine Einigkeit, Anfang Februar 1990 lehnte die Sowjetunion eine NATO Zugehörigkeit ab und forderte eine Neutralität.

Aber bereits im selben Monat wurde die Neutralitätsforderung relativiert.

Der Einigungsprozess sollte zur Gestaltung blockübergreifender Sicherheitsstrukturen genutzt werden. Zur Eröffnung der 2+4 Verhandlungen machte die Sowjetunion den Vorschlag der Doppelmitgliedschaft in NATO und Warschauer Pakt. Auf der Zweiten 2+4 Tagung bestand die Sowjetunion nicht mehr auf eine Warschauer Pakt Zugehörigkeit der DDR, jedoch sollte ein militärischer Sonderstatus gelten, und auf der dritten Tagung im Juli bekundete Gorbatschow, dass Deutschland seine volle Souveränität erhalte und die Bündniszugehörigkeit frei wählen könne.

Damit war das größte Problem gelöst, und am 12.09.90 konnte die abschließende Regelung unterzeichnet werden.

3. Fragestellung und Gegenstand der Untersuchung

Diese Abfolge der Sowjetischen Positionen zur deutschen Frage möchte ich in drei Phasen einteilen.

1. 1985 bis zum Mauerfall: In dieser Phase hat sich die sowjetische Haltung gegenüber dem Zweistaatenkonzept nicht verändert.
2. Ab dem Mauerfall war auch in der Sowjetunion klar, dass die DDR nicht mehr zu halten war. Am 25. Januar 1990 hat es ein Treffen Gorbatschows mit einigen Ministern und Beratern gegeben. Ryschkow äußerte hier: „Man muss realistisch die Entwicklung sehen. Man kann diesen Prozess nicht mehr aufhalten. Das wichtigste ist jetzt die Taktik, weil wir die DDR nicht erhalten können. Alle Barrieren sind gefallen. Die Wirtschaft zerbricht sie. Alle staatlichen Institutionen sind zusammengebrochen. Die DDR erhalten ist eine unrealistische Sache.“[9] Jedoch über die geforderte Taktik konnte keine Einigung erzielt werden. Eine Äußerung Gorbatschows war: „Ich würde alles auf die Karte des Zeitgewinns setzen, das Wichtigste ist jetzt den Prozess zu verzögern, wie das am Ende auch aussehen wird.“[10] Doch wie lässt sich ein Zeitgewinn erzielen? Der einzige Trumpf, den die Sowjetunion noch hatte, waren die sowjetischen Truppen in der DDR und die Verknüpfung von Bedingungen für deren Abzug. Doch auch der geregelte Abzug wurde an diesem 25. Januar schon in Betracht gezogen. In einer Schlusszusammenfassung der nächsten Schritte, war neben den geplanten Gesprächen mit Modrow, Baker, Kohl, auch ein Auftrag an Achromejew erteilt worden, sich auf den Rückzug der Truppen aus Deutschland vorzubereiten. Es zeigt sich, dass die sowjetische Führung sich Ihrer Lage bewusst war, in der deutschen Frage keine großen Unterpfande mehr zu besitzen und das einzige, um sich aktiv in die Verhandlungen mit einzubringen, ein Spiel auf Zeit war, um eine eigene Position und Mitsprachemöglichkeiten zu erlangen. Diese enge Verbindung von Konfusion oder Verhandlungsstrategie setzt sich in der dritten Phase noch deutlicher fort.

Die 3. Phase beginnt ab dem 10.02.1990, als Gorbatschow die DDR offiziell frei gab, indem er gegenüber Kohl erklärte, dass die Deutschen die Wahl selber treffen müssen.

Ab dieser Phase begannen die konkreten Verhandlungen über die deutsche Einheit wobei den Westmächten die Sowjetische Position oftmals nicht ganz deutlich wurde. Es wechselte von ausgeschlossener NATO Zugehörigkeit, Neutralität, NATO und Warschauer-Pakt auf einem Staatsgebiet, bis zur letztendlichen Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. In dieser Phase wirft sich die Frage auf, ob es sich bei den wechselnden Positionen der Sowjetischen Führung um eine Folge von Konfusion, also eine fehlende Einigung über die eigene Position, oder um eine Verhandlungsstrategie handelte, mit der Absicht den Prozess abzubremsen oder Zugeständnisse von den Verhandlungspartnern zu erzielen.

Im Folgenden werde ich versuchen dieses Nebeneinander von ablehnenden u. prinzipiell zustimmenden Äußerungen der sowjetischen Führung zur deutschen Einheit zu erklären.

Ich werde mich mit meiner Fragestellung nur auf diese 3. Phase konzentrieren, den Zeitraum vor und während der „2+4 Verhandlungen“.

Hauptteil

4. Konfusion oder Verhandlungsstrategie?

4.1 Der Prozess der sowjetischen Positionsfindung.

Ein deutliches Zeichen für die Konfusion der sowjetischen Führung war die Rede Schewardnadses vor dem Politischen Ausschuss des Europäischen Parlaments am 19. Dezember 1989. Er wollte mit der Rede die Wiedervereinigung als Möglichkeit zulassen, aber gleichzeitig die herausragenden Probleme der europäischen Stabilität, des Warschauer Paktes und der sowjetischen Sicherheitsinteressen aufzeigen.

Die Rede war als eine Reihe offener Fragen konzipiert, auf die Schewardnadse aber keine Antwort geben konnte. Diese Fragen betrafen den Frieden in Europa, die Grenzfrage, den Platz Deutschlands in den bestehenden militärisch-politischen Strukturen, die Präsenz alliierter Truppen auf deutschem Boden usw.

Nach Aussage von Condoleezza Rice hatte diese Rede in den USA nicht die Wirkung, die Schewardnadse sich erhofft hatte. „ … Schewardnadse dachte, dass er einen Durchbruch signalisiert hätte und sie bereit wären, die Wiedervereinigung irgendwie zu akzeptieren. Diese Rede verwirrte uns jedoch ein wenig, denn sie schien eine Reihe von Fragen aufzuwerfen, auf die sie allerdings keine Antwort gab. Das bekräftigte die Tatsache, dass dies ein Dilemma für die Politik der Sowjetunion war. Wir wussten mit der Rede einfach nichts anzufangen. Und trotzdem dachten sie, sie hätten ein wichtiges Signal ihrer Kooperationsbereitschaft gegeben.“[11]

Diese Fragen aus der besagten Rede wurden im Frühjahr 1990 wieder aktuell, als die Sowjetunion sich gezwungen sah, ihre Position zur nun nicht mehr abzuwendenden Wiedervereinigung zu finden. Denn diese Fragen zeigten die wesentlichen außenpolitischen Problembereiche.

Nie wieder Krieg von deutschem Boden!

Dieses war die erste und eine den gesamten Prozess umspannende Forderung. Der Hintergrund war natürlich das Andenken an die Opfer des letzten großen Vaterländischen Krieges. „Dahinter stehen 26 Millionen Tote, zigtausend zerstörte Städte und Dörfer. Wir erinnern uns immer wieder daran, dass es bei uns keine Familie gibt, in der es keine Kriegsopfer gegeben hat.“[12]

Doch in dieser Frage konnte Kohl Gorbatschow bei Ihrem Treffen im Februar beruhigen, indem er versicherte „Von deutschem Boden darf nur Frieden ausgehen.“[13]

Eine weitere fundamentale Frage für die Sowjetunion war die Oder-Neiße Grenze zu Polen.

Doch in dieser Frage wurde schnell klar, dass die Sowjetunion nicht alleine stand. Bei einer Infragestellung der Potsdamer Beschlüsse würden alle Siegermächte ein Veto gegen die Wiedervereinigung einlegen. Es war auch eine Forderung der Franzosen, dass diese Frage früh abgeschlossen wurde. „Präsident Mitterrand äußerte am 8. März 1990 in Paris: „Es kommt den Deutschen und den Polen zu, über die Grenzfrage zu sprechen; es kommt den Vier zu, ihre Ansichten dazu zu sagen und diesen internationalen Rechtsakt zu garantieren. Diese Debatte muß vor der Vereinigung abgeschlossen sein.“[14]

Als schwierigste Frage gestaltete sich die künftige Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands. Seit 1945 hatte die Sowjetunion sich strikt an den Viermächterechten orientiert. Doch es war durchaus umstritten, ob bei einer Wiedervereinigung die Siegermächte überhaupt ein Recht auf Mitbestimmung in Fragen der zukünftigen Bündniszugehörigkeit hatten. In der KSZE-Schlussakte wird jedem Signatarstaat, also auch der DDR, das Recht eingestanden: „ … Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein“.[15]

Außerdem hatte Gorbatschow seinen Verbündeten seit Jahren die „Freiheit der Wahl“ zugesichert und nie ausgeschlossen, dass es sich hierbei auch auf die Außenpolitik bezog.

Warum die Sowjetunion auf ein starkes Vorbehaltsrecht in dieser Frage bestand, lag in der Angst begründet, an den Rand Europas abgedrängt zu werden. Wenn die DDR als bisheriger Hauptverbündeter zur NATO überwechseln würde, bedeutete dies eine entscheidende Kräfteverschiebung in Europa, die zu einer beschleunigten Auflösung des Warschauer Vertrages führen würde. Außerdem war es die einzige Frage, die man mit dem letzten Trumpf, den stationierten Truppen auf DDR Gebiet, verknüpfen konnte. Die Sowjetunion brauchte diesen Streitpunkt um Stärke zu demonstrieren und im eigenen Land nicht das Gesicht zu verlieren. Der Sowjetunion in der Bündnisfrage kein Mitspracherecht zu geben, hätte den deutschen Einigungsprozess enorm belastet.

An der Frage der künftigen Bündniszugehörigkeit lassen sich die unterschiedlichen Positionen innerhalb der sowjetischen Führung verdeutlichen.

4.2 Schewardnadse und die Bündnisfrage

Schewardnadse war in seinen Äußerungen zur Bündnisfrage am flexibelsten, sie wirkten unverbindlicher und konsensorientierter als von anderen sowjetischen Führungsmitgliedern.

Wie seine Mitarbeiter berichten, orientierte er sich stets daran, was in Verhandlungen durchsetzbar war und was nicht. Er wollte Sackgassenpositionen vermeiden.[16]

Schewardnadses persönlicher Standpunkt hatte sich also enorm schnell gewandelt und weiterentwickelt. Auf der Politbürositzung am 3. Mai 1990 hatte er einen Vertragsentwurf für das erste 2+4 Treffen vorgelegt, mit dem er sich in der Bündnisfrage konzessionsbereit zeigte, um rasche Entscheidungen herbeizuführen. Er stieß jedoch auf heftigen Widerstand und Ablehnung seines Vertragsentwurfes. Tschernjajew äußert auf die Frage, ob Schewardnadse schon im Mai mit einer deutschen NATO-Mitgliedschaft einverstanden gewesen sei: „ Sogar im April war er damit einverstanden, als er sein entsprechendes Papier abgefasst hat.“[17]

Schewardnadse schreibt in seinem Buch „Die Zukunft gehört der Freiheit“: „Im großen und ganzen war von Anfang an klar, dass die Vereinigung Deutschlands ein nicht allzu langfristiges Anliegen war. Und wir, die wir uns unserer Verantwortung bewusst waren, hatten natürlich nicht die Absicht dabei abseits zu stehen. Unser Ziel war im Grunde genommen ebenfalls klar: Die Sicherheitsgarantien für die UdSSR und ganz Europa in diesen Prozeß einzubinden.“[18]

Bei den Entscheidungen um die äußeren Aspekte der Deutschen Einheit wurden von der Sowjetunion immer wieder die Umstände im eigenen Land hervorgehoben, vor allem die Kriegserfahrungen und ein damit verbundenes Sicherheitsbedürfnis. „Das Brodeln der Emotionen in unserem Land wird zunehmen, in den Vordergrund werden die Gespenster der Vergangenheit rücken, und die nationalen Komplexe, die in den tragischen Kapiteln unserer Geschichte wurzeln, werden wieder aufleben …“[19]

Bei solchen Äußerungen verschwieg Schewardnadse, dass der Widerstand nicht vorrangig aus der Bevölkerung sondern aus der eigenen Partei kam.

Denn die Sorgen der sowjetischen Führung, hinsichtlich eines Widerstandes aus der Bevölkerung, können als übertrieben angesehen werden. Eine Umfrage im März 1990 ergab, dass sich 60 Prozent der Sowjetbürger für eine Wiedervereinigung aussprachen, 24 Prozent waren dagegen, 19 Prozent hatten keine Meinung, aber 67 Prozent sprachen sich gegen die Einbeziehung eines vereinigten Deutschlands in Militärblöcke aus.[20] Schewardnadse schreibt weiter, dass er die eben zitierte Äußerung heute mit gemischten Gefühlen liest, da sich die Position der Sowjetunion zum NATO-Beitritt recht schnell geändert hat. Und auf die Frage ob es nicht besser gewesen wäre, gleich in die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands einzuwilligen antwortete er: „Nein, ich bin überzeugt, daß es nicht besser gewesen wäre. Unsere feste Haltung in dieser Frage veranlasste gewissermaßen die westlichen Länder dazu, den Umgestaltungsprozeß in der NATO erst richtig in Gang zu bringen.“[21] Wenn man diesen Äußerungen Schewardnadses Glauben schenkt, was bei subjektiven Erinnerungen oftmals gefährlich sein kann, dann war es eine Verhandlungstaktik der Sowjetischen Führung mit der vorgeschobenen Unnachgiebigkeit in der NATO-Frage eine Veränderung der bislang bestehenden NATO zu bezwecken.

Doch wie lassen sich die Schwankungen in der sowjetischen Position begründen, und wo waren die Gegner der Wiedervereinigung, die zu den Widersprüchen der sowjetischen Position geführt haben?

4.3 Die Gegner der Wiedervereinigung

Alexander von Plato hat vermeintliche Gegner der Wiedervereinigung in persönlichen Gesprächen zu ihrer Position befragt. Weder Krjutschkow, Ligatschow oder Falin, also die bekannten Hauptgegner der Deutschland-Politik Gorbatschows, stellen sich als prinzipielle Widersacher der Wiedervereinigung dar. Sie kritisieren nur die Durchführung der Wiedervereinigung. Krjutschkow bezieht sich vor allem auf den Zeitplan, man ist in Anlehnung an Kohl von einer Wiedervereinigung im Jahre 2025 ausgegangen. Schachnasarow berichtet ebenfalls von einem anderen Zeitplan Kohls: „1990 sollte eine Gemeinschaft mit Ostdeutschland auf vertraglichen Grundlagen entstehen, 1991 oder 1992 konföderative Strukturen ins Leben gerufen werden, und erst für 1993/94 war die abschließende Vereinigung geplant.“[22]

Und Falin war Jemand, der schon frühzeitig die Entwicklung in der DDR vorausgesehen hat, und den Prozess der Wiedervereinigung richtig einzuschätzen wusste, nur mit den Bedingungen war er nicht zufrieden. Er gehörte zu den Orthodoxen in Moskau und hat als Leiter der Internationalen Abteilung immer wieder versucht, die Position Schewardnadses und die gesamten 2+4 Verhandlungen zu unterlaufen um den Prozess zu verzögern. So erklärt sich auch, dass am 8. Mai die Forderung nach einem Friedensvertrag noch einmal öffentlich wurde.

In dem Punkt der NATO-Zugehörigkeit glaubten sie sich anfänglich einig mit Gorbatschow, fühlten sich jedoch im Nachhinein überrumpelt. Gorbatschow hat laut Äußerungen von Tschernajew erklärt: „… dass er auf keinen Fall einer Lösung zustimmen würde, in der das vereinigte Deutschland zum NATO-Mitglied wird.“[23]

Diese anfängliche Position Gorbatschows begründet sich wohl daraus, dass er noch immer dem traditionellen sowjetischen Sicherheitsdenken verhaftet war und Wert auf eine weitgehende Beschränkung der deutschen Militärmacht legte. Doch eine alles überspannende Zielstellung Gorbatschows und Schewardnadses war, die im Entstehen befindliche deutsch-sowjetische, europäisch-sowjetische Partnerschaft nicht zu gefährden. Dies war den anderen Führungsmitgliedern nicht so wichtig wie der sicherheitspolitische Aspekt, sie hätten auch erhebliche Verzögerungen und Spannungen in Kauf genommen.

Das, die Stimmung im Politbüro, im Zentralkomitee und der 3. Europäischen Abteilung auf Konfrontation mit dem Westen und Erhaltung der Status quo ausgerichtet war, zeigt sich auf einer Sitzung zur Deutschlandpolitik Anfang Mai 1990. Von den 20 Teilnehmern sprachen sich nur vier vorbehaltlos für die Wiedervereinigung und einer NATO-Zugehörigkeit Deutschlands aus. Sie gerieten unter erheblichen Druck durch die anderen Teilnehmer. Am 3. Mai auf der Sitzung des Politbüros der KPdSU, bei der Schewardnadse einen Vertragsentwurf für das erste 2+4 Ministertreffen vorstellte, stieß er, wie bereits erwähnt, auf entschiedenen Widerstand, vor allem bei Gorbatschow, der eine NATO-Mitgliedschaft Deutschland vehement ablehnte.

4.4 Orientierungslosigkeit

Im Zuge der Positionsfindung kursierten im Frühjahr 1990 verschiedenste Vorstellungen über das sowjetische deutschlandpolitische Vorgehen in den Medien.

Bei westlichen Beobachtern entstand der Eindruck von Orientierungslosigkeit, da fast jeder sowjetische Politiker seine Meinung zur deutschen Einheit äußern wollte, und so viele Vorschläge veröffentlicht wurden, die diffus und nicht realisierbar waren. Eine einheitliche Linie gab es nicht. Für die westlichen Regierungen war kaum zu entscheiden, welche Äußerungen ernst zu nehmen waren und welche nicht. Am 21. Februar spricht Gorbatschow dann von einem Friedensvertrag. N. Portugalow interpretiert diese Forderung als eine Art „allgemeine Absicherung.“[24] Auf die Frage, wie diese Forderung Gorbatschows in Deutschland interpretiert wurde, äußert H. Teltschik: „… wir haben eigentlich diese Überlegungen in Moskau mehr unter dem Gesichtspunkt interpretiert, dass Präsident Gorbatschow und seine Mannschaft verschiedene Lösungswege selbst prüfen und es solche Signale gab, um zu testen: Wie ist eigentlich die Reaktion in Bonn, wie ist die Reaktion in der Öffentlichkeit und bei den drei Westmächten? Sie können in der Folge vom Februar praktisch bis zum Kaukasus-Treffen

(15. + 16. Juli) sehen, dass verschiedene Spielarten von der sowjetischen Seite ins Gespräch gebracht worden sind, bis hin zu dem Vorschlag, dass ein geeintes Deutschland sowohl Mitglied der NATO als auch im Warschauer Pakt sein sollte usw. Wir haben nur gesagt: Solange solche Vorschläge immer wieder kommen, ist der Denkprozeß im Gange.“[25]

Insgesamt gab es, noch vor Beginn der 2+4 Verhandlungen, vier sowjetische Lösungsvorschläge in der Bündnisfrage.

4.4.1 Der Neutralitätsvorschlag

Genau so wie Teltschik das Verhalten der Sowjets einschätzte, verhielt es sich auch bei dem Neutralitätsvorschlag Gorbatschows.

Kohl gegenüber versicherte Gorbatschow, er wisse durchaus, dass für den Kanzler eine Neu-tralisierung „unannehmbar“ sei. Er wisse nicht, wie der Status aussehen solle, darüber müsse weiter nachgedacht werden.[26] Das bedeutete so viel, dass Gorbatschow sich nicht auf diesen Vorschlag versteifen würde, sondern zusammen mit Deutschland einen Kompromiss suchen wollte. Doch obwohl Kohl jetzt wusste, dass Gorbatschow diesen Vorschlag nicht ernsthaft weiter betreiben würde, hat es keine Anweisungen von Seiten Gorbatschows an seine Mitarbeiter gegeben, diese Position nicht mehr zu vertreten. Es gab auch weiterhin sowjetische Politiker welche die Neutralität weiter öffentlich forderten. Dies diente wohl dazu, um eine Gegenposition zu einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft aufzubauen und Unnachgiebigkeit zu demonstrieren, egal mit welcher Forderung. Erst Anfang April wurde durch Schewardnadses Sprecher Grassimow die Neutralitätsforderung offiziell zurückgezogen.

4.4.2 Französischer Status

Portugalow machte am 13. Februar bereits den Vorschlag, Deutschland könne künftig einen Status wie Frankreich in der NATO besitzen. (NATO-Mitglied doch seit 1966 aus der integrierten Militärstruktur ausgeschieden). Doch für so einen Vorschlag war die sowjetische Führung zu dem Zeitpunkt absolut nicht mehrheitsfähig. Nach außen hat Portugalow seinen Vorschlag auch nicht noch einmal wiederholt.

4.4.3 Gesamteuropäisches Sicherheitssystem

Ab Ende März 1990 wurde die Neutralitätsforderung durch einen neuen Vorschlag überlagert.

In Anlehnung an das Konzept vom gemeinsamen europäischen Haus, bei dem die beiden Machtblöcke durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem abgelöst werden sollten, erschien ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem vielen, vor allem den Reformern und Liberalen in Moskau, als Allheilmittel. Deutschland müsste erst gar nicht einem Bündnis beitreten oder neutral werden, da sich die NATO ebenso wie der Warschauer Pakt auflösen würde um ein gesamteuropäisches System entstehen zu lassen. Eleganterweise würde es so auf keiner Seite zu einem Gesichtsverlust kommen. Mit diesem Ziel, für das sich Gorbatschow und Schewardnadse schon seit Jahren engagierten, könnte außerdem realisiert werden, dass sich die drohenden negativen Folgen des Umbruchs in Osteuropa zum Positiven wenden würden. Es würde vermieden, dass die NATO bei der Auflösung des Warschauer Paktes erhalten bliebe. Doch genau dies war der Knackpunkt an dieser Forderung des europäischen Sicherheitssystems. Wie sollte man erreichen, dass die NATO-Mitglieder eine Auflösung ihres Blocksystems beschließen würden, gerade jetzt wo der Kalte Krieg am Ende war und die NATO praktisch den Sieg davontrug. Außerdem fehlte es an Zeit. Der Prozess der europäischen Zusammenarbeit, der für die Entstehung einer neuen Sicherheitsstruktur nötig wäre, wurde von dem Tempo der Wiedervereinigung einfach überholt.

Die Sowjetunion musste sich also eine provisorische Übergangslösung ausdenken, bis die Zeit reif wäre, für ein gemeinsames Sicherheitssystem.

4.4.4 Doppelmitgliedschaft

Für diese Übergangszeit kristallisierte sich der Vorschlag der deutschen Mitgliedschaft in beiden Systemen heraus. Die Idee tauchte Mitte März auf und erhielt ab April einen viel höheren Grad an Verbindlichkeit als alle anderen Vorschläge vorher. Sogar Falin nannte die Doppelmitgliedschaft „annehmbar“.[27] Es wurde die einzige Alternative der Sowjetunion zur NATO-Mitgliedschaft, die von ihr während der 2+4 Verhandlungen vertreten wurde. Doch dieser Vorschlag wurde von den westlichen Politikern sofort als unannehmbar zurückgewiesen. Es würde eine Fortdauer der deutschen Teilung auf Sicherheitspolitischen Gebiet und eine erhebliche Einschränkung der Souveränität bedeuten.

Diese Darstellung der vier Lösungsvorschläge zeigt, wie verfahren die Positionssuche in der Sowjetunion verlief. Die Sowjetische Führung lavierte von Anfang an in der Bündnisfrage, keines der Konzepte konnte effektiv als Gegensatz zur westlichen Forderung der NATO-Zugehörigkeit präsentiert werden. Durch das Fehlen einer festen eigenen Position war es der sowjetischen Führung auch nicht möglich, auf Kompromissvorschläge aus dem Westen einzugehen. Die einzige reelle Option wäre die NATO-Mitgliedschaft an möglichst weitreichende Bedingungen zu knüpfen, doch durch die Konzeptlosigkeit wurde einiges verschenkt.

4.5 Die Wende in der Bündnisfrage

Ein wesentliches weiteres Ereignis, bei dem nicht deutlich zwischen Konfusion und Verhandlungstaktik unterschieden werden kann, ist das Treffen Gorbatschows mit Bush in Washington. Gorbatschow ist noch mit der gleichen ablehnenden Position, Doppelmitgliedschaft Deutschlands in der NATO, in dieses Treffen gegangen. Jedoch wurde das Ereignis genutzt um in der Öffentlichkeit, vor allem in der sowjetischen zu signalisieren, dass eine neue Ära der Beziehungen zur USA eingeläutet wurde. Der Kalte Krieg sei endgültig begraben.

Gorbatschow musste aber auch feststellen, dass in der Bündnisfrage mit keinem Einlenken der USA zu rechnen war. Eine Auflösung der NATO war absolut nicht zu erreichen, und von der Forderung nach einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem musste Gorbatschow auch zurücktreten. Gorbatschow hatte keine eigene Position mehr, wirkte unsicher und unentschlossen, er warf Bush vor, Deutschland in die NATO „zerren“ zu wollen. Er sagte wörtlich: „Sie behaupten wir hätten kein Vertrauen zu den Deutschen. … Wir gaben ihnen jedoch die Möglichkeit, ihre Entscheidung auf demokratischem Wege zu treffen. Andererseits erklären Sie, Sie vertrauen der Bundesrepublik, zerren sie aber trotzdem in die NATO, geben ihr keine Chance, ihr Schicksal nach der endgültigen Regelung selbst zu bestimmen. Lassen wir Deutschland selbst entscheiden, in welchem Bündnis es sein möchte.“[28]

Mit diesem Worten war Gorbatschow weit über das hinausgegangen, was in Moskau vereinbart worden war. Er hatte praktisch die Entscheidung über die NATO-Mitgliedschaft in die Hände der Deutschen gelegt. Schewardnadse nahm Gorbatschow zur Seite und brachte ihn dazu sich von seiner Äußerung zu distanzieren. Die Gespräche endeten in einer Schwebelage. In dem Eingangsstatement Bushs für die Pressekonferenz wurde unter Gorbatschows Zustimmung deutlich gemacht, dass „die Deutschen entscheiden müssen“. In den sowjetischen Medien wurde nichts dergleichen geäußert. Hier erweckte Gorbatschow weiterhin den Eindruck, er lehne jegliche NATO-Zugehörigkeit Deutschlands ab und hielt dies ja auch bis zum Kaukasus Gipfel durch.

Aus heutiger Sicht ergeben sich zwei Möglichkeiten dieses Verhalten zu interpretieren: Gorbatschow hat aus Unbedachtsamkeit in dieser Frage eingelenkt und wurde durch Schewardnadse darauf aufmerksam gemacht. Dafür spricht die Tatsache, dass im Nachhinein alles verwischt wurde was in Richtung einer NATO Zustimmung zeigen könnte. Oder er hat die Wende bewusst herbeiführen wollen und wurde von Schewardnadse aus taktischen Gründen gebremst. da es neben der Bündnisfrage noch weitere wichtige Punkte zu klären gab, die Ablösung der Viermächterechte, der Status des DDR-Territoriums, die Modalitäten für den Truppenabzug, die Begrenzung der deutschen Streitkräfte usw. Man konnte doch nicht die größte Frage abschließen, bevor der Westen nicht seinerseits in wichtigen Punkten einlenkte.

Außerdem stand der 28. Parteitag in Moskau bevor, auf dem Gorbatschow bei einem Einlenken in der NATO-Frage arge Probleme bekommen hätte, von Resolutionen die Gorbatschow möglicherweise die Hände gebunden hätten, bis zu einer Entmachtung.

Es wurde nicht deutlich, ob Gorbatschow jetzt schon einer NATO-Zugehörigkeit Deutschlands zugestimmt hatte und sein Meinungswechsel endgültig war. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Äußerung Gorbatschows spontan und durch eine große Ratlosigkeit gemacht wurde, der Rückzieher jedoch aus Taktischen Gründen um sich für die weiteren Verhandlungen noch etwas offen zu halten. Jedenfalls wurde hierdurch im Westen das Signal gegeben, dass Gorbatschow evtl. einer NATO-Mitgliedschaft offiziell zustimmen würde, wenn man ihm den Weg dorthin etwas erleichtern würde.

Dies geschah auch, es bestanden berechtigte Hoffnungen auf eine NATO-Reform und eine Überwindung der Blockkonfrontation durch das Treffen der NATO-Führer in London Anfang Juli. Außerdem bemühte sich die Bundesrepublik durch Kredite, Verhandlungen über Erfüllung der Lieferverpflichtungen zwischen DDR und der Sowjetunion auf diese zuzugehen.

Auf dem zweiten 2+4 Ministertreffen in Ostberlin wurde von der sowjetischen Seite der letzte Versuch unternommen, die Wiedervereinigung nach westlichem Willen doch noch aufzuhalten. Schewardnadse stellte in 14 Punkten ein Dokument mit dem Titel „Grundprinzipien einer endgültigen völkerrechtlichen Regelung mit Deutschland“ vor. Dieses Dokument enthielt Forderungen, die einen schweren Rückschlag in den Verhandlungen bedeuteten, sie wurden von den westlichen Außenministern auch strikt zurückgewiesen. Es wurde jedoch deutlich, dass Schewardnadse nicht voll hinter diesen Forderungen stand, da er im Vorfeld recht weitsichtige und positive Äußerungen zu der Entwicklung der weiteren Verhandlungen abgab. In dem zweiten Teil seiner Rede, die die 14 Punkte beinhaltete, war ersichtlich, dass er hier die offiziellen Forderungen des Politbüros vertrat und persönlich nicht voll hinter ihnen stand.

Er musste dies tun, um ein Einlenken in der deutschen Frage vor dem 28. Parteitag zu vermeiden.

Dieser 28. Parteitag brachte dann auch einen nicht erwarteten Erfolg für Gorbatschow, er hatte eine Spaltung der Partei abgewendet, eine personelle Umbesetzung durchgesetzt und somit mehr Handlungsspielraum in der deutschen Frage erhalten. Wjatscheslaw Daschitschew schätzte dies so ein: „Einer der wesentlichen Faktoren, die zur Umorientierung (der sowjetischen Deutschlandpolitik, d.Verf.), war die Entmachtung des Politbüros der KPdSU und der Transfer der Entscheidungsmacht auf den Präsidialrat. Im Politbüro mit seinen alten Anhängern des Großmachtdenkens wäre die neue außenpolitische Linie nie durchgekommen.“[29]

Dies brachte Gorbatschow dann auch die Entscheidungsfreiheit, die er Kohl gegenüber in Moskau und im Kaukasus (14.-16.Juli 1990) demonstrierte, indem er die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zuließ.

Schluss

5. Fazit

Konfusion oder Verhandlungsstrategie?

Wie lässt sich das Nebeneinander von ablehnenden u. prinzipiell zustimmenden Äußerungen der Sowjetischen Führung zur deutschen Einheit erklären?

Im Frühjahr 1990, nach dem Gorbatschow am 10.2 der Wiedervereinigung zugestimmt hatte, kann man berechtigt von einer Konfusion innerhalb der sowjetischen Führung sprechen. Es ergab sich ein recht widersprüchliches Bild, wenn man die verschiedenen Äußerungen zur deutschen Einheit und speziell zur NATO-Zugehörigkeit Deutschlands verfolgt.

Die sowjetische Führung befand sich in einer Orientierungsphase.

Indem sie die Veröffentlichung der unterschiedlichsten Positionen zugelassen hat, wurde versucht in einem „Such-und-Find-Prozeß“[30] herauszubekommen, wie die Reaktion im Westen und im eigenen Land zu den jeweiligen Vorschlägen ist. Sie wollte durch das Beharren auf eigenen Positionen, welcher Art auch immer, die anderen Verhandlungspartner dazu bewegen, eigene Vorschläge zu machen und nicht auf ihrer Position der NATO-Zugehörigkeit Deutschlands zu bestehen. So gesehen ist die Konfusion nicht strickt von einer Verhandlungsstrategie zu trennen, sondern die Verhandlungsstrategie ist durch die Orientierungslosigkeit bedingt. Da die sowjetische Führung keine feste Position hatte, blieb ihr nur die Möglichkeit so zu verfahren.

Dieser Zustand wechselte erst, als Schewardnadse den Weg aus der Konfusion aufzeigte, indem er Gorbatschow in Washington dazu bewegte, seine Äußerung über die freie Wahl der Bündniszugehörigkeit zurückzunehmen. Hierdurch nutzte er die Tatsache, dass der Westen seine Position in der Bündnisfrage erahnen konnte, die Sowjetunion aber die Möglichkeit erhielt, ihre ablehnende Haltung noch ein und halb Monate aufrecht erhalten zu können. Jetzt richteten sich die ablehnenden Äußerungen nicht mehr nur gegen die Verhandlungspartner, sondern wurden auch taktisch gegen die eigene Partei eingesetzt.

Man kann bei Gorbatschow davon ausgehen, dass er immer hinter seinen Äußerungen stand. Er war der Reagierende im Prozess der Wiedervereinigung, sein Einlenken war früher oder später fast zwangsläufig, da er sich andernfalls nur gewaltsam hätte verweigern können, eine Möglichkeit die er kategorisch ausschloss.

Derjenige, der die Verhandlungen führte war Schewardnadse, dadurch war er auch in der Rolle verhandlungstaktisch mit sowjetischen Äußerungen umzugehen, er brachte Gorbatschow zum Einlenken und bremste ihn notfalls bei Zugeständnissen, um bessere Verhandlungspositionen zu erhalten.

Zusammengefasst lassen sich Konfusion und Verhandlungsstrategie nicht wie schwarz und weiß voneinander trennen, und es lässt sich bei jeder sowjetischen Äußerung zur deutschen Einheit, ob zustimmend oder ablehnend, ein Grund finden, warum diese erfolgte, jedoch nicht immer mit verhandlungstaktischen Hintergründen.

Literaturverzeichnis

Biermann Rafael, Zwischen Kreml und Kanzleramt, wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Schöningh, Paderborn; München; Wien; Zürich 1997, Studien zur Politik, Band 30, Herausgegeben im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung

Gorbatschow Michail, Das gemeinsame Haus Europa und die Zukunft der Perestroika, ECON Verlag, Düsseldorf - Wien - New York 1990

Gorbatschow Michail, Erinnerungen, Berlin 1995

Jensen Ulrike, Gorbatschow und der sowjetische Entscheidungsprozeß - eine perzeptionstheoretische Analyse, Diplomarbeit, Freie Universität Berlin 1994

Kiessler Richard / Elbe Frank, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken – der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1993

Kuhn Ekkehard, Gorbatschow und die deutsche Einheit, Bouvier Verlag, Bonn 1993

Pfeifer Wolfgang, Die Viermächte-Option als Instrument sowjetischer Deutschlandpolitik, Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung 1991

Schewardnadse Eduard, Die Zukunft gehört der Freiheit, Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg, 1991

Teltschik Horst, 329 Tage Innenansicht der Einigung, Siedler Verlag GmbH, Berlin 1991 Tschernajew Anatoli, Die letzten Jahre einer Weltmacht Der Kreml von innen, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1993

von Plato Alexander, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003

[...]


[1] E. Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S.233

[2] Vgl. U. Jensen, Gorbatschow und der sowjetische Entscheidungsprozeß, S. 66

[3] M. Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa, S. 137

[4] Ebenda, S.138

[5] Vgl. Neues Deutschland vom 12.9.1989, aus U. Jensen S. 67

[6] A. Tschernjajew, Die Deutschlandpolitik Gorbatschows S.197

[7] H. Teltschik, 329 Tage Innenansicht der Einigung, S. 120

[8] Ebenda, S. 140

[9] A. von Plato, Die Vereinigung Deutschlands einweltpolitisches Machtspiel, S. 192

[10] Ebenda, S. 195

[11] A. von Plato, S. 177 (Condolezza Rice im Gespräch mit A. von Plato am 17.9.1999)

[12] R. Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, S. 519 ( Interview Schewardnadses in TASS am 2.2.1990)

[13] Teltschik, S. 140

[14] Kiessler/Elbe, Ein Runder Tisch mit scharfen Ecken, S.116

[15] R. Biermann, S. 523 (Dokumentation zur Ostpolitik der Bundesregierung, hg. vom BPA, S.159)

[16] Vgl. R. Biermann, S. 558

[17] Ebenda., S.562

[18] E. Schewardnadse, S. 241

[19] Ebenda., S.245

[20] Vgl. A. von Plato, S. 173

[21] E. Schewardnadse, S. 246

[22] A. von Plato, S. 183 (Schachnasarow, Preis der Freiheit, 1996, S. 150)

[23] A. von Plato, S. 186

[24] N. Portugalow in Kuhn, 1993, S. 125

[25] H. Teltschik in Kuhn, 1993, S. 126

[26] vgl. R. Biermann, S. 527

[27] Vgl. R. Biermann, S. 532

[28] Gorbatschow, Erinnerungen, S. 722

[29] R. Biemann, S. 675, (Interview in der taz vom 5.11.1990)

[30] W. Pfeiler, Die Viermächte-Option als Instrument sowjetischer Deutschlandpolitik, S. 46

Fin de l'extrait de 20 pages

Résumé des informations

Titre
Konfusion oder Verhandlungsstrategie?
Université
Free University of Berlin  (Otto Suhr Institut)
Cours
Deutsche Einheit
Note
1,7
Auteur
Année
2004
Pages
20
N° de catalogue
V34554
ISBN (ebook)
9783638347440
ISBN (Livre)
9783640476381
Taille d'un fichier
497 KB
Langue
allemand
Annotations
Konfusion oder Verhandlungsstrategie? Wie lässt sich das Nebeneinander von ablehnenden u. prinzipiell zustimmenden Äußerungen der Sowjetischen Führung zur deutschen Einheit erklären?
Mots clés
Konfusion, Verhandlungsstrategie, Deutsche, Einheit
Citation du texte
Harm Sönksen (Auteur), 2004, Konfusion oder Verhandlungsstrategie?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34554

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