Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Etikettierungstheorie: Labeling Approach
3. Entwicklungsgeschichte des Labeling Approach und ihre Begründer
3.1 Tannenbaum- Erfinder des Labeling Approach
3.2 Lemert- Unterteilung in primäre und sekundäre Devianz
3.3 Becker- Grundlegung des Labeling Approach
3.4 Erikson und Kitsuse- Aspekte des mikro- und makrosozialen Bereiches
3.5 Sack- ein radikaler Ansatz
4. Labeling Approach- Bedeutung für das deutsche Jugendstrafrecht bezüglich des Karrieremodels von Intensivtätern
5. Fazit
Literaturnachweise
1. Einleitung
Betrachtet man die Menschheit in Bezug auf die Verhaltensdetermination sozialen oder kriminellen Handelns wird es immer Abweichung und Konformität geben. In wissenschaftlichen Erforschungen dieser beiden Aspekte wurde dem abweichenden Verhalten immer mehr Interesse entgegengebracht als dem konformen Verhalten. Letztendlich stehen nicht an erster Stelle der Untersuchungen die Fragen, wie konformes Verhalten entsteht, sondern welche Ursache abweichendes Verhalten hat und wie diesem entgegenzuwirken ist (vgl. Lamnek 2007: 15f.). Entgegen dieser ursächlich orientierten soziologischen Theorien richtet der Labeling Approach seine Aufmerksamkeit auf die Instanzen sozialer Kontrolle, welche erst deviantes Verhalten zur Kriminalität durch Kriminalisierung erschafft (vgl. Lamnek 1994: 16). Da ein grundlegender Auftrag der Sozialen Arbeit darin besteht, sich der Differenzminimierung abweichenden Verhaltens der Klientel anzunehmen (vgl. Quack/ Schmidt 2013: 18) und sie durch sozialarbeiterische Interventionen zur gesellschaftlichen Teilhabe zu befähigen (vgl. ebd. 3), besteht die Möglichkeit mit Fragen des Strafrechts in Berührung zu geraten. Sollte an dieser Stelle Soziale Arbeit intervenieren, setzt das fundiertes Gundlagenwissen voraus. Diesbezüglich möchte ich der Relevanz des Labeling Approach für das deutsche Strafrecht, speziell im Kontext von Intensivtätern nachgehen. Zum Verständnis des Aspektes des Labeling Approach wird sich die vorliegende Arbeit anfänglich mit der Entwicklungsgeschichte des Etikettierungsansatzes auseinandersetzen. Inwieweit der Labeling Approach relevant ist für das Jugendstrafrecht und welchem wissenschaftlichen Anspruch sich die Soziale Arbeit stellen muss, soll in einem kurzen Ausblick resümiert werden.
2. Etikettierungstheorie: Labeling Approach
Der Labeling Approach stellt einen der wichtigsten theoretischen Etikettierungsansätze dar, welcher die Soziologie abweichenden Verhaltens untersucht und sich nicht wie bisherige Theorien an dessen Ursache orientiert, sondern die Rektionen auf abweichendes Verhalten mit berücksichtigt (vgl. Lamnek 2007: 223). Dieser Ansatz, unter anderem auch als Etikettierungsansatz, Definitionsansatz, Reaktionsansatz usw. bekannt, beschäftigt sich mit der Entstehung und der Durchsetzung von sozialen Normen, welche in ihrer Anwendung durch selektive gesellschaftliche Definitions- und Zuschreibungsprozesse erst zu Devianz[1] führen können (vgl. ebd.). Verhaltensweisen, die durch offizielle Instanzen sozialer Kontrolle als abweichend oder konform definiert (vgl. Lamnek 1997: 24) und in die Akte vergleichbarer Fallmerkmale eingeordnet werden, (vgl. Quack/ Schmidt 2013. 25) vermindern angepasste Handlungsmöglichkeiten der Klientel und münden in einer devianten Karriere, die sich durch weiter folgende Definitions- und Zuschreibungsprozesse zur abweichenden Identität entwickelt (vgl. Lamnek 1997: 24).
Betrachtet man den Labeling Approach, der seinen Ursprung in der Kriminalsoziologie hat aus strafrechtlicher Sicht, so wird deutlich, dass die Zuschreibung „kriminell“ den Kriminellen etikettiert. Auf Grund dieser Stigmatisierungserfahrung und der ihm zugewiesenen gesellschaftlichen Rolle verändert sich sein Selbstbild, welches sich dementsprechend in abweichenden Verhaltensweisen verfestigt (vgl. Müller 2011: 171).
3. Entwicklungsgeschichte des Labeling Approach und ihre Begründer
Der Labeling Approach ordnet sich vom Ursprung her in die Erklärungsansätze des symbolischen Interaktionismus ein. Diese Ansätze vertreten die Meinung, dass kriminelles bzw. deviantes Verhalten das Resultat von Interaktionsprozessen ist, welche durch Instanzen der sozialen strafrechtlichen Kontrolle regelrecht hochgespielt wird. Methodisch weicht der Labeling Approach als Etikettierungsansatz von konventionellen täterorientierten Kriminalitätstheorien ab, besitzt aber dennoch supplementäre Bedeutung (vgl. Schwind 2013: 153).
3.1 Tannenbaum- Erfinder des Labeling Approach
Wenngleich Tannenbaums gedankliche Ansätze zur Normabweichung lange Zeit ignoriert wurden und sein Einfluss auf die weitere Forschung gering blieb (vgl. Lamnek 2007: 225), so galt er dennoch spätestens seit 1938 mit Herausgabe seines Werkes „Crime and the Community“ als Erfinder des Labeling Approach (vgl. Müller 2011: 171f). Seiner Ansicht nach war die Reaktion der Umwelt auf deviantes, abweichendes Verhalten eine entscheidende Grundlage für das Entstehen dieser Normabweichung, getreu dem Zitat von Tannenbaum „Der junge Delinquent wird böse, weil er als böse definiert wird“ (vgl. ebd. 172).Was kriminell abweichend oder normgerecht ist, entscheidet die Umwelt. Eine solche Rollenzuschreibung kann durch Interaktionspartner entstehen, einerseits in Form von Bestrafung, andererseits durch Resozialisierung. Das besondere „Statussymbol“ eines Abweichlers wird diesem durch soziale Umweltreaktionen erst bewusst und er beschwört dadurch nahezu abweichende Verhaltensmuster herauf (vgl. Lamnek 2007: 226), welche noch durch den Kontakt zu Gleichgesinnten vertieft werden. Sein Selbstkonzept verändert sich und widerspricht den konformen Erwartungshaltungen der sozialen Umwelt.
3.2 Lemert- Unterteilung in primäre und sekundäre Devianz
In den fünfziger Jahren nahm Edwin M. Lemert (1912- 1996) den Definitionsansatz Tannenbaums, obgleich dieser den Labeling Approach schon voll entwickelt hatte, wieder auf (vgl. Müller 2011: 172). Letztendlich gilt Becker (vgl. 3.3) als Wiederentdecker des Ansatzes, dagegen beschränkt sich Lemerts Verdienst auf die Unterscheidung in primäre und sekundäre Devianz. Dabei ist Lemert der Auffassung, dass primäre Devianz auf unwillkürliche Normabweichungen mit durchaus ätiologischen Ansätzen zurückzuführen ist, jedoch nicht bezüglich gesellschaftlicher Reaktionen. Während dagegen die sekundäre Devianz aufgrund gesellschaftlicher Reaktionen und Rollenzuschreibungen erfolgt (vgl. Lamnek 2007: 226). Diese Fremdzuschreibung, ätiologisch betrachtet, führt zu abweichendem Verhalten, wobei der Zugeschriebene tatsächlich im Sinne der ihm zugewiesenen Rolle handelt (vgl. Müller 2011:174). Nicht generell müssen solche Prozesse Ergebnis primärer Abweichung sein, diese Zuschreibung kann auch irrtümlich erfolgen (vgl. Lamnek 2007: 316). Lemert teilt Tannenbaums Meinung bezüglich der Rollenzuschreibung, welche ein primär Devianter nach erster Sanktionierung, noch ohne Stigma deviant zu sein, überdenkt (vgl. ebd. 227). In der Folge kommt es zur Stabilisierung des abweichenden Verhaltens und zu einem Prozess des sogenannten Aufschaukelns durch soziale Reaktionen der Interaktionspartner, begleitet von weiteren Strafen und Zurückweisungen bis hin zu formalen Sanktionen offizieller Kontrollagenturen. Im weiteren Verlauf reagiert der Sanktionierte mit verstärktem abweichendem Verhalten und letztlich mit der Akzeptanz seiner Rolle, welche ursächlich in den Umweltreaktionen, insbesondere der Kontrollagenturen begründet liegt (vgl. ebd. 228).
3.3 Becker- Grundlegung des Labeling Approach
Gut ein Jahrzehnt später entwickelt Howard S. Becker Lemerts Ideen weiter, wobei sein Ansatz in der von der Gesellschaft geschaffenen Regeln zu Machtdetails und sozialer Ungleichheit liegt. Er vertritt die Auffassung, dass Abweichung keine Qualität des Verhaltens selbst ist, sondern nur in der Interaktion zwischen Menschen besteht (vgl. ebd. 230). Damit versteht er nicht die Auslösung einer Handlung aus Gründen abweichenden Verhalten. Vielmehr meint er die Entstehung abweichenden Verhaltens durch Regelaufstellung seitens gesellschaftlicher Gruppen, welche durch diese Regeln Menschen als Außenseitern kennzeichnen und denen bei Regelverletzung Devianz zugeschrieben wird (vgl. ebd. 231). Im Vergleich zu Lemert befasst sich Becker eingehender mit der Normentstehung. Dabei stellt er fest, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen versuchen ihre Normauffassungen durchzusetzen, teilweise mit politischer Macht. Insofern sieht er diese Normsetzung als einen politischen Konflikt an bei dem es um politische und wirtschaftliche Macht und Selektion geht(vgl. Müller 2011: 174). Die Kriterien für die Selektion resultieren aus den unterschiedlichen Machtverhältnissen. Dementsprechend unterscheidet Becker in zwei Selektionsstufen, die Normsetzung und die Normanwendung, aus denen sich für wissenschaftliche Erforschungen die Forderung ergeben, sich intensiver mit den Regelaufstellern, als nur allein mit den Regelbrechern zu befassen. Wichtig ist Becker zudem in seinem Ansatz die Erkenntnis der Unabhängigkeit von Handlung und Reaktion (vgl. ebd. 175). Für eine abweichende Karriere ist für ihn immer noch der Verhaltensaspekt von entscheidender Bedeutung. Bestimmte Voraussetzungen, wie Bereitschaft für nonkonforme Handlungen oder gesellschaftliche Desozialisation sind dabei nur einige bedingende Faktoren. Darauf folgende Sanktionsmaßnahmen, die Stigmatisierungsprozesse nach sich ziehen bis hin zur Devianzstabilisierung können schon nach einmaliger krimineller Handlung einen derartigen Prozess veranlassen (vgl. Lamnek 2007: 233). Mit dem Gesichtspunkt des Mechanismus der self- fulfilling prophecy verbindet Becker die Reduzierung von konformen Handlungsmöglichkeiten der Klientel bezüglich der nonkonformen gesellschaftlichen Erwartungshaltung, welche deviante Karrieren bedingt (vgl. ebd. 234).
3.4 Erikson und Kitsuse- Aspekte des mikro- und makrosozialen Bereiches
Erikson unterscheidet in informelle und formelle Reaktionen bezüglich abweichenden Verhaltens. Gerade um die Entwicklung von Abweichung noch präziser nachvollziehen zu können, ist für Erikson diese Differenzierung im Sanktionsprozess bedeutsam. Die Wirkungen der Sanktionen sind sehr verschiedenartig (vgl. Lamnek 2007: 234). So erfolgt der Prozess der Etikettierung im Regelfall anfänglich im informellen Bereich, übergreifend dann in den formellen Bereich. Eine Notwendigkeit dieses Verlaufes besteht nicht, dennoch kommt es gerade im mikrosoziologischen Bereich zu ersten entscheidenden Selektionen und anschließend auf makrosozialer Ebene zu einer weiterführenden Selektion, eventuell bis hin zur Verfestigung. Im formellen, sowie informellen Rahmen erfolgt Etikettierung, dabei im formellen Bereich aber in massiverer Form (vgl. ebd. 235f.).
Kitsuse dagegen geht weniger auf die beiden Reaktionen ein, vielmehr bezeugt er den sich verfestigenden Prozesscharakter im Rahmen der Abweichung. Etikettierung versteht er als eine Abfolge in welcher ein Mensch durch eine Person oder die Gemeinschaft als deviant bezeichnet wird. Dementsprechend wird er als Abweichler behandelt, worauf seine konforme Verhaltensperspektive begrenzt wird (vgl. ebd. 236).
[...]
[1] Abweichendes Verhalten von bestehenden sozialen Normen