Inwieweit lässt sich Stehls Ansatz einer funktionalen Variationslinguistik auf die "Suisse romande" anwenden?


Dossier / Travail de Séminaire, 2014

17 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Von der Latinisierung bis zum franc̜ais régional in der Suisse romande

3. Thomas Stehl

4. Der variationslinguistischen Ansatz von Thomas Stehl

5. Interferenz im vertikalen Sprachkontakt

6. Die drei Beschreibungsebenen der sprachlichen Variation

7. Kompetenz der Variation

8. Pragmatik der Variation

9. Linguistik der Variation

10. Schluss

11. Bibliographie

12. Anhang

1. Einleitung

Die Schweiz bietet mit ihrer sprachlichen Situation ein besonders interessantes Erforschungsgebiet für Sprachwissenschaftler. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind ihre Landessprachen Italienisch, Deutsch, Französisch und Rätoromanisch. Hinzu kommen noch verschiedene Minderheitssprachen und Dialekte die dort zusätzlich gesprochen werden, von denen 4 in den Verzeichnis des UNESCO Atlas of the World's Languages in Danger aufgelistet sind.[1] Eine davon ist das Frankoprovenzalische, das in der Schweiz hauptsächlich in den französischsprachigen Kantonen und von nur noch rund 100.000 Sprecher verwendet wird.[2] In früheren Zeiten wurde diese Sprache jedoch in der Suisse romande von der großen Mehrheit der Bevölkerung gesprochen und koexistierte parallel zum Französischen. Als Ergebnis dieses Koexistierens haben sich das Französische und das Frankoprovenzalische im Laufe der Zeit bis heute gegenseitig beeinflusst, sodass man im Fall der Suisse romande von einen Französisch spricht, der von den lokalen patois beeinflusst wurde.

Um Sprachdynamik zwischen zwei oder mehrere Sprachen – wie zum Beispiel in der Suisse romande – in einen Gebiet zu beschreiben, hat Thomas Stehl, Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Philologie an der Universität Potsdam, einen variationslinguistischen Ansatz entwickelt. An den Beispielen vom Okzitanischen in Paunat und Ste. Alvère und vom Apulischen in Canosa di Puglia hat er Daten zum metasprachlichen und sprachlichen Wissen der Sprecher, zu ihrer selektiven Sprachverwendung in der zweisprachigen Redetätigkeit sowie die daraus resultierenden sprachlichen Strukturen der Interferenz und Konvergenz erhoben und analysiert.

In dieser Hausarbeit wird Stehls Ansatz näher erläutert und erklärt. Dabei wird anhand bereits vorhandenem Material versucht diesen Ansatz auf den Sprachkontakt in der Suisse romande anzuwenden. Zuerst jedoch wird ein Einblick in die Geschichte der Entwicklung der Sprachen gewährt um die heutige sprachliche Situation in der Schweiz besser verstehen zu können.

2. Von der Latinisierung bis zum franc̜ais régional in der Suisse romande

Zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. wurde das bis dahin keltische Gebiet der heutigen Schweiz von den Römern erobert.[3] Aus dem zunächst in der Region verwendeten Latein entwickelte sich ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. einerseits das „latin classique“ und anderseits das Vulgärlatein, das von Region zu Region variierte.[4] Mit dem Einzug der Wallis etwa ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. entstand eine Sprachgrenze zwischen dem deutschsprachigen und dem frankoprovenzalisch- bzw. französischsprachigen Valais. Etwa im 6. bis 8. Jahrhundert hatten sich die verschiedenen Formen des Vulgärlateins schließlich so weit voneinander entfernt, dass man von der Ausdifferenzierung dreier unterschiedlicher gallo-romanischer Sprachräume innerhalb der damaligen Romania sprechen kann.[5] Neben dem Gebiet der langue d’'oïl und demjenigen der langue d’oc war das Sprachgebiet des Frankoprovenzalischen entstanden, zu dem die Region der heutigen Suisse romande[6] mit Ausnahme des überwiegenden Teils der heutigen Kantons Jura sowie eines Teils des Kantons Bern zählte, die zum Sprachraum der langue d'oïl gehörten. Damals wurde eine Vielzahl verschiedener frankoprovenzalischer Dialekte, die von Ort zu Ort stark variierten gesprochen. Die patois francoprovenc̜aux waren relativ wenig oder gar nicht verschriftlicht, daher liegen uns heute wenige in diesen Dialekten verfassten Texte vor. Für den Schriftverkehr, v.a. als Amts- und Verwaltungssprache wurde parallel zu den patois francoprovenc̜aux das Lateinische verwendet. Ab dem 12. Jahrhundert begann sich zunächst in Frankreich, dann auch in der Schweiz, das Franzische, die damals in der Île de France verwendete Varietät des Französischen, gegenüber den übrigen französischen Varietäten durchzusetzen und wurde zur Norm des Standardfranzösischen.[7] Mit der Einführung des Französischen auf dem Gebiet des Frankoprovenzalischen entwickelte sich in der heutigen Suisse romande auch eine weitere Gruppe galloromanischer Varietäten, die franc̜ais régionaux. Diese erfüllen seitdem z.T. die ehemaligen Funktionen der patois. Die franc̜ais régionaux sind in und außerhalb Frankreichs durch den Kontakt des neu eingeführten Französischen und späteren Standardfranzösischen mit anderen in der jeweiligen Region einflussreichen Sprachen oder Dialekten entstanden. Somit ist das Regionalfranzösisch der Suisse romande – sowie in den anderen Ländern auch – keineswegs einheitlich, sondern ist synchron und diachron regional variiert.

Eine Person, die sein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung dieser Varietäten und auf deren Bedeutung in der heutigen Gesellschaft setzte, ist der Sprachwissenschaftler Thomas Stehl, der im Folgenden zusammen mit seinen Ansatz zur Variationslinguistik vorgestellt wird.

3. Thomas Stehl

Thomas Stehl ist Professor der Universität Potsdam, ist im Lehrstuhl der Romanischen Sprachwissenschaft tätig und ist spezialisiert im empirischen fundierten, funktionalen Kontaktlinguistik sprachlicher Variation, Interferenz und Konvergenz in der Romania, sowie Typologie und Prozesse von Sprachwandel und Sprachgenese als Ausdruck von Kontinuität und Bruch in der Sprachgeschichte romanischer Sprachen.[8] Im Jahre 2012 veröffentlichte er seine überarbeitete Forschungsarbeit Funktionale Variationslinguistik. Untersuchungen zur Dynamik von Sprachkontakten in der Galloromania und Italoromania die er erstmals 1992 verfasste. Darin entwickelt er den variationslinguistischen Ansatz – angelehnt auf die sprachtheoretischen, strukturell-funktionalen Konzepte Eugenio Coserius – der in der im Folgenden auf der Suisse romande angewendet wird.

4. Der variationslinguistischen Ansatz von Thomas Stehl

Stehls Funktionaler Ansatz entstand aus den Wunsch, die Frage zu klären „was die Sprecher in zweisprachigen Gemeinschaften über Interferenzgeprägte Äußerungen wissen und wie sie diese einstufen, ob sie voneinander distinkte Techniken erkennen und wiedererkennen, ob sie diesen Techniken eine bestimmte Kommunikative Funktion zuweisen, oder ob sie instabile, übergangslos ineinander gleitende Kompromissformen zwischen Dialekt und Standard als vorherrschend betrachten.[9]

Anliegen seines Ansatzes ist also eine Beschreibung der sprachlichen Variation im Sprachkontakt. Auf Grundlage seiner Forschungen stellte er fest, dass das Phänomen der Nationalsprache zu einer sozialen Zweisprachigkeit geführt hat und es weiterhin tut. Die Dialekte, die über weniger Reichweite und Prestige verfügen, treten in einen vertikalen Sprachkontakt und werden zugunsten der Standardsprachen aufgegeben. Als Ergebnis des Zusammenspiels von Variation, Interferenz und Konvergenz entstehen Kontaktvarietäten, die die Sprecher in spezifischen Kontexten realisieren und von Stehl als Gradata bezeichnet werden. Um diese Prozesse analysieren und beschreiben zu können, greift Stehl auf Coserius vorgenommene Unterscheidung dreier Aspekte, unter denen das Sprechen untersucht werden kann. Coseriu benennt diese Aspekte als Tätigkeit, Wissen und Produkt. Diesen drei Ebenen ordnet Stehl folgende drei variationslinguistische Beschreibungsebenen zu: Pragmatik der Variation, Kompetenz der Variation und Linguistik der Variation, die im späteren Verlauf näher erklärt werden.

Bevor jedoch diese drei Beschreibungsebenen ausführlich vorgestellt werden, erfolgen zunächst Erläuterungen zu seinen sprachtheoretischen Ausgangsüberlegungen.

5. Interferenz im vertikalen Sprachkontakt

Bei vertikalen Sprachkontakten handelt es sich um eine besondere Form der Sprachgenese. Historische, politische, soziale oder wirtschaftliche Gegebenheiten beeinflussen die Entwicklung der jeweiligen Sprache. Anhand seiner empirischen Untersuchungen zeigt Stehl, dass in Teile der Romania die primärdialektale Einsprachigkeit aufgegeben wurde und es zur Herausbildung einer Pluriglossie gekommen ist. Zu Beginn findet eine Trennungsphase der Diglossie zwischen den zwei Kontaktsprachen Dialekt und Standardsprache statt. Beide Sprachen werden jeweils in bestimmten Kontexten verwendet. Im Laufe der Zeit entwickelt sich aus dieser Diglossie eine Pluriglossie, die in drei Etappen erklärt werden kann:

In der ersten Phase erwirbt die Generation mit L1 Dialekt als Zweitsprache eine defektive Form des Standards mit zahlreichen Dialektalen Interferenzen. Derartige Varietäten sind – im Fall des Französischen – unter der Bezeichnung franc ֽ ais populaire geläufig. In der nächsten Phase erlernt die zweite Generation den defektiven Standard der Eltern. Durch einen gesteuerten Sprachenerwerb nehmen die dialektalen Interferenzen nach. Diese Generation erlernt einen defektiven Dialekt der durch Interferenzen des Standards gekennzeichnet ist. Die dritte und auch die später folgenden Generationen erwerben immer bessere Standard Kenntnisse während die Dialekt Kenntnisse immer geringer werden. Die Weitergabe des Dialekts wird durch das Aussterben der ersten Generation fast unmöglich. Durch diesen Prozess gehen sowohl die Dialekte als auch das defektive Standard verloren und es bilden sich tertiäre Dialekte, beziehungsweise regionalspezifische Formen des Standards (franc̜ais régionaux).[10]

[...]


[1] http://www.unesco.org/languages-atlas/index.php. (Zugriff: 01.09.2015)

[2] http://www.unesco.org/languages-atlas/index.php. (Zugriff: 01. 09.2015)

[3] Vgl. Heyder, Karoline Henriette: Varietale Mehrsprachigkeit. Konzeptionelle Grundlagen, empirische Ergebnisse aus der Suisse romande und didaktische Implikationen. Stuttgart 2014, S. 111.

[4] Vgl. Heyder (2014), S. 112.

[5] Vgl. Heyder (2014), S. 113.

[6] Zur Suisse romande gehören neben den vier französischsprachigen Kantonen Genf, Neuenburg, Jura und Waadtland die drei zweisprachigen Kantonen Wallis, Freiburg und Bern, in denen sowohl das Französische als auch das Deutsche als offizielle Sprachen anerkannt sind.

[7] Vgl. Heyder (2014), S. 115.

[8] Vgl. http://www.uni-potsdam.de/romanistik/stehl/deutsch/stehl/stehl.html. (Zugriff: 11.08.2015)

[9] Vgl. Stehl, Thomas: Funktionale Variationslinguistik. Untersuchungen zur Dynamik von Sprachkontakten in der Galloromania und Italoromania. Frankfurt am Main 2012, S. 40.

[10] Siehe Anhang 1 für eine vereinfachte Grafik der Entwicklung

Fin de l'extrait de 17 pages

Résumé des informations

Titre
Inwieweit lässt sich Stehls Ansatz einer funktionalen Variationslinguistik auf die "Suisse romande" anwenden?
Université
Christian-Albrechts-University of Kiel  (Romanisches Seminar)
Cours
Die Frankophonie in Europa
Auteur
Année
2014
Pages
17
N° de catalogue
V346491
ISBN (ebook)
9783668359215
ISBN (Livre)
9783668359222
Taille d'un fichier
665 KB
Langue
allemand
Mots clés
suisse romande, stehl, frankophonie, variationslinguistik
Citation du texte
Alexia Soraia Pimenta Gomes Zonca (Auteur), 2014, Inwieweit lässt sich Stehls Ansatz einer funktionalen Variationslinguistik auf die "Suisse romande" anwenden?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/346491

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