Die Funktion der Alchemie und der naturphilosophisch-biologischen Erkenntnisse Goethes in Bezug auf die Figur des Homunculus in "Faust II"


Dossier / Travail de Séminaire, 2016

38 Pages, Note: 1,0

Anonyme


Extrait


Inhalt

Einleitung

1. Grundlagen für das Verständnis von Goethes Homunculus
1.1 Ein Überblick über die Kunst der Alchemie
1.2 Goethe – Ein Alchemist
1.3 Paracelsus Naturphilosophie - Vorlage für Goethes Homunculus-Handlung

2. Das Laboratorium als Alchemisten-Küche
2.1 Die Erschaffung im Laboratorium
2.2 Homunculus - Ein durch Alchemie erschaffenes künstliches Wesen

3. Die Klassische Walpurgisnacht – der Weg zum Wasser
3.1 Die Ratsuche zwischen Neptunismus und Vulkanismus
3.2 Das präevolutionäre Entstehen an den Felsbuchten des aegäischen Meers

4. Deutung und Bedeutung des Homunculus

Fazit

Bibliographie
Primärliteratur
Sekundärliteratur

Einleitung

Es leuchtet! seht! – Nun läßt sich wirklich hoffen

Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen,

Durch Mischung, denn auf Mischung kommt es an,

Den Menschenstoff gemächlich komponieren.[1]

Es sind die Worte Wagners, die so treffend beschreiben, was sich in der Laboratorium-Szene ereignet, denn „Es wird ein Mensch gemacht“[2]. Die Schaffung eines Menschen, die zunächst an den Schöpfungsmythos erinnert, gleichzeitig aber die moderne Gentechnik und die heutige Reproduktionsmedizin antizipiert geht nicht auf Goethes Originalitätskonto.[3] Die Fülle an Literatur ist vielgestaltig, in der das Thema des künstlichen Menschen in den Mittelpunkt rückt und reicht vom antiken Prometheus-Mythos über Mary Shelleys Frankenstein bis hin zu modernen science-fiction-Erzählungen über Androiden und Hybriden.[4]

Im Faust II zeigt sich Goethe als „fortschrittsorientierter Dichter“, der sich mit „zukunftsweisenden Themen und Visionen“ beschäftigt.[5] Antonia KOSTRETSKA bemerkt dazu, dass

„im Gegensatz zum ersten Teil des Faustus, welcher eine homogene Einheit der Personen und der Handlung vorweist, zerfällt der zweite Teil in breit entfaltete Einzelszenen, denen die Fülle an Symbolen eine einzigartige Gestalt verleiht“.[6]

Der zweite Akt nimmt dabei eine besondere Stellung ein, denn der im Bann der Helena stehende Faust liegt nach einer Explosion am Ende des ersten Aktes am Boden und wird von Mephistopheles in sein altes Studierzimmer gebracht. Der paralysierte Faust, sowie der hilflose Mephistopheles treten nun im zweiten Akt als Protagonisten in den Hintergrund und Goethe inszeniert als handlungsbestimmenden neuen Charakter den künstlich erschaffenen Homunculus, der fortan im Mittelpunkt steht, selbst nachdem Faust wieder zu Bewusstsein gekommen ist.

Die Fülle an Forschungsbeiträgen rund um die Homunculus-Handlung, die mit der Laboratorium-Szene beginnt und mit der Klassischen Walpurgisnacht endet, sind mannigfaltig und vieldeutig, weshalb Hans ARENTS den Homunculus auch als „das Problem der Probleme“ bezeichnet.[7] Bereits 1972 hat Helmut BIRKHAN dazu rund 100 Texte in einer Bibliographischen Übersicht dazu zusammentragen.[8]

Goethe selbst war sich der Vieldeutigkeit seines Faust nicht nur bewusst, er neigte vielmehr dazu, sie als Bedingungen jedes kritischen Verständnisses vorauszusetzen und mit einer gewissen Freude am hintergründigen Geheimnis oft genug in Briefen und Gesprächen auf sie anzuspielen.[9]

Auch in der Homunculus-Forschung wird kontrovers diskutiert, meistens kann sie nicht alles umfassen und gerade deshalb ist es schwierig den Homunculus auf eine einfache Formel zu bringen. Gottfried Wilhelm HERTZ beispielsweise bezieht seine Betrachtung ganz auf Goethes Bezeichnung des Homunculus als reine Entelechie. Otto HÖFLER hingegen zieht durch detaillierte wörtliche Auslegung den Fazit, dass die gesamte Homunculushandlung eine Satire auf A. W. Schlegel sei und Gottfried DIENER sieht in Homunculus ein reines Mittel zum Zweck, das darin besteht Fausts Weg zu Helena zu offenbaren.[10] Dabei reichen bei den verschiedenen Ansätzen die Bezeichnungen für den Homunculus von einem zierlichen Lichtgeist, einem leuchtender Kobold, über den Heilbringer, bis hin zum Flaschenteufelchen.[11] Meistens wird dabei der Homunculus auf unterschiedlichste Art und Weise in Bezug mit Wagner und Mephistopheles gebracht oder aber mit Faust selbst, sei es als Doppelgänger oder Kontrastbild. Und manchmal ist mit Bedauern festzustellen, wie bereits Hans ARENS bemerkte, „daß es die Interpreten oft gar nicht nötig haben, Fakten ,wegzueskamotieren‘, weil sie sie überhaupt nicht wahrgenommen haben“.[12]

Antonia KOSTRETSKA bezeichnet den Faust als ein alchemistisches Drama und so ist auch der Homunculus ein Produkt langjähriger geistiger Auseinandersetzungen Goethes und seiner alchemistischen [aber auch] seiner naturwissenschaftlich Forschung.[13]

Die Hausarbeit steht unter dem Titel: Die Funktion der Alchemie und der naturphilosophisch-biologischen Erkenntnisse Goethes in Bezug auf die Figur des Homunculus in Faust II. Durch eine interpretierende und textnahe Analyse, gerade in Bezug auf KOSTRETSKAs Aussage, möchte ich die Figur Homunculus näher betrachten und dabei die Funktion der Alchemie für dessen Entstehen und Werden entschlüsseln. In diesem Zusammenhang treten auch naturphilosophisch-biologische Aspekte auf, durch dessen Verarbeitung Goethe ein Wesen schafft, das so Hans ARENS, ganz ohne Vorbild in der Literatur ist.[14] Ob dem wirklich so ist, und in wieweit doch von einem durch Alchemie erschaffenen Menschlein gesprochen werden kann, soll im Folgenden geklärt werden.[15] Dabei liegt die Konzentration vor allem auf dem zweiten Akt, explizit auf den Szenen Laboratorium, Am oberen Peneios und Felsbuchten des Aegäischen Meers. Im Mittelpunkt steht die Figur des Homunculus, andere Handlungsstränge, sowie Figuren werden dabei auch unberücksichtigt bleiben oder nur in Zusammenhang erwähnt.

Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt (1) dient als einführender Überblick über die Kunst der Alchemie, die typischen Verfahren, die Symbolsprache, sowie deren Einfluss auf folgende Jahrhunderte, damit später bei der textnahmen Untersuchung der Homunculus auf sein alchemistischen Wesen untersucht werden kann. Gleichzeitig wird ein Blick auf Goethe als Alchemist geworfen und unter anderem die Frage geklärt, welche Position er gegenüber der alten Kunst einnimmt.

Paracelsus und dessen Naturphilosophie gilt als Quelle und Vorbild für Goethes Homunculus, deshalb muss auch hier eine historische Grundlage geschaffen werden, um zu beleuchten, wie sehr sich Goethe daran orientierte, eventuell abänderte und seinem Drama anpasste.

Anhand von ausgewählten Textpassagen des zweiten Aktes, soll dann konkret auf die Figur des Homunculus (2/3) eingegangen und dabei der Einfluss der Alchemie auf den zweiten Akt herausgearbeitet werden, sowohl in Bezug auf das Verfahren, die Symbolik, sowie die Entstehung des Homunculus, als auch auf die Figur selbst. Dabei werden auch entstehungsgeschichtliche Hintergründe berücksichtig, sowie der Bezug zum Autor selbst hergestellt. Es sind vor allem Goethes naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die in Bezug die Entschlüsselung des Homunculus wichtig sind, ohne dabei den alchemistischen Ursprung zu vergessen oder den Homunculus rein biologisch deuten zu wollen.

Abschließend gilt es dann einige Forschungsmeinungen rund um den Homunculus zusammengetragen, die in Einklang mit dem alchemistischen und naturphilosophischen Verständnis stehen, wodurch Mutmaßungen auf die Deutung und Bedeutung des Homunculus geschlossen werden können, sowohl in Hinblick auf die Charakterisierung der Figur selbst, als auch der Funktion, die sie im zweiten Akt, sowie im gesamte Drama einnimmt.

1. Grundlagen für das Verständnis von Goethes Homunculus

1.1 Ein Überblick über die Kunst der Alchemie

Die Alchemie stellte sich in der Frühneuzeit nicht als einheitlich dar. Allgemein wird gerne all jene Kunst als Alchemie bezeichnet, in der versucht wurde, mittels besonderer Umwandlungsverfahren, auch Transmutation genannt, unedle Metalle bzw. Elemente, wie Blei oder Quecksilber, in Gold oder Silber zu verwandeln.[16] Doch gerade Ende des 15. Jahrhunderts erfuhr die damalige Wissenschaft eine Differenzierung und war seither geprägt von unterschiedlichen Strömungen. Zu unterscheiden ist demnach zwischen der „Alchemia transmutatoria“, der Kunst der Metallumwandlung, wie sie beispielsweise im alchemistischen „Florilegium Rosarium pholsophorium“ zu finden ist, der „Alchemia medica“, die versuchte Arztneimittel gegen Krankheiten herzustellen und zu guter Letzt der „Alchemia technica“, die sich mit Rezepturen zur Färbung, der Tintenherstellung oder der Gießerei beschäftigte. Zu vergessen sei auch nicht die „Alchemia mystica“, die versuchte „mystisch-christologische Elemente mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen“.[17]

Ihren Ursprung hatte die Kunst, die auch als Vorstufe der neuzeitlichen modernen Chemie angesehen werden kann, im klassischen Griechenland, hellenistischen Ägypten, sowie im arabischen Raum. HARTLAUB bemerkt mit dem Blick auf den Ursprung der mittelalterlichen Alchemie:

Ihre ,Philosophen‘ ,‘scheinen sich, gemäß einer damals um sich greifenden ,ägyptosophischen‘ Schwärmerei, besonders auf die Mysterien und Offenbarungen des Nillandes berufen zu haben: der Schreibergott Thot, später mit dem griechischen Hermes, ursprünglich einem Zauberdämon, gleichgesetzt, galt mit den ihm zugeschrieben ,hermetischen‘ Schriften als die älteste Autorität.[18]

Etymologisch vom griechischen Wort chemeia (lateinisch chimia) abstammend, trat bei den Arabern später der Artikel al hinzu, woraus sich letztendlich das Wort Alchemie entwickelte. Es handelte sich hier noch um jene Art der angewandten Chemie, in der sich eine eingeweihte Priesterschaft in der Kunst des Färbens und später dann auch in der Destillationskunst mittels spezieller vorgesehener geschlossener Gefäße versuchte.[19] Zunächst eine Naturanschauung griechischen Ursprungs, mit einer ausgeprägten Zuwendung zur Astrologie, entwickelte sich erst mit dem Einzug in den europäischen Kulturraum im Mittelalter, jene Vorstellung der magischen Verwandelbarkeit von Metallen, die „mittels eines als Pulver oder Flüssigkeit beschrieben universellen Geheimpräparats“ dem „Stein der Weisen“[20], erreicht werden sollte.[21] Der Stein wurde auch als Elixier oder Universaltinktur bezeichnet, hatte die Eigenschaft einer heilenden und wiederherstellenden Heilsubstanz und wurde gleichzeitig von den Alchemisten als „animal“ definiert, woraus sich wahrscheinlich auch die Vorstellung des Homunculus als ergab „und tatsächlich werden in alchemistischen Schriften der Stein der Weisen und der Homunculus oft einander gleichgesetzt“.[22]

Die „Alchemia transmutatoria“ war ein mühseliges Verfahren und genau wie der „aus der prima materia hervorgehende ,Stein der Weisen‘“ muss auch der Homunculus als „menschliches Symbol“ für den lapis in der Phiole entstehen und die gleichen Entwicklungsstufen durchmachen.[23] Die Versuche wurden vor allem mit besonderen abgeschlossen Gefäßen durchgeführt und Beobachtungen oft mit dem menschlichen Erfahrungswert gleichgesetzt, „als Sinnbilder seelischer Läuterung“.[24] Vor allem Farberscheinungen spielten bei der Umwandlung und dem stattfindenden Prozess bis zum Erlangen des erhofften Endproduktes, dem Opus Magnum[25], eine entscheidende Rolle. Auch Goethe weist in seiner Farbenlehre auf die Bedeutung der Farben hin, da sie auf „Übergänge […] und Verwandlungen hindeuteten“.[26] Ein wichtiges Verfahren war neben der Destillation und Sublimation, vor allem die „Putrefactio“ (nigredo), die

Verwesung oder Fäulung, - aus der im Sinne von Goethes ´Stirb und werde´ - das neue Leben im Kolbenverschluss entstehen soll, sobald das Feuer darunter, nach dem richtigen Sternenstand, seine richtige Stunde gehabt hat und auch gewisse Farbenerscheinungen […] das Nahen des erscheinenden Übergangs angekündigt haben.[27]

Vor allem die Zusammenführung verschiedener Elemente, die auch als „chymische Hochzeit“ bezeichnet wurde spielte eine wichtige Rolle. Edmund O. von LIPPMANN gibt in seinem Buch Entstehung und Ausbreitung der Alchemie einen aufschlussreichen Hinweis:

Die Anschauung, daß die chemische Verbindungen als Ergebnis einer Zeugung anzusehen sei, einer Vermählung männlicher und weiblicher Bestandteile [und] das in vielen Hinsichten verwendbare Bild der ehelichen Vereinigung, als zur Entstehung neuer Individualitäten führend, scheint bei den Griechen sehr alten, nämlich orphischen Ursprungs zu sein.[28]

Generell muss in diesem Zusammenhang auf die gerne verwendete Symbolsprache und die bildhafte Darstellung der chemischer Prozesse, sowie den allegorischen Sprachgebrauch der Alchemisten verwiesen werden, die selbst von sich behaupteten „ sie gefielen sich darin, in Figuren, Symbolen und Analogien zu reden, damit sie nur von den Besonnenen, Frommen und Erleuchteten verstanden würden“.[29] Wahrhaftig war es wohl eher der Versuch der Verschleierung des eigenen Scheiterns. Zugleich liefert es auch einen Hinweis auf das, wie die Schaffung des künstlichen Menschen zu verstehen ist. Ferner war es wirklich eine Schaffung künstlichen Lebens, auch wenn es nicht abzustreiten ist, dass manche Alchemisten womöglich wirklich das Ziel verfolgten. Gerade aufgrund der philosophischen Dimensionen der alchemistischen Kunst, handelt es sich vielmehr um eine bildhafte Darstellung der chemischen Prozesse, um eine Personifikation der Metalle, sowie geschlechtlicher Zuschreibungen dieser.[30]

Zum Teil wird in der Forschung der Neuzeit in der Alchemie weniger der Zweck „um die materielle Läuterung, Reinigung, Sublimation der Stoffe“ gesehen, sondern eher ein symbolischer Wert, das heißt ein, „,Laborieren‘ des innerseelischen Prozesses wegen“.[31] Und so klingt auch in Goethes Erzählung von seiner Beschäftigung mit Öfen und Retorten in „Dichtung und Wahrheit“ […] etwas von jenem feierlichen Bewusstseinszustand nach“.[32]

Erstaunlich ist, dass sich die alchemistischen Ansichten über Jahrhunderte nur wenig änderte, abgesehen von den Ansichten, die sich aus der jeweiligen epochalen Zeitströmung ergab. HARTLAUB bemerkt hier: „Einem eigentlichen Fortschritt mußte [der] ´fossilen Wissenschaft´ schon der Umstand entgegenstehen, da für ihre Anhänger stets das Wort gegolten hat, welches Goethe […], als ´Vermächtnis aussprach[33]:

Das Wahre war schon längst gefunden,

hat edle Geisterschaft verbunden,

Das alte Wahre faß es an![34]

Weiter schlussfolgert er:

Das schizophren anmutende Nebeneinander von brauchbaren chemischen Ansätzen und von mythologisierender ,Chymie‘ war auch schon vor Paracelsus für viele Autoren kennzeichnend und ragt als ein im Grunde zeitloser Charakterzug bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein, wo wir noch bei berühmten Gelehrten ein solches Doppelwesen beobachten müssen.[35]

Und so findet sich auch in Goethes Werken einiges von jener versteckten symbolischen Alchemie.

1.2 Goethe – Ein Alchemist

Goethe hatte sich, vor allem während seiner Frankfurter Krisenzeit ausgiebig mit den Praktiken der königlichen Kunst beschäftigt, was aus Tagebuchaufzeichnungen (Ephemeriden), Berichten in Dichtung und Wahrheit, sowie Briefen an E. Th. Langer zu entnehmen ist.[36] Aufgrund eines Halsgeschwulst kehrte er aus Leipzig in sein Elternhaus nach Frankfurt zurück und erhielt 1768/69 „selbst von dem in alchymistischen Lehren bewanderten Frankfurter Mediziner Dr. Metz ´geheimnisvolle selbstbereitete Arzneien´ eines ´Universalmittel´“.[37] Es war aber vor allem Susanne von Klettenberg, die Goethe auf die alchemistische Kunst aufmerksam machte, sodass auch er sich ausführlich mit den Werken von „Paracelsus, Basilius Balentinus, Georg Welling, Johann Baptist van Helmont und Georg Starkey“ beschäftigte um dann selbst „zu Hause alchemisches Tasten“ zu verrichten.[38]

Auch wenn Goethe sich im Historischen Teil seiner Farbenlehre von 1810 entschieden negativ gegenüber der Alchemie geäußert hat, die Kunst als ein „aus allgemeinen Begriffen entspringendes auf ein gehörigen Naturgrund aufgebautes Märchen bezeichnet“ und die „ewige Ausführung alchymischer Schriften, die mit einem unerträglichen Einerlei, wie ein anhaltendes Glockengeläute, [ihn] mehr zum Wahnsinn als zur Andacht hindrängen“, wird sein alchemistisches Studium und Wirken dennoch, nicht nur für die Laboratiumsszene, sondern für den ganzen Fauststoff von Bedeutung sein, denkt man beispielsweise an die Szene ,Vor dem Tor‘ oder die ,Hexenküche ‘.[39]

Goethe änderte seine Einstellung gegenüber der Alchemie insofern, dass er sich von der Praxis verabschiedet und sich der zum Teil auch ironischen literarischen Verarbeitung seines Wissens zuwendete, denn „es führt zu sehr angenehmen Betrachtungen wenn man den poetischen Teil der Alchymie, wie wir ihn wohl nennen dürfen, mit freiem Geiste behandelt“.[40]

Dieser Satz hat schlüsselhafte Bedeutung für Goethe zu Komplexen, die ihn einst recht buchstäblich, zugleich auch in einem konventikelhaften Sinne ergriffen hatten, während er jetzt das allzu wörtliche Verstandene als poetisch-metaphorische Wirklichkeit begreifen möchte […] und sich ihm mit der allesverstehenden Unbegangenheit des Dichters nähert“.[41]

1.3 Paracelsus Naturphilosophie - Vorlage für Goethes Homunculus-Handlung

Das wohl bekannteste Beispiel der Erzeugung eines Menschen aus der Retorte stammt von Theophrastus Bombastus von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus.[42] Auch wenn Paracelsus sich selbst nicht als Alchemisten bezeichnete und in jener Kunst eher das Fantastische sah: „Wiewol diese philosophei von Aristotele, Alberto, etc beschriben ist, wer will aber glauben den lügnern, die do nicht aus der philosophie reden, das ist aus dem liecht der natur, sondern aus der fantasei?“, war er dennoch bis weit ins 19. Jahrhundert die Legende bei den Alchemisten.[43]

Die Goethe-Forschung rund um die Faustdichtung ist sich weitgehend einig, in Paracelsus Werk generationibus rerum naturalium die Vorlage für Goethes eigenen Entwurf im Faust II gefunden zu haben. Dabei liefert Paracelsus nicht nur die „Rezeptur zur Erzeugung eines Menschen außerhalb des Mutterleibs“, sondern spricht zugleich von einem „humunculum“ und liefert somit den Namen gleich mit. Goethe selbst schreibt in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ von seiner ausführlichen Paracelsus-Lektüre und Karl-Heinz WEIMANN stellt in diesem Zusammenhang passend fest:

Sein Faust trägt manche paracelsischen Züge, und das Drama (konzipiert 1771, spätere Fassung 1808/32) ist übervoll von paracelsischen Gedankegut (alchimistische Begriffe, Makrokosmos-Mikrokosmos-Lehre, Elementargeisterlehre, Homunculuslehre usw.).[44]

Darüber hinaus ermöglicht eine Lektüre rund um die Person des Theophrastus Bombastus von Hohenheim, dessen Geburtsjahr auf 1493 festgeschrieben wird, die „Gelegenheit, ins Innere und in die Tiefen des Denkens dieser Zeit zu schauen“, eine Zeit, in der auch die Fausthandlung angesiedelt ist.[45] Wenn Goethe auf seine Paracelsus-Lektüre hinweist, wird er sich wohl kaum nur auf die Beschreibung der „Generation der homunculi“ beschränkt haben. Durch den Rückgriff auf die Lehre des Paracelsus bedient sich Goethe an dem Wissen und der Kenntnisse, die tatsächlich zur Zeit des Faustus allgemein bekannt waren, um sie dann poetisch in sein Werk einzubauen. Erst durch das Hintergrundwissen wird sich die Konzeption des Homunculus-Aktes ganz erschließen lassen , um später feststellen zu können, wie sehr sich Goethe prinzipiell an Paracelsus Theorien orientierte, diese in seinem Faust einbaute, anpasste oder durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse seiner Zeit erweiterte.

Paracelsus „extrakorporale in-vito-Rezeptur“ beruht auf dem bis ins 18. Jahrhundert anhaltenden „Animalculitsmus“, eine Theorie, die besagte, dass allein das Sperma des Mannes zur Zeugung eines Menschen nötig sei und der Körper der Frau nur als ´Aufbewahrungsort´ für die Reifung des Lebewesens gebraucht werde.[46] Statt des Mutterleibes reiche demnach auch ein entsprechend temperiertes Gefäß, Paracelsus spricht hier von einem Cucurbiten, einem kürbisartigen Gefäß. Weiter sieht er sogar die Möglichkeit, dass Menschen von Tieren geboren werden, allerdings geht er auf den Gedanken nicht näher ein, da dies ohne Ketzerei nicht geschehen könne. Allein „durch Kunst und eines erfahrenen spagirici [47] Geschicklichkeit [könne] ein Mensch wachsen und geboren werden“, in dem das Sperma des Mannes mittels Pferdemist und Wärme einem Fäulnisprozess unterzogen wird. Nach vierzig Tagen entstehe ein dem Menschen einigermaßen gleichsehendes Wesen, allerdings durchsichtig und ohne Korpus. Nach weiteren 40 Wochen guter Pflege, Ernährung mit arcano sanguinis humani [48] und stätiger Wärme entstehe dann ein richtiges menschliches Kind. Allerdings sei es kleiner als ein richtiges Menschenkind, weshalb es als homunculum bezeichnet wird.[49] Dieses menschliche Kind müsse dann auch wie ein richtiges Kind bis zum Verstand großgezogen werden.

Über die erwachsenen Homunculi sagt Paracelsus weiter, dass sie:

Alle heimlichen und verborgenen Dinge wissen, die allen Menschen sonst nicht möglich seyn zu wissen. Dann durch Kunst vberkommen sie Leib, Fleisch, Bein und Blut, durch Kunst werden sie geboren: darumb so wirt jhner die Kunst eyngeleybt vnd angeboren, vnd dörffen es von niemandts lehrnen, sondern man muß von jhnen lehrnen.[50]

Was heute der Esoterik und dem Okkulten zugeschrieben wird, galt im 16. Jahrhundert noch als Wissenschaft und deshalb ist es wichtig, sich „von unseren heutigen Vorstellungen von `Wissenschaft` und [vor allem] von wissenschaftlichen Denken und Arbeiten [zu] verabschieden“.[51] Generell waren die Wissensgebiete im Mittelalter, als auch in der Frühneuzeit viel größer und standen in engem Zusammenhang und so finden sich in den Schriften des Paracelsus neben der Makrokosmos-Mikrokosmos-Lehre „ die weitverzweigte Strömung des Hermetismus, die naturphilosophischen Gedanken der neuplatonischen Überlieferungskette ebenso wie die Ausläufer der mittelalterlichen Scholastik“.[52] Der Mensch als Spitze der Natur stand im Mittelpunkt der Welt und des gesamten Kosmos und gerade diese Weltverbundenheit erklärt warum ein Arzt, wie es Paracelsus war „vertraut sein [musste] mit jenen vier Prinzipien der Medizin, der Philosophia, Astronomia, Alchimia, und Physica“.[53] Als „Universalgelehrter“ war der christlich bekennende Paracelsus hochgebildet, verfügte eine Breite an Kenntnissen und teilte sich somit einige Wesenszüge mit Goethe als auch mit Faust.[54] Der Naturphilosoph vereint in seinen Theorien Glauben und das Wissen seiner Zeit und versucht die biblische Schöpfungslehre, die in der Natur mündete mit der Wissenschaft zu deuten.

Die Grundelemente der Welt und somit des Lebens waren, so heißt es in der Vier-Elementen-Lehre Feuer, Wasser, Erde und Luft. Der Mensch war ein Teil dieses Elementargefüges, „der ,äußere‘ Makrokosmus spiegelte sich im ,inneren‘ Mikrokosmos des Menschen wieder, demnach sind „alle Elemente der Welt […] auch im Menschen, und alles ist eine Aktion, eine einzige elementare Interaktion“.[55]

Geprägt von astrologischem Denken, war die Erde ohne die Impression des Himmels undenkbar und so waren, wie die Elemente für den Leib, die Sterne für den Geist die führende Instanz. Das wichtigste Element war dabei das Wasser: „Aus Wasser ward im Ursprung die Welt. Wasser ist die archetypische Matrix aller Kreaturen. […] Und so ward Leben aus dem Wasser in Fülle gesät über die Erde“.[56]

[...]


[1] GOETHE, Johann Wolfgang von: Faust II. In: Faust Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. (Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in 40 Bänden, hier Band 7/I) Frankfurt am Main 19946 (Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 7/I). Im Folgenden abgekürzt mit Faust II, S. 278, V. 6848-51.

[2] Ebd. S. 278, V. 6836.

[3] Vgl. OSTEN, MANFRED: Goethes künstlicher Mensch. Zur Modernität des Goetheschen Homunculus. In: Homunculus. Der Mensch aus der Phiole. Symposium der Goethe-Gesellschaft Heidelberg. Herausgegeben von Letizia Mancino-Cremer und Dieter Borchmeyer. Neckargemünd und Wien 2003. (GegenSatz, Band 6), S. 11-32.

[4] Vgl. KOSTRETSKA, Antonia: Der künstliche Mensch. Vergleich auf der Grundlage der Texte von Goethe, Shelley und Bulgakow. München 2011.

[5] Ebd. S. 33.

[6] Ebd. S. 35.

[7] ARENS, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Heidelberg 1989. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, 86), S. 372.

[8] Vgl dazu: BIRKHAN, Helmut: Bibliographische Übersicht. In: Otto Höfler: Homunculus – Eine Satire auf A.W. Schlegel. Goethe und die Romantik. Wien 1972. S. 335-351.

[9] LANGE, Victor: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethes Dramen. Neue Interpretation. Herausgegeben von Walter Hinderer. Stuttgart 1980, S. 282.

[10] Vgl. dazu näher: HÖFLER, Otto: Homunculus eine Satire auf A.W. Schlegel. Goethe und die Romantik. Wien 1772./ DIENER, Gottfried: Fausts Weg zu Helena. Urphänomen und Achetypus. Darstellung und Deutung einer symbolischen Szenenfolge aus Goethes Faust. Stuttgart 1961./ Hertz, Gottfried Wilhelm: Natur und Geist in Goethes Faust. Frankfurt am Main 1931.( Deutsche Forschungen Band 25).

[11] Vgl. u.a. BIRKHAN 1972 oder ARENS 1989.

[12] ARENS 1989, S. 373.

[13] Vgl. KOSTRETSKA 2005, S. 33.

[14] Vgl. ARENS 1989.

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. u.a. HARTLAUB, Gustav Friedrich: Der Stein der Weisen. Wesen und Bilderwelt der Alchemie. (Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg zur deutschen Kunst- und Kulturgeschichte, Band 11, Bilder aus deutscher Vergangenheit). München 1959.

[17] MÜLLER-JAHNCKE, Wolf-Dieter/PAULUS, Julian: Die Stellung des Paracelsus in der Alchemie. In: Paracelsus (1493-1541). „Keines andern Knecht…“. Hg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer und Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 149.

[18] HARTLAUB 1959, S. 20.

[19] Vgl. HARTLAUB 1959, S. 20.

[20] Es ist ein Nebeneinander vieler verschiedener Begrifflichkeiten. Ob filius philosophorum, Panazee, Salvator, lapis philosophorum, alles Bezeichnungen für den Stein der Weisen.

[21] Siehe: HARTLAUB 1959, sowie SCHÖNE, Albrecht (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe Faust. Kommentar. Frankfurt am Main 19946. (Johann Wolfgang Goethe, sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in 40 Bänden, Band 7/II), S. 237.

[22] JUNG, Carl Gustav: Faust und die Alchemie. Vortrag im Psychologischen Club, Zürich, vom 8. Oktober 1949. In: GERBER-MÜNCH, Irene: Goethes Faust. Eine tiefenpsychologische Studie über den Mythos des modernen Menschen. Küsnacht 1997, S. 22. Sowie DIENER, Gottfried: Fausts Weg zu Helena. Urphänomen und Achetypus. Darstellung und Deutung einer symbolischen Szenenfolge aus Goethes Faust. Stuttgart 1961, S. 249.

[23] Siehe u.a LOHMEYER, Dorothea: Faust und die Welt. Der zweite Teil der Dichtung. Eine Anleitung zum Lesen des Textes. München 1975. Sowie DIENER 1961, S. 249.

[24] DIENER 1961, S. 250.

[25] Opus Magnum bezeichnet das ,große Werk‘ der Alchemisten. Darunter ist allgemein das erhoffte Endprodukt zu verstehen. Vgl. dazu beispielsweise DIENER 1961.

[26] HARTLAUB, Gustav Friedrich: Goethe als Alchemist. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 3. Folge, 48. (1954), S. 28.

[27] Ebd. S. 19.

[28] LIPPMANN, Edmund O. von: Entstehung und Ausbreitung der Alchemie. Dritter Band. Frankfurt am Main 1954, S. 92.

[29] HARTLAUB 1959, S. 5.

[30] LIPPMANN 1954, S. 92.

[31] HARTLAUB 1954, S. 25.

[32] HARTLAUB 1959, S. 14f.

[33] HARTBAUB 1959, S. 22 ff.

[34] Vermächtnis ist ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1829.

[35] HARTLAUB 1959, S. 24.

[36] Vgl. HARTLAUB 1954.

[37] SCHÖNE 1994, S. 237

[38] ISHIHARA, Aeka: Goethes Buch der Natur. Ein Beispiel der Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in der Literatur seiner Zeit. Würzburg 2005, S. 105.

[39] HARTLAUB 1954.

[40] HARTLAUB 1959, S.9.

[41] HARTLAUB, Gustav Friedrich: Goethe als Alchemist. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 3. Folge, 48. (1954), S. 28.

[42] Vgl. ISHIHARA 2005.

[43] MÜLLER-JAHNCKE 1993, S. 149.

[44] WEINMANN, Karl-Heinz: Paracelsus in Literatur und Dichtung. In: Paracelsus (1493-1541). „Keines andern Knecht…“. Hg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer und Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 358.

[45] GOLDAMMER, Kurt: Die Stellung des Paracelsus in den Wissenschaften. In: Paracelsus (1493-1541). „Keines andern Knecht…“. Hg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer und Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 63.

[46] SCHÖNE, Albrecht (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe Faust. Kommentare. Frankfurt am Main 19946. (Johann Wolfgang Goethe, sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in 40 Bänden, Band 7/II), S. 504f.

[47] Genitiv von spagiricus: Von Paracelsus geprägte Bezeichnung für den Alchimisten, der aus Naturstoffen Arztneimittel zuzubereiten weiß. Siehe dazu: DRUX, Rudolf (Hrsg.): Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov. Stuttgart 1988, S. 15.

[48] Ernährung mit dem Geheimnis des menschlichen Blutes.

[49] DRUX, Rudolf (Hrsg.): Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov. Stuttgart 1988.

[50] ARENS 1989, S. 372.

[51] Ebd. S. 63.

[52] SCHIPPERGES, Heinrich: Das Menschenbild des Paracelsus. I In: Paracelsus (1493-1541). „Keines andern Knecht…“. Hg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer und Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 181.

[53] Ebd. S. 184.

[54] Vgl. GOLDAMMER 1993, S. 63.

[55] SCHIPPERGES 1993, S. 183. /MÜLLER-JAHNCKE 1993, S. 150.

[56] Ebd. S. 181.

Fin de l'extrait de 38 pages

Résumé des informations

Titre
Die Funktion der Alchemie und der naturphilosophisch-biologischen Erkenntnisse Goethes in Bezug auf die Figur des Homunculus in "Faust II"
Université
University of Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Cours
Goethes Faustdichtung I und II
Note
1,0
Année
2016
Pages
38
N° de catalogue
V349711
ISBN (ebook)
9783668366503
ISBN (Livre)
9783668366510
Taille d'un fichier
676 KB
Langue
allemand
Mots clés
funktion, alchemie, erkenntnisse, goethes, bezug, figur, homunculus, faust
Citation du texte
Anonyme, 2016, Die Funktion der Alchemie und der naturphilosophisch-biologischen Erkenntnisse Goethes in Bezug auf die Figur des Homunculus in "Faust II", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/349711

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