Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Chancengleichheit und Bildung
2.1. Begrifflichkeit „Chancengleichheit“
2.2. Bildung als Inbegriff von Chancenungleichheit?
3. Ungleichheiten der Bildungschancen
3.1. Ausmaß und Verbreitung
3.2. Erklärungsansätze
3.3. Ursachen
3.3.1. Familiäre Aspekte
3.3.2. Institutionelle Aspekte
4. Ausgleich der Chancenungleicheiten durch Ganztagsschulen?
4.1. Was sind Ganztagsschulen? Bedeutung.
4.1.1. Verschiedene Formen der Ganztagsschule im deutschen Bildungssystem
4.2. Entwicklung von Ganztagsschulen
4.3. Chancen, Erwartungen und Probleme der Ganztagsschule
4.3.1. Entlastung der Familien
4.3.2. Ganztagsschule als Ort des gemeinsamen Lernens
4.3.3. Individuelle Förderung
4.3.4. Unterrichtsveränderungen
4.3.5. Tatsächlicher Nachteilsausgleich oder halbe Sache?
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ganztagsschulen sind seit vielen Jahren immer wieder präsent in bildungspolitischen Diskussionen und in den Medien. Dennoch wird das Wort Ganztagsschule hierzulande oft immer noch mit dem Gedanken an eine Schule, die den Schülerinnen und Schülern ein verpflichtendes Angebot darstellt, sie hinsichtlich ihrer Freizeitaktivitäten einschränkt und ihnen jegliche gemeinsame Zeit mit der Familie raubt, verknüpft. Diese negative Konnotation der Ganztagsschule ist vor allem hier in Deutschland noch verbreitet. In anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel Frankreich, ist die Ganztagsschule ein völlig selbstverständlicher Faktor des Bildungssystems, der mit wenig negativer Bewertung einhergeht. In Frankreich haben Ganztagsschulen die längste Tradition in Europa, deshalb ist es für Französinnen und Franzosen kaum verständlich, dass in Deutschland und anderen Ländern Europas der Unterricht überwiegend nur am Vormittag stattfindet und die Ganztagsschule bisher keine Tradition hat.[1]
„Traditionell übernimmt die Schule in Frankreich Bildungs- und Erziehungsaufgaben in einem Maße, wie sie in anderen Ländern, vor allem mit Halbtagsschulen, allein den Familien vorbehalten sind.“[2]
Der Ausbau und die Differenzierung der Ganztagsschulen bei uns in Deutschland sind sehr vielfältig. Viele verschiedene Ausführungen des ganztagsschulischen Angebots werden verwirklicht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Ausbau von Ganztagsangeboten enorm angestiegen ist. Doch warum ist die Tendenz zu ganztagsschulischen Angeboten steigend?
Als Ende 2001 die Ergebnisse der international vergleichenden PISA-Studie 2000 veröffentlicht wurden, folgten nicht nur zahlreiche Diskussionen, sondern auch das Angebot an Ganztagsschulen wurde als Reaktion auf die Ergebnisse erheblich ausgebaut. Anhand der Resultate der PISA-Studie wurde deutlich, dass in Deutschland ein Bedarf an Bildungs- und Fördermöglichkeiten besteht, denn das Bildungsniveau der Schülerinnen und Schüler schien eindeutig zu gering zu sein. Es wurde außerdem erkennbar, dass keinerlei Chancengleichheit für Kinder unterschiedlicher sozialer und lokaler Herkunft gegeben ist.[3]
So äußerte die Kultusministerkonferenz Folgendes als Zielsetzung der Ganztagsschule:
„[…]Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen.“[4]
Der Bund hat schließlich mit dem vier Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung in 2003 die Grundlage geschaffen, die Bundesländer dazu anzuhalten, Ganztagsangebote in öffentlichen Schulen auszubauen.[5] Durch diesen Ausbau sollten unter anderem die Rahmenbedingungen für schulisches Lernen und die Förderungen für schwache, aber auch für starke Schülerinnen und Schüler verbessert werden. Weitere Begründungen für einen Ausbau liegen in der kontinuierlich ansteigenden Erwerbstätigkeit von jungen Frauen und der arbeitsmarktpolitischen Konnotation von Ganztagsschulen.[6]
Der Ausbau der Ganztagsschulen in der gesamten Bundesrepublik bringt eine große Veränderung und somit Einwirkung auf das Schulsystem sowie auf das außerschulische Alltagsleben von Schülerinnen und Schülern mit sich.[7] Verbringen Kinder und Jugendliche mehr Zeit in der Schule, verändern sich möglicherweise ihre Freizeitaktivitäten und Beziehungen zu Freunden, Eltern und Familie außerhalb der Schule. Dennoch sollten Kinder und Jugendliche, unabhängig vom Einkommen oder der Herkunft ihrer Eltern, den Herausforderungen der Gesellschaft gewachsen sein. Dafür sollten sie einen guten Schulabschluss erreichen.[8] Damit dies gelingt, benötigen die Schülerinnen und Schüler Begleiter, die sie beim erfolgreichen Lernen unterstützen. Ganztagsschulen stellen diese Begleiter in der Regel - für alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen - in Form von ausgebildeten Lehrkräften bereit. Diese stehen den Schülerinnen und Schülern auch am Nachmittag zur Seite. Außerdem ist es ein Anliegen der Pädagoginnen und Pädagogen sich bei der Gestaltung des Schulalltags weitestgehend an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler zu orientieren.
14.500 ganztägig geöffnete Schulen wurden in 2010 bundesweit verzeichnet.[9] Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte aller Schulen im Primar- und Sekundar-I-Bereich über ein ganztägiges Angebot verfügen.[10] Die zu Beginn genannten starken Vorbehalte gegenüber der Ganztagsschule haben sich dadurch inzwischen vielfach relativiert. Allerdings gibt es immer wieder Kritiker der ganztägigen Beschulung. So zum Beispiel der ehemalige Minister für Arbeit und Soziales, Norbert Blüm. Er kritisierte 2012 öffentlich die Ganztagsschule. Blüm äußerte die Befürchtung, dass den Schülerinnen und Schülern möglicherweise die freie Zeit fehlen könne, um Freundschaften zu pflegen, eigene Erfahrungen zu machen und außerhalb des Klassenraums zu lernen.[11]
Doch scheint die Ganztagsschule vermeintlich eins sicherzustellen – Chancengleichheit. Während im privaten Bereich Kinder und Jugendliche aus bildungsferneren Schichten nur selten die Möglichkeit haben, in einem Verein tätig zu sein oder zu lernen, wie man ein Instrument spielt, haben diese Schülerinnen und Schüler im System der Ganztagsschule exakt die gleichen Möglichkeiten wie Kinder aus bildungsnahen Familien. Kinder und Jugendliche haben also scheinbar die Möglichkeit, unabhängig ihrer Herkunft oder dem Einkommen der Eltern, individuell, abhängig von ihren persönlichen Interessen, gefördert zu werden. Auch das gemeinsame Lernen im herkömmlichen Unterricht scheint für alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Voraussetzungen zu bieten. Jedem Einzelnen soll die Lehrkraft gleichermaßen - auch am Nachmittag - unterstützend zur Seite stehen. Somit wird die sozialerzieherische Funktion der Schule erheblich weiterentwickelt. Doch bringt diese Entwicklung automatisch mehr Chancengleichheit mit sich?
In dieser Arbeit wird sich exakt mit dieser Frage nach mehr Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem durch Ganztagsschulen beschäftigt. Es soll geklärt werden, ob durch Ganztagsschulen im deutschen Bildungssystem mehr Chancengleichheit für Schülerinnen und Schüler herrscht. Um diese Frage zu diskutieren und anschließend eine Antwort finden zu können, muss zunächst geklärt werden, was unter „Chancengleichheit“ (2.1.) zu verstehen ist. Unter 2.2. soll außerdem erläutern werden, in welchem Verhältnis Bildung und Chancengleichheit stehen. Unter Punkt 3. soll auf die Ungleichheiten der Bildungschancen eingegangen werden. Um die vorangestellte Frage zu klären, ist es außerdem wichtig zu wissen, wie weit und in welchem Ausmaß Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem verbreitet sind und welche Erklärungen und Ursachen es dafür gibt. Diesen Fragen wird unter 3.1., 3.2. und 3.3. nachgegangen. Die wichtigste Frage dieser Arbeit wird unter 4. analysiert. Vorerst soll deutlich gemacht werden, was generell unter Ganztagsschulen zu verstehen ist und welche verschiedenen Formen der Ganztagsschule in der Bundesrepublik Deutschland verbreitet sind (4.1. und 4.1.1.). Im Anschluss daran wird unter 4.2. die bundesweite Entwicklung der Ganztagsschulen dargestellt. Chancen und Probleme von Ganztagsschulen sollen unter 4.3. näher erläutert werden. Hierbei scheint es sinnvoll zu sein, genauer zu unterscheiden. Dieser Punkt wird also des Weiteren in 4.3.1. Entlastung der Familien, 4.3.2. Ganztagsschule als Ort des gemeinsamen Lernens, 4.3.3. Individuelle Förderung, 4.3.4. Unterrichtsveränderungen und 4.3.5 Tatsächlicher Nachteilsausgleich oder halbe Sache?! unterteilt. Unter Punkt 4.3.5. wird sich konkret mit der Frage nach mehr Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem durch Ganztagsschulen beschäftigt. Hier sollen erste Antworten gefunden und diskutiert werden. Im abschließenden fünften Kapitel werden schließlich die bisher dargestellten Argumente und Antworten zusammengeführt und in einer Diskussion deren Gehalt abgewogen.
2. Chancengleichheit und Bildung
2.1. Begrifflichkeit „Chancengleichheit“
Der Begriff der Chancengleichheit ist sehr vage formuliert und wird vielfältig eingesetzt. Dennoch spielt er in Politik und Pädagogik eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Diskussionen geführt, Forderungen gestellt, Aussagen über die Verletzung der Chancengleichheit getroffen und Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit entwickelt.[12] Wird der Begriff „Chancengleichheit“ in Bezug auf das deutsche Bildungssystem verwendet, bezieht er sich normativ gesehen auf die faktischen Differenzen im Bildungssystem.[13] Es wird angestrebt, vorhandene Unterschiede im Zugang der Ressource Bildung zwischen Schülerinnen und Schülern verschiedener Herkunft vollkommen auszugleichen. Für alle sollen die gleichen Chancen auf Bildung und Selbstverwirklichung bereitgestellt werden, unabhängig von privaten oder familiären Gegebenheiten.
„Der normative und politische Diskurs über Chancengleichheit ist vielfältig, und eine wichtige Aufgabe für die Beurteilung realer Bildungsungleichheiten liegt darin, genau zu bestimmen, mit welchen Indikatoren welcher Begriff von Chancengleichheit zugrunde gelegt wird.“[14]
Die Analyse, beziehungsweise die empirische Überprüfung, bedarf also vieler verschiedener komplexer Maßnahmen, um herauszufinden, wie man die Bildungschancen verbessern und Benachteiligungen verhindern kann, damit völlige Chancengleichheit und somit Einheitlichkeit der Bildungschancen gegeben sind.
2.2. Bildung als Inbegriff von Chancenungleichheit?
Kindern und Jugendlichen wird in der heutigen Gesellschaft eine immer größere Selbstständigkeit abverlangt.[15] Schulen oder andere pädagogische Einrichtungen bilden dabei eine wichtige Funktion, da sie die Chancengleichheit sichern, Lern- und Bildungsprozesse vorantreiben und genau diese Selbstständigkeit den Schülerinnen und Schülern nahe bringen müssen. Es ist unbedingt anzustreben, dass alle Kinder und Jugendlichen diese und weitere Kompetenzen gleichermaßen erlernen können, um Chancenungleichheiten zu vermeiden. Doch wie sieht es in der Realität aus? Werden tatsächlich alle Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise gefordert und gefördert, unabhängig ihrer sozialen und örtlichen Herkunft?
Betrachtet man eine gewöhnliche Halbtagsschule ohne ganztagsschulisches Angebot, stellt sich zunächst die Frage, wie eine Chancengleichheit sichergestellt werden kann, wenn Kinder und Jugendliche ihre Hausaufgaben zu Hause in Eigenregie erledigen müssen. Auch auf Klausuren und sonstige Tests müssen sie sich von Beginn an selbstständig zu Hause vorbereiten. Für Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien oder Familien mit Migrationshintergrund stellt dies meist eine große Hürde und erhebliche Benachteiligung dar. Oft benötigen Schülerinnen und Schülern diverse Hilfestellungen, weil das selbstständige Arbeiten noch deutliche Schwächen aufweist. Eltern aus bildungsfernen Familien können ihren Kindern diese unterstützende Tätigkeit meist nicht gewähren, und sie sind auf sich allein gestellt. Aber auch Schülerinnen und Schüler aus bildungsnahen Familien können nicht immer mit der beratenden Tätigkeit ihrer Eltern rechnen, zum Beispiel dann nicht, wenn diese berufstätig sind. Es wird also deutlich, dass keineswegs alle Kinder und Jugendlichen die gleiche Unterstützung von ihren Eltern erhalten können. Diejenigen, die aus bildungsnahen Familie stammen und deren Eltern möglicherweise nicht in Vollzeit arbeiten, sind klar im Vorteil, betrachtet man ein halbtagsschulisches Angebot. Es scheint also in diesem Falle eine klar zu erkennende Chancenungleichheit im Bildungssystem zu herrschen. Deutlich wird das vor allem daran, dass immer noch viele Schulen lediglich ein Halbtagsangebot zur Verfügung stellen.
Bildung stellt eine der wichtigen Säulen zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen dar. Ob die Kinder und Jugendlichen Bildungserfolge erzielen können, hängt von individuellen, aber auch von sozialen Gegebenheiten wie den familiären Lebensumständen, Schule und Einflüssen von Gleichaltrigen ab.[16] Einen wichtigen Baustein für diesen Erfolg könnte durch die Entwicklung eines integrierten Lebens- und Bildungsraumes aller Schülerinnen und Schüler gelegt werden. Es könnte auf diese Weise allen eine ähnliche Ausgangslage geboten werden. Erschaffen könnte man einen solchen integrierten Lebens- und Bildungsraum zum Beispiel durch die vermehrte Einführung von Ganztagsschulen.[17]
Um eine vollkommene Chancengleichheit an Schulen gewährleisten zu können, bedarf es außerdem einer Zusammenarbeit der Schulen mit Sozialarbeitern und Jugendhilfe.[18] Durch eine enge Zusammenarbeit beider Parteien kann sichergestellt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler bei Problemen gehört und verstanden werden. Des Weiteren können auch Probleme aus dem privaten oder familiären Bereich aufgenommen und gegebenenfalls an die Fachlehrkraft weitergegebenen werden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Fachlehrkräften und Sozialpädagogen ist kaum noch zu umgehen.
Erfreulich und wichtig ist auch die inzwischen große Zusammenarbeit von Schulen mit außerschulischen Partnern oder Vereinen.[19] Von der begrenzten Öffnung der Schule hin zu einer lebensweltorientierten Schulentwicklung kann allen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen der Zugang zu außerschulischen Aktivitäten gewährleistet werden und sich vielleicht für den einen oder anderen der Schülerinnen und Schüler eine Tür öffnen. Diese Kooperation kann durchaus positive Auswirkungen auf Berufsorientierung oder Freizeitaktivitäten der Kinder und Jugendlichen haben.
Betrachtet man all diese Fakten, ist zu erkennen, dass sich im deutschen Bildungssystem nach PISA 2001 doch Schritt für Schritt einiges geändert und getan hat, um die Bildungsungleichheiten auszugleichen oder besser gesagt zu verringern. Doch ist das tatsächlich genug? Noch immer gibt es zahlreiche Schulen, die keinerlei ganztagsschulisches Angebot zur Auswahl stellen. Aber die Tendenz zum Ausbau von Ganztagsschulen ist noch immer kontinuierlich steigend.
3. Ungleichheiten der Bildungschancen
In Deutschland ist die Abhängigkeit der Schulbildung von der sozialen Herkunft im internationalen Vergleich besonders groß.
„Die Lesekompetenz eines 15-Jährigen, dessen Vater oder Mutter der oberen Dienstklasse angehört, liegt im internationalen Test von PISA2000 bei 538 Punkten; ist der Haushaltsvorstand un- oder angelernter Arbeiter / Arbeiterin liegt die Lesekompetenz ihres Kindes bei 432 Punkten. Diese Differenz entspricht dem Unterschied des mittleren Leistungsniveaus zwischen Hauptschule und Realschule.“[20]
3.1. Ausmaß und Verbreitung
Ungleichheiten der Bildungschancen sind weit verbreitet und in allen europäischen Ländern zu finden. Dennoch rückte unter anderem Deutschland im Jahr 2000 in den Fokus. Durch die PISA-Studie wurde deutlich, dass das schlechte Abschneiden Deutschlands auf Ungleichheiten der Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern zurückzuführen ist. Es kann außerdem belegt werden, dass sich in Deutschland durch alle Schichten hinweg Ungleichheiten wiederfinden lassen und diese unterschiedlich stark in den verschiedenen Bundesländern, Schulformen und Bildungseinrichtungen vertreten sind. In besonderer Form sind Bildungsungleichheiten bei Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen oder zugewanderten Elternhäusern vertreten. Leider ist es dem deutschen Bildungssystem bis dato nicht gelungen, den Schülerinnen und Schülern eine hundertprozentige Gleichheit der Bildungschancen zu gewähren. Ungleichheiten, die während der schulischen Laufbahn von Schülerinnen und Schülern auftreten, bilden die Grundlage für weitere curriculare Ungleichheiten.[21]
„Das Ausmaß der sozialen Ungleichheit im Bildungszugang wird anhand des Einflusses der sozialen Herkunft auf den Besuch eines bestimmten Schulbildungsganges beschrieben. In Deutschland sind die besuchte Schulart in der Sekundarstufe I und der dort erworbene Schulabschluss zentrale Indikatoren für die postsekundären Berufs- und Bildungsmöglichkeiten. Weniger die reinen Kompetenzen in bestimmten Schulfächern, als die Art des Schulabschlusses determinieren den Zugang zu bestimmten Bildungsgängen.“[22]
Die Ungleichheiten dominieren insbesondere im Zugang zum Gymnasium. Währenddessen die Ungleichheiten zwischen den unteren Bildungsgängen erheblich abgenommen haben. Um das Ausmaß der Ungleichheiten in den unterschiedlichen Bundesländern messen zu können, hat man Schülerinnen und Schüler verschiedener sozialer Herkunft hinsichtlich ihrer mathematischen Kompetenzen, Lesekompetenzen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen überprüft.[23] Der Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern ist ein üblicher Indikator zur Messung von Ungleichheiten. Forschungen haben ergeben, dass zum Beispiel die Lesekompetenz von Neuntklässlern im Jahr 2003 erheblich zwischen den verschiedenen Bundesländern variiert. Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen weisen hinsichtlich der Lesekompetenz die höchsten, und Hamburg, Bremen und Berlin die niedrigsten Kompetenzwerte auf.[24] Bei der Mathematikkompetenz sieht es ähnlich aus. Die höchsten Kompetenzwerte weisen Sachsen und Bayern, gefolgt von Baden-Württemberg und Thüringen, auf. Die niedrigsten mathematischen Kompetenzwerte erlangten Bremen, Hamburg und Berlin. Auch bei der Überprüfung von naturwissenschaftlichen Kompetenzen belegen Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg die besten Plätze und Hamburg, Bremen und Berlin bilden das Schlusslicht.[25] Auffällig ist, dass in allen drei Kompetenzbereichen die gleichen Bundesländer Spitze und Schluss bilden. Die Stadtstaaten beispielsweise scheinen demnach keine fachspezifischen und individuellen Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler anzubieten. Es kann also durchaus – unabhängig von den Schulfächern – von leistungsschwachen und leistungsstarken Bundesländern gesprochen werden.[26]
Auffällig ist auch, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die einen gymnasialen Bildungsgang besuchen, erheblich zwischen den Ländern schwankt. In der PISA-E Erhebung 2003 weist zum Beispiel Rheinland-Pfalz mit 27,79 Prozent den geringsten Anteil von Gymnasiasten auf. Berlin hingegen den höchsten mit 36,22 Prozent.[27]
Es wird davon ausgegangen, dass in städtisch geprägten Regionen die Bildungsungleichheit geringer ist als in ländlichen Regionen. Das liegt unter anderem daran, dass die schulische Vielfalt und Infrastruktur in Städten besser ausgebaut ist. Für Schülerinnen und Schüler existieren also bessere Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Schulen und eine einfachere Erreichbarkeit der unterschiedlichen Schulen.[28] In Städten sind außerdem mehr Alternativen für höher qualifizierte Berufe gegeben.
„Jenseits der Stadtteile und Umlandregionen der privilegierten Mittelschicht wächst in den Ballungskernen bereits heute die Mehrheit der Kinder unter benachteiligten und benachteiligenden Lebensbedingungen auf. Das hat weit reichende sozialräumliche Folgen auch für Bildungsbeteiligung.“[29]
Auch zwischen den einzelnen Bundesländern sind signifikante Unterschiede hinsichtlich der Ungleichheit von Bildungschancen zu erkennen. Diese spiegeln sich sowohl in der Art als auch im Ausmaß der sozialen Bildungsungleichheiten wider. Demnach kann nicht von einem einheitlichen Konzept aller Bundesländer im Umgang mit sozialer Bildungsungleichheit ausgegangen werden. Diverse Forschungen und ‚Analysen haben ergeben, dass sich in der Bundesrepublik gleich zwei verbreitete Ungleichheiten definieren lassen. Zum einen die soziale Ungleichheit im Bildungszugang und zum anderen die soziale Ungleichheit im Bildungsprozess.[30] Soziale Ungleichheit im Bildungszugang beschreibt die Abhängigkeit des Gymnasialbesuchs von der sozialen Herkunft. Die soziale Ungleichheit im Bildungsprozess definiert sich durch die Abhängigkeit des Kompetenzerwerbs der Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I von der sozialen Herkunft. Besonders in Bayern wird der Unterschied dieser beiden Arten sehr deutlich. In Bayern besteht außerdem eine starke Abhängigkeit der sozialen Herkunft zum gymnasialen Bildungsgang.[31] Diese Erkenntnis resultiert unter anderem daraus, dass die bildungspolitische Ausgestaltung der Bundesländer das Ausmaß der sozialen Bildungsungleichheiten beeinflusst. Die insgesamt doch eher geringe, aber dennoch vorhandene Variation im Ausmaß von Bildungsungleichheiten kann durch bildungspolitische Prozesse der jeweiligen Länder und durch soziokulturelle Bedingungen der Länder erklärt werden. Es können allerdings auch noch zusätzliche Faktoren auf die Unterschiede der Bildungsungleichheiten wirken.[32]
Da das Schulsystem in Deutschland hierarchisch aufgebaut ist und somit auch die zu erlangenden Bildungsabschlüsse eine erkennbare Hierarchie darstellen, haben diese eine sehr hohe Bedeutung für die postsekundären Bildungs- und Berufschancen. Allerdings zeigen auch einige Wissenschaftler auf, dass die Bedeutung des Schulabschlusses für den Einstieg in die Berufsausbildung regional sehr unterschiedlich ist.[33] Ungleichheiten finden sich also auch in der generellen Struktur des deutschen Schulsystems und in der Vielfalt der Bildungsabschlüsse wieder. Um diese Ungleichheiten bewerten zu können, muss jedoch beachtet werden, welche Auswirkungen die Bildungsabschlüsse auf individuelle berufliche Entwicklungen in den jeweiligen Ländern haben.[34] Die unterschiedlichen Bildungsabschlüsse ermöglichen in den verschiedenen Bundesländern also auch unterschiedliche Übergänge zu weiteren Bildungsabschlüssen. Die Offenheit der Bildungsinstitutionen ist demnach zwischen den Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt.[35]
„In Baden-Württemberg etwa konnten 30 Prozent der Schüler im Schuljahr 2002/2003, die im Vorjahr einen Hauptschulabschluss erreicht haben, diesen durch den Besuch von Aufbauklassen verbessern. Es bleibt also die Frage, welche Bedeutung Bildungsabschlüsse bzw. Kompetenzerwerb – zwei offensichtlich unterschiedliche Erfolgsfaktoren im deutschen Bildungswesen – für das gesellschaftliche Fortkommen in den Bundesländern haben.“[36]
Im Hinblick auf die Hauptschule wurde außerdem festgestellt, dass Kinder mit Migrationshintergrund, also mit mindestens einem Elternteil, welches im Ausland geboren wurde, häufiger eine Hauptschule anstatt einer höheren Schulart besuchen und häufiger das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen als andere Schülerinnen und Schüler.[37] Das liegt unter anderem daran, dass die ethnische Herkunft häufig mit der sozialen Herkunft zusammen hängt und demnach auch mit den Bildungsressourcen und Sozialkapital.[38] Auch hier gibt es signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Bundesländern. Der Anteil der Neuntklässler mit Migrationshintergrund lag beispielsweise in Sachsen-Anhalt im Jahr 2003 bei lediglich 4,7 Prozent während er in Hamburg bei 41,9 Prozent lag. Insgesamt ist zu sagen, dass in den ostdeutschen Bundesländern der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund geringer ist als in den westdeutschen Bundesländern.[39] Dies stellt einen erheblichen Einfluss auf die Ungleichheiten der Bildungschancen dar. Besonders für die Länder mit einem hohen Migrationsanteil ist es enorm wichtig, wesentliche Beiträge zur Herstellung von Chancengleichheit zu betreiben.
3.2. Erklärungsansätze
Die Erklärungsansätze der Ungleichheiten der Bildungschancen sind sehr komplex und vielfältig. Das liegt unter anderem daran, dass viele verschiedene Erklärungen in Realität zusammen einhergehen und auf die Schülerinnen und Schüler wirken.
Kinder und Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft erfahren auf unterschiedliche Art und Weise Unterstützungen hinsichtlich ihrer zu bewältigenden schulischen Aufgaben. Die soziale Herkunft von Schülerinnen und Schülern lässt sich durch die Berücksichtigung des sozioökonomischen Status beider Elternteile bewerten.[40] Außerdem wirkt die Klassengröße auf die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler. Analysen zeigen, dass je größer die Klassen in einem Bundesland sind, desto stärker ist der Besuch eines gymnasialen Bildungsgangs von der sozialen Herkunft abhängig.[41] Auch der Einfluss von Religion scheint hinsichtlich sozialer Ungleichheiten eine Rolle zu spielen. So ist zum Beispiel je stärker die katholische Prägung in den Ländern, desto stärker auch das Ausmaß sozialer Ungleichheiten im Zugang zum Gymnasium.[42] Die Sekundarstufe I, beziehungsweise der Kompetenzerwerb, wird jedoch nicht durch religiöse Faktoren beeinflusst.
Die Abhängigkeit der sozialen Herkunft von Schülerinnen und Schülern wird weniger bedeutend hinsichtlich des Besuchs eines gymnasialen Bildungsgangs, je mehr sich die Bundesländer an Ganztagsschulen beteiligen. Zwar wurde erforscht, dass die Ganztagsschule keine positiven Effekte im Kompetenzerwerb mich sich bringt, dennoch legen sie den Grundstein für ausgeglichene Kompetenzen und machen somit unter anderem auch den Zugang zum Gymnasium schichtunabhängiger. Man kann also feststellen, dass hier tatsächlich eher jüngere Schülerinnen und Schüler von dem ganztagsschulischen System profitieren.[43] Trotzdem wirkt die Ganztagsschule auch positiv auf die Chancengleichheiten von Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I:
„65 Prozent aller Eltern glauben, dass Ganztagsbetreuung mehr zur Herstellung sozialer Chancengleichheit beiträgt als Transferleistungen an die einzelne Familie...“[44]
In den jeweiligen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland wird hinsichtlich der Sekundarstufe I unterschiedlich gegliedert. Der Vergleich der deutschen Bundesländer hinsichtlich des Grads der Gliederung (Eigenständigkeit der Hauptschule, Einführung der Gesamtschule) hat ergeben, dass diese nur einen sehr geringen Einfluss auf die Unterschiede im Ausmaß der sozialen Bildungsungleichheit hat.[45] Entscheidend ist allerdings der Zeitpunkt der Gliederung.
„Je stärker der Ausbau von Orientierungsstufen beziehungsweise der sechsjährigen Grundschule, je mehr Schüler also die die Möglichkeit haben die Gliederung auf einen späteren Zeitpunkt nach der vierten Klasse zu verschieben, desto geringer ist die soziale Ungleichheit im Zugang zum Gymnasium.“[46]
Entgegen den Erwartungen haben parteipolitische Tradition der Länder, der Ost-West-Unterschied, das Bruttoinlandsprodukt und der Migrationsanteil der Länder keinen nachweisbaren Einfluss auf das Ausmaß der sozialen Bildungsungleichheit.[47]
Auch die hierarchisch aufgebaute Gliederung der Schulabschlüsse in Deutschland fördert die Ungleichheiten der Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern. Es ist ein hierarchischer Pfad vorgegeben, den Schülerinnen und Schüler in der Regel einhalten müssen. Dieser Ablauf trägt in entscheidender Weise zur Berufswahl und Berufsfindung bei. Insbesondere im gegliederten Sekundarschulwesen, wie es hier in Deutschland wiederzufinden ist, ist die Zulassung oder der Eintritt zu unterschiedlichen Schularten ein entscheidendes Kriterium für den weiteren schulischen und beruflichen Erfolg von Schülerinnen und Schülern.
[...]
[1] Allemann-Ghionda, Cristina (2005): Die Ganztagsschule in Frankreich. In: Ladenthin, Volker/ Rekus, Jürgen (Hrsg.): Die Ganztagsschule. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie. München. S. 69.
[2] Allemann-Ghionda, Cristina (2015): Ganztagsbildung im Vergleich. Die Zeitpolitik der Vor- und Grundschule in Frankreich und Italien seit 1945. In: Hagemann, Karen/ Jarausch, Konrad H. (Hrsg.): Halbtags oder Ganztags? Zeitpolitiken von Kinderbetreuung und Schule nach 1945 im europäischen Vergleich. Weinheim. S. 279.
[3] Vogelsaenger, Thomas/ Vogelsaenger, Wolfgang/ Wilkening, Stefanie (2006): Die Selbstverantwortliche Schule – eine Antwort auf PISA? In: Knauer, Sabine/ Drudel, Anja (Hrsg.): Die neue Ganztagsschule. Gute Lernbedingungen gestalten. Weinheim. S.12.
[4] Kultusministerkonferenz 2001.
[5] Fees, Konrad (2005): Die öffentliche Ganztagsschule in Deutschland: Daten und Konzepte. In: Ladenthin, Volker/ Rekus, Jürgen (Hrsg.): Die Ganztagsschule. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie. München. S.125.
[6] Vgl. ebd., S. 126.
[7] Züchner, Ivo/ Fischer, Natalie (2011): Ganztagsschulentwicklung und Ganztagsschulforschung. Eine Einleitung. In: Fischer, Natalie u.a. (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Weinheim. S.9.
[8] Knoke, Andreas (2013): Bildungserfolge an Ganztagsschulen. Was brauchen Jugendliche?. Schwalbach/Ts. S. 7.
[9] Vgl. ebd., S. 7.
[10] Vgl. ebd., S. 7.
[11] Vgl. ebd., S. 8.
[12] Hopf, Wulf (2010): Freiheit-Leistung-Ungleichheit. Bildung und soziale Herkunft in Deutschland. München. S. 55.
[13] Vgl. ebd., S. 55.
[14] Vgl. ebd., S. 56.
[15] Maykus, Stephan (2006): Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Grenzen, Potenziale, Herausforderungen sozialräumlicher Netzwerke der Bildung. In: Knauer, Sabine/ Drudel, Anja (Hrsg.): Die neue Ganztagsschule. Gute Lernbedingungen gestalten. Weinheim. S. 155.
[16] Vgl. ebd., S. 155.
[17] Vgl. ebd., S. 156.
[18] Vgl. ebd., S. 157.
[19] Vgl. ebd., S. 157.
[20] Vgl. Hopf 2010. S. 149.
[21] Schlicht, Raphaela (2011): Determinanten der Bildungsungleichheiten. Die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen im Vergleich der deutschen Bundesländer. Wiesbaden. S. 84.
[22] Vgl. ebd., S. 84.
[23] Vgl. ebd., S. 85.
[24] Vgl. ebd. S. 99.
[25] Vgl. ebd. S. 102.
[26] Vgl. ebd. S. 102.
[27] Vgl. ebd. S. 96.
[28] Vgl. ebd., S. 205.
[29] Frey, Birgit/ Roters, Andreas: Planen – Beteiligen – Gestalten. Kommunale Handlungsfelder beim Aufbau von Ganztagsschulen. In: Knauer, Sabine/ Durdel (Hrsg.): Die neue Ganztagsschule. Gute Lernbedingungen gestalten. Weinheim 2006. S.172-173.
[30] Vgl. Schlicht 2011, S. 261.
[31] Vgl. ebd., S. 262.
[32] Vgl. ebd., S. 262.
[33] Vgl. ebd. S. 265.
[34] Vgl. ebd. S. 265.
[35] Vgl. ebd. S. 265
[36] Vgl. ebd. S. 265
[37] Vgl. ebd. S. 104.
[38] Vgl. ebd. S. 104.
[39] Vgl. ebd. S. 104.
[40] Vgl. ebd., S. 89.
[41] Vgl. ebd., S. 254.
[42] Vgl. ebd., S. 254.
[43] Vgl. ebd., S. 252 - 253.
[44] Hagemann, Karen/ Jarausch, Konrad H. (2015): Halbtags oder Ganztags? Zeitpolitiken von Kinderbetreuung und Schule nach 1945 im europäischen Vergleich. Weinheim. S. 10.
[45] Vgl. Schlicht 2011, S. 255.
[46] Vgl. ebd., S. 255.
[47] Vgl. ebd., S. 263.