Extrait
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Heilige Land, die Stadt Jerusalem und der Chiliasmus: biblische Grundlagen
3. Die Idee der 'Restitution Israels'
3.1. Die Anfänge der Idee und ihre Hintergründe: Die Lehre des Martin Cellarius
3.2. Die Idee der 'Restoration of the Jews' in England
3.3. Das Anglikanisch-Preußische Bistum in Jerusalem
4. 'Auf nach Jerusalem!' Württembergische Zionssehnsucht und ihre Auswirkungen
4.1. Jerusalemssehnsucht im Glaubens- und Hoffnungsblick für das Volk Gottes von Johann Jakob Friederich
4.1.1. Sehnsuchtsziel Jerusalem
4.1.2. Zeitpunkt und Motivation für den Auszug
4.1.3. Auswirkungen: Die Auswanderungsbewegung der „Zioniden“
4.2. Kolonisten in Palästina: Die Templer
4.2.1. Entstehung und Motivation der Tempelgesellschaft
4.2.3. Auswirkungen auf die Entwicklung Palästinas und Verhältnis zu den Juden
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Es waren Deutsche und Christen, „die dem zionistischen Staat Israel den Weg geebnet haben“[1]. Diese Aussage verwundert zunächst. Tatsächlich wurde die Tatsache, dass deutsche (vor allem württembergische) Christen im 19. und frühen 20. Jahrhundert maßgeblich am Aufbau Palästinas beteiligt waren, lange Zeit „in Israel – verständlicherweise -, aber auch in Deutschland verschwiegen und verdrängt, bis israelische Forscher, allen voran Alex Carmel, diesen Aspekt der christlich-jüdischen und deutsch-jüdischen Geschichte aufzuarbeiten begannen.“[2] Innerhalb dieser Geschichte christlicher Siedler in Palästina spielte das Motiv der 'Zionssehnsucht' eine zentrale Rolle. Die mit dem (endzeitlichen) Zion bzw. Jerusalem verbundenen Hoffnungen und Sehnsüchte waren, wie ich in dieser Ausarbeitung aufzeigen möchte, nicht nur zentral für den Glauben des jüdischen Volkes im Exil, sondern entfalteten auch im Christentum, und hier besonders intensiv in den chiliastischen Strömungen, eine große Wirkmächtigkeit, indem sie Auswanderungsbewegungen, Siedlungs- und Missionsprojekte motivierten und so historische Entwicklungen, in diesem Fall die (infrastrukturelle) Entwicklung Palästinas und die Entstehung des Staates Israel, beeinflussten. Dabei waren die zugrundeliegenden biblischen Motive der 'Rückkehr nach Jerusalem' und des 'himmlischen Jerusalem' und ihre jeweils spezifische Einbettung in apokalyptische Szenarien über die Jahrhunderte einem steten Aushandlungsprozess zwischen Juden und Christen ausgesetzt. „Juden und Christen sahen in den Sehnsüchten des Anderen eine Bestätigung ihrer eigenen Erwartungen und tauschten sich darüber aus. Prophezeiungen und Ideen des Anderen wurden übernommen, adaptiert und in die eigenen Konzeptionen vom Weltende integriert.“[3]
In dieser Ausarbeitung möchte ich zwei christliche Varianten eines 'vor-zionistischen Zionismus' näher beleuchten, die sich aus dem jüdisch-christlichen Austausch über das endzeitliche Jerusalem heraus entwickelten: die Idee der 'Restoration der Juden' und die Lehren der Württemberger Chiliasten des 18. und 19. Jahrhunderts. Dabei möchte ich sowohl einen kurzen Überblick über die spezifische Ausprägung und Entwicklung dieser Lehren und Ideen geben, als auch über die konkreten Auswirkungen in Politik und Geschichte.
2. Das Heilige Land, die Stadt Jerusalem und der Chiliasmus: biblische Grundlagen
Das Alte Testament wiederholt mehrfach die Zusage Gottes an Abraham, dass ihm und seinen Nachkommen 'für immer' das Land, das er sieht, versprochen ist (Gen 12,7; 13,15; 15,18; 17,8).[4] Aus diesen Verheißungen resultieren die Hoffnungen bzw. der Anspruch der Juden, als den Nachkommen Abrahams, auf das 'Heilige Land'. Die Stadt Jerusalem besaß dabei seit den frühen Anfängen eine zentrale Bedeutung für das Judentum: Der Tempel auf dem Zionsberg galt als Ort der göttlichen Gegenwart, der Einwohnung Gottes und der Vermittlung zwischen himmlischen und irdischen Sphären. Im Jesaja-Buch bildete sich nach der Zerstörung von Stadt und Tempel 587/86 die Erwartung einer Rückkehr JHWHs zum Zion in einer eschatologischen Zukunft heraus, in der die Gottesherrschaft über die Völker anbrechen wird. So beschreibt z.B. Jesaja 60 ausführlich 'Zions zukünftige Herrlichkeit', in der man nichts mehr von Frevel hören wird, „noch von Schaden oder Verderben in deinen Grenzen, sondern die Mauern sollen 'Heil' und deine Tore 'Lob' heißen“ (Jes 60,18). „Die Sehnsucht nach Rückkehr in das Land Israel drückten die in der gesamten Welt verstreuten Juden jahrhundertelang in Form von Gebeten, Gedichten und philosophischen Traktaten aus. Dabei waren diese Hoffnungen, wie etwa der alljährliche Spruch 'Nächstes Jahr in Jerusalem' beim Passafest, mit messianischen Hoffnungen verbunden.“[5] Der in diesem Zusammenhang erwartete Messias „sollte ein König sein, der aus dem Geschlecht des biblischen Monarchen David hervorgehen und im messianischen Zeitalter ein unabhängiges jüdisches Königreich Israel neu errichten würde. Er würde den Tempel wieder aufbauen und die Juden in aller Welt aus dem Exil in das Land ihrer Väter zurückrufen.“[6]
Im Neuen Testament sind Palästina und Jerusalem vor allem als Stätte von Jesu Wirken und Tod zentral. Grundlage der 'Zionssehnsucht' der chiliastischen Bewegungen waren aber vor allem die alttestamentlichen Weissagungen und die ausführlichen und anschaulichen Schilderungen des 'himmlischen Jerusalem' in Apk 21,1. Im dort geschilderten eschatologischen Jerusalem wird Gott bei den Menschen wohnen, ewiger Frieden wird herrschen und Not und Leiden der jetzigen Existenz werden endgültig besiegt sein. Wie in Jes 60 wird die Stadt Ziel einer großen Völkerwallfahrt. Vor dem Anbruch dieses himmlischen Jerusalem aus Apk 21 erfolgt aber ein langwieriges endzeitliches Drama, dessen verschiedene Stufen wie folgt ablaufen: Nach dem Untergang Babels (Apk 18) und der Fesselung des Satans erfolgt die Wiederkunft Christi auf die Erde, der für ein 1000 (griech: chilia) Jahre umfassendes goldenes Zeitalter gemeinsam mit den auferweckten gerechten Märtyrern herrschen wird. Nach diesen 1000 Jahren wird der Satan noch einmal aus seinem Gefängnis gelassen und es erfolgt die letzte Schlacht gegen ihn (Apk 20,7-10) und nach seiner Vernichtung das Weltgericht (Apk 20,11-15) und der Anbruch des 'Gottesreiches' bzw. des 'himmlischen Jerusalem'. Dieser Millenarismus repräsentiert vermutlich den Versuch, „die jüd. apokalyptische Erwartung eines messianischen Königreiches [...] mit der Vorstellung der endgültigen Verwirklichung der ewigen Herrschaft Gottes zu versöhnen“[7]. In Apk 20,1-7 wird nicht erwähnt, von wo Christus und die Gerechten das Tausendjährige Reich regieren, geht man aber von der eben genannten 'Versöhnung' jüdischer und christlicher endzeitlicher Vorstellungen aus, ist es nur folgerichtig, dass sich in den chiliastischen Strömungen der folgenden Jahrhunderte die Erwartung ausprägte, dass diese 'theokratische Regentschaft' von Jerusalem ausgehen werde.
Augustin identifizierte das Reich Christi mit der schon gegenwärtigen civitas Dei bzw. der Kirche und das Konzil von Ephesos verwarf 431 die Vorstellungen von einem Tausendjährigen Reich als Häresie. So verschwand der Chiliasmus aus der offiziellen christlichen Eschatologie, aus dem 'Volksglauben' jedoch nie. Die Vorstellungen über das endzeitliche Szenario waren im Judentum und Christentum des Mittelalter und der Frühen Neuzeit sehr ähnlich, nur das 'Ende' differierte natürlich: Wo die Juden eine Vernichtung Edoms und den Anbruch des messianischen Zeitalters für ihr Volk erhofften, gingen die Christen von einer endgültigen Bekehrung aller Juden (und Heiden) aus. Diese Vorstellung, dass das Judentum seine messianische Vollendung im Christentum finden würde, „beruhte auf der traditionellen christlichen Eschatologie, die in Anlehnung an den Römerbrief die endzeitliche Bekehrung der Juden annimmt“ (Röm 11,25ff.)[8].
3. Die Idee der 'Restitution Israels'
Die Vorstellung von der endzeitlichen Bekehrung der Juden sah in der traditionellen christlichen Eschatologie keine Restitution Israels in der Form einer erneuerten realpolitischen Existenz des aus der Zerstreuung gesammelten jüdischen Volkes im Heiligen Land vor. Seit dem 17. Jahrhundert wurde die Idee einer 'Restitution Israels' aber im Christentum populär und wirkt bis heute fort.[9] Auf die (mögliche) Entstehung dieser Idee, die Entwicklungen in England seit dem 17. Jahrhundert und konkrete Auswirkungen auf Palästina im 19. und 20. Jahrhundert möchte ich in diesem Teil eingehen.
3.1. Die Anfänge der Idee und ihre Hintergründe: Die Lehre des Martin Cellarius
In den 1520er Jahren kam eine neue Idee bezüglich der endzeitlichen Ereignisse auf: die von Martin Cellarius (Borrhaus) und Wolfgang Capito geschaffene Sonderlehre der 'Restitution Israels'. Die Hintergründe ihrer Entstehung arbeitet Voß in ihrem Buch heraus: Im 16. Jahrhundert waren in Deutschland zahlreiche kleine Büchlein über die sogenannten verlorenen zehn Stämme Israels, die im zeitgenössischen jüdisch-christlichen Sprachgebrauch die 'roten Juden' genannt wurden, in Umlauf. Die Vorstellung von den 'roten Juden' ging auf den jüdischen Mythos von der Rückkehr der zehn Stämme zurück, der sich fest in der jüdischen apokalyptischen Literatur etabliert hatte.[10] Diesem Mythos nach „sind die zehn Stämme durch den Fluss Sambatjon vom Rest der Welt abgeschnitten. Während an den sechs Tagen der Woche die tobenden Wasser des Sambatjon und das Geröll, das er führt, diesen unpassierbar machen, ruht der Fluss am Schabbat, doch verbieten die Schabbatgesetze den Juden, ihn zu überqueren. In der messianischen Zeit jedoch wird Gott das Tosen des Sambatjon stoppen, damit die zehn Stämme ihn unbeschadet durchqueren können.“[11]
Edom werde dann durch die Hand des Messias an der Spitze der zehn Stämme fallen. Im Laufe der Jahrhunderte bekamen die zehn Stämme ein militärisches Heldenimage.[12] Auch die Christen im Deutschland des 14. und 15. Jahrhunderts kannten diese Legende von den 'roten Juden' gut und lebten in Angst vor deren Rache. Im Jahr 1523 erschienen nun einige Flugschriften, die sich auf Informationen aus Damaskus beriefen und berichteten, dass das Heer der zehn Stämme auf Jerusalem zu marschiere, um es zurück zu erobern. Diese Nachrichten machten nachweisbar auch auf damalige theologische Gelehrte und Politiker Eindruck, „das Wissen um die militärische Macht der roten Juden rückte die jüdische Eroberung des Landes Israel in den Bereich des Möglichen und machte ihre theologische Diskussion notwendig.“[13] In diesen Zusammenhang fällt nun die Entstehung der Schrift 'De operibus Dei' von Martin Cellarius im Jahr 1527. Cellarius folgt hier der 'Interpretatio Christiana', die in der Geschichte des jüdischen Volkes eine Vorwegnahme der christlichen Heilsgeschichte sieht. Indem er diese Prämisse konsequent anwendet, ergibt sich für Cellarius die „radikale Schlussfolgerung, dass auch der neue Himmel und die neue Erde einer entsprechenden Präfiguration bedürfen. Bevor die christliche Heilsgeschichte zu ihrem erwarteten Ende kommen kann, müssen die Heilszusagen der Propheten über das Volk Israel buchstäblich erfüllt sein. […] Dem Jüngsten Gericht muss also die reale Sammlung und Rückführung der Juden aus dem Exil in das Land Israel und die Wiedererichtung eines unabhängigen Königreichs David vorausgehen.“[14] Damit überlagern sich in der Lehre von der Restitution Israels „paradoxerweise die sich sonst ausschließende Erwartung der Herrschaft Jesu auf Erden und die jüdische Hoffnung auf ein messianisches Zeitalter“[15]. Das messianische Zeitalter der Juden wird bei Cellarius, als notwendige Vorbedingung für die Vollendung der christlichen Erlösung, praktisch zu einem Teil des christlichen Endzeitszenarios.
3.2. Die Idee der 'Restoration of the Jews' in England
Im 17. Jahrhundert wurde die 'Restitution Israels' auch in England zum vieldiskutierten Thema und viele Engländer glaubten, „that the kingdom of Jesus cannot be established until after the restoration of the Jews.“[16] G. Falk führt das darauf zurück, dass die englische Übersetzung der Bibel, die 'King James Version', „led inevitably to reading in English the many biblical promises concerning the return of the Jews to the promised land“[17]. Vielleicht war die Lehre des Cellarius ja aber auch nach England gelangt bzw. hatten in England ähnliche Überlegungen zu ähnlichen Ergebnissen geführt. Auch wenn im 18. Jahrhundert die Aufklärung anbrach, behielt der 'Zionismus' für viele Nicht-Juden seine Faszination. So betonte z.B. Edward Whitaker, dass es eine wörtliche nationale Wiederherstellung im Land Israel sein müsse, die nicht auf einer neuen Erde stattfinden würde, sondern 'auf diesem Erdball', weil Gott Abraham ja 'all das Land, das du siehst' versprochen habe und Abraham könne ja kein Land auf einer anderen Erde sehen.[18] Der 'Zionismus' „became visible in poetry, literature of all kinds and in a number of histories. […] Christian Zionism now entered upon the literary scene.“[19] Poeten wie William Blake romantisierten Jerusalem und eine Rückkehr der Juden nach Jerusalem in ihren Gedichten und im 18. Jahrhundert bildeten sich viele millenaristische Gruppen und Sekten aus, die sich auf den Chiliasmus und die Idee der 'Restoration of the Jews' beriefen und z.T. engagierte Verfechter der Idee der Heimkehr der Juden in das Land Israel waren. So boten z.B. die 'Christadelphians' Juden, die ins Land Israel zurückkehren wollten, praktische Hilfe an und unterstützten vorzionistische Gruppen wie z.B. die Chibbat-Zion-Bewegung.[20] Die chiliastischen Ideen in Verbindung mit der Idee der 'Restoration of the Jews' beeinflussten so auf vielfältige Weise politische Entscheidungen, u.a. konkrete Bemühungen um die Errichtung eines Judenstaates im 19. Jahrhundert, z.B. durch Lord Ashley, einem Politiker der stark im prämillenaristischen Denken verhaftet war und eine große Begeisterung für 'Gottes altes Volk', die Juden, hegte. Aus seiner prämillenaristischen Überzeugung heraus, erörtere er mehrfach Pläne zur Wiederansiedlung des jüdischen Volkes in Palästina.[21]
3.3. Das Anglikanisch-Preußische Bistum in Jerusalem
Gemeinsam mit dem Deutschen Christian Carl Josias Bunsen realisierte der oben erwähnte Lord Ashley in den 1940er Jahren das Projekt eines Anglikanisch-Preußischen Bistums in Jerusalem. Auch Bunsen sah in der Realisierung dieses Projekts göttliche Vorsehung. So schreibt er 1841 an den Engländer Gladstone: „Es ist sicherlich unmöglich, nicht den Finger Gottes in der Gründung einer englischen Kirche und Gemeinde christlicher Proselyten auf dem heiligen Hügel Jerusalems zu sehen. […] Und sollten sie nichts thun wollen, um politische Conjuncturen zu benutzen, welche providenziell zu nennen nicht verwegen ist, in ihrem Zusammentreffen mit diesen Symptomen von Zions Wiederbelebung?“[22] Das Bistum leistete wichtige infrastrukturelle Aufbauarbeit in Jerusalem, das fernab der großen Handelsstraßen lag, keine wirtschaftliche Bedeutung hatte und in dem die Lebensbedingungen Mitte des 19. Jahrhundert ausgesprochen schlecht waren.[23] Unter dem Dach des Bistums entstanden Schulen, Ausbildungsbetriebe und Krankenhäuser. Die Kaiserswerther Diakonissen leisteten sowohl für das Krankenhauswesen als auch für das Schulwesen Pionierarbeit, ihre Bedeutung für die Entwicklung des Schulwesens in Palästina kann nach Lückhoff „kaum überschätzt werden.“[24] Diese Entwicklungen führten zu Reaktionen der anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften, die, nach dem Vorbild der Bistums-Einrichtungen, Krankenhäuser, Hospize und Schulen in Jerusalem errichteten.[25] Das Brüderhaus und die Arbeit der Kaiserswerther Diakonissen zählen nach Lückhoff „zu den wichtigsten Schritten für die Entwicklung des Heiligen Landes im 19. Jahrhundert“[26]. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass viele Personen, die maßgeblich für die Realisierung des Bistums und seine karitativ-missionarische Arbeit verantwortlich waren, wie z.B. Kaiser Friedrich Wilhelm IV, Christian Friedrich Spittler, Conrad Schick und andere, nicht so sehr von chiliastischen Einflüssen geprägt waren, sondern aus anderen (vorwiegend) christlichen Motiven handelten. Doch die Ideengeber des Projektes, die, durch ihre chiliastisch geprägte 'Jerusalemssehnsucht' angetrieben, hartnäckig für seine Realisierung kämpften, waren Lord Ashley und Bunsen. Die Ergebnisse der Bistumsarbeit wiederum erregten in Preußen Aufmerksamkeit. Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten sich zahlreiche Vereine, die für die Palästinaarbeit warben und für finanzielle Unterstützung sorgten, so z.B. der 'Jerusalemsverein' oder der 'Evangelische Verein für christliche Bildung im Orient'.[27] Auch diese finanzielle und 'medienwirksame' Unterstützung trug zur Entwicklung Palästinas bei.
4. 'Auf nach Jerusalem!' Württembergische Zionssehnsucht und ihre Auswirkungen
Der Chiliasmus und die ihm inhärente Jerusalemssehnsucht hatte im Pietismus breite Wirkung entfaltet, so wird er z.B. auch in Speners 'Pia desideria' thematisiert. Eine besondere Konzentration von Gruppierungen eines 'enthusiastischen Chiliasmus' fand sich seit dem 17. Jahrhundert in Württemberg. Schon Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts hatten sich dort „viele unterschiedliche ecclesiolae in (oder auch ex) ecclesia mit je eigenen Traditionen und Distanzgraden zur offiziellen Kirche“[28] gebildet, darunter viele separatistische Gruppierungen, die wahres Christentum nur in völliger Trennung von der Kirche und teilweise auch vom Staat sahen. Im Gegensatz zum Halleschen oder Herrnhuter Pietismus galt der 'eschatologische Trieb' im Würrtembergischen Pietismus als 'unausrottbar'.[29] Viele der pietistisch-separatistischen Gruppen Württembergs waren durchdrungen von der Überzeugung, sich mitten im endzeitlichen Geschehen zu befinden. Im Mittelpunkt ihrer Hoffnungen stand die Erwartung des Anbruchs des tausendjährigen Friedensreiches, in dem von Jerusalem aus eine neue theokratische Weltherrschaft ausgehen würde. Ein breit rezipierter Vertreter des Württemberger Chiliasmus mit großer Wirkkraft war Johann Albrecht Bengel (1687-1752). Das jüdische Volk, das Heilige Land und Jerusalem waren wichtige Brennpunkte seiner Lehre. Sein Schüler, Friedrich Christoph Oetinger (1706-1761) pflegte den Austausch mit jüdischen Gelehrten und setzte sich mit der Kabbala auseinander. Durch diese Auseinandersetzung beeinflusst, ging er von einer baldigen vollzähligen Rückkehr der Israeliten in ihr Land und der Wiedererrichtung des Tempels aus. Außerdem sollte im künftigen Jerusalem der Opferkult neu eingerichtet, die Beschneidung eine Zeit lang wieder eingeführt werden und Hebräisch die Umgangssprache sein. Von Jerusalem aus werde ein davidischer König im Namen Jesu die Völker regieren und folglich würden alle Völker Untertanen der Israeliten sein[30]. Hier wird die gegenseitige Beeinflussung jüdischer und christlicher Endzeitszenarien und die Affinität des Pietismus zum Judentum und den alttestamentlichen Prophezeiungen augenfällig. Dabei wird schon bei Bengel und Oetinger ein Umstand deutlich, der besonders die chiliastischen Texte der Württemberger Pietistenväter kennzeichnet: Die Prophezeiungen der Offenbarung werden dezidiert leiblich und nicht geistlich verstanden, d.h. das Tausendjährige Reich als eine bald eintreffende, körperlich-sinnlich existente Realität angesehen. Gleichzeitig ist ein völliges Ineinandergreifen der Vorstellungen vom Tausendjährigen Reich und dem ewigen Heilsreich zu beobachten[31], das 'irdische' Jerusalem des Tausendjährigen Reiches und das 'himmlische Jerusalem' verschwimmen und lassen sich in den Texten oft nicht unterscheiden.
Im Spätpietismus flackerte die 'Jerusalemssehnsucht', unterstützt von der Romantisierung des Morgenlandes in der deutschen Romantik (z.B. bei Novalis), intensiv auf. Paradigmatisch dafür war der Roman 'Heimweh' von Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), der bei vielen die Sehnsucht nach dem 'Bergungsort', der meist (aber nicht immer) mit Jerusalem gleichgesetzt wurde, anfachte und damit auch die Auswanderungssehnsucht. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bewirkten die großen politischen Erschütterungen der Epoche außerdem bei vielen württembergischen Pietisten nochmals eine 'eschatologische Radikalisierung': „Fasziniert [blickten sie] auf die neuen Zeichen der Zeit und fühlten sich mitten in das endzeitliche Geschehen hinein versetzt.“[32] In diese Zeit fiel auch die 1801 publizierte Schrift 'Glaubens- und Hoffnungsblick des Volkes Gottes in der antichristlichen Zeit' von Johann Jakob Friederich, mit der laut Föll die „explosivste Zeitspanne des schwäbischen Pietismus“[33] begann, deren Ideen und Auswanderungsbewegungen schließlich auch Einfluss auf die spätere Entwicklung Palästinas hatten. Im folgenden Abschnitt möchte ich diese Schrift und ihre Auswirkungen näher unter die Lupe nehmen.
4.1. Jerusalemssehnsucht im Glaubens- und Hoffnungsblick für das Volk Gottes von Johann Jakob Friederich
Johann Jakob Friederich, geboren 1759 in Backnang, beschäftigte sich schon früh intensiv mit dem Alten Testament.[34] Sein Amt als Pfarrer verlor Friederich, weil er den Gebrauch der 1809 von König Friedrich eingeführten neuen Liturgie ablehnte. Pietistische und separatistische Kreise sahen diese neue Liturgie als Abfall vom wahren Christentum, da sie den Teufel nicht mehr erwähnte, und ordneten sie als „Zeichen des apokalyptischen Abfalls“ ein, „die sie in ihrer Überzeugung stärkten, man lebe in antichristlichen Zeiten und müsse nun bald aus Babel ausziehen.“[35] Auch Friederichs Publikation Glaubens- und Hoffnungsblick des Volks Gottes in der antichristlichen Zeit aus den göttlichen Weissagungen gezogen, gedruckt 1801, ist durchdrungen von der Überzeugung, dass die alttestamentlichen Prophezeiungen „von jetzt an in einer Schnelle erfolgen müssen“ (GHB, S. 36)[36].
4.1.1. Sehnsuchtsziel Jerusalem
In Friederichs Schrift ist die 'Zionssehnsucht' auf die Spitze getrieben. Die Exklusivität Israels bzw. Jerusalems steht stark im Vordergrund. Bei dem derzeitigen 'antichristlichen Jammer' hätten die Elenden und Verfolgten „aus keinem andern Land noch Ort Hülfe zu gewarten, als allein vom Berge Zion“(GHB, S. 29). Der Berg Zion sei der künftige Sitz des Königreiches Gottes, einer „Theokratie, nicht aber Republik“, der künftige Ort des Priestertums und des neuen Tempels (GHB, S. 27)[37]. Das von Friederich im Folgenden naiv-schwärmerisch geschilderte Jerusalem des bald anbrechenden Tausendjährigen Reiches erinnert stark an das Schlaraffenland oder das Paradies: Der Tempel werde den Salomonischen an Pracht und Größe übertreffen (GHB, S. 29), dort werde eine Quelle entspringen, deren Wasser alle Krankheiten heile (GHB, S. 30), sehr selten werde dort „eine Leiche seyn, in hundert Jahren vielleicht eine“, Kinder würden hier gar nicht sterben (GHB, S. 80-82). Jerusalem werde als „Haupt- und Residenzstadt der ganzen Welt“ die „wahre Freudenstadt, der Ort der Wonne und des Vergnügens“ sein (GHB, S.80-82). Durch die 'Lehranstalt auf dem Berge Zion' werden die Völker der Welt gelehrt und unterrichtet (GHB, S. 66).[38] Äcker, Gärten, Weinberge, Auen und Wälder würden dort grünen wie ein Lustgarten, die Weinberge so voller Trauben stehen, dass „ganze Bächlein süssesten Mostes in den Furchen der Weinberge heraublaufen werden“ (GHB, S. 93-95). Auch die Prophezeiung von Jes 11,6-8 werde dort war, des Kriegs werde nimmer gedacht (GHB, S. 102) und selbst die Tierwelt in den Frieden einbezogen (GHB, S. 98). Israel und die Nationen seien dann 'ein Leib und ein Geist', 'ein Herz und eine Seele' (GHB, S. 58-61), da die Juden alle bekehrt und 'Jehova Christus ihrer aller Hirte' sei (GHB, S. 24f.). Hier fungiert Jerusalem in besonders verdichteter Form als „Metonymie aller spirituellen Sehnsüchte von Juden und Christen“[39], das 'irdische' und das in Apk 21,1 geschilderte 'himmlische' Jerusalem verschwimmen in eins. Friederich selber erklärt das so, „daß sich die alttestamentlichen Weissagungen teilweise auf die irdische Stadt Jerusalem und das irdische Land Israel 'im Millenio' beziehen und gleichzeitig auch Vorbildes des neuen Himmels und des neuen Jerusalems seien.“[40] Weiter betont Friederich, dass seine Liebe und Bewunderung dem zerstreuten jüdischen Volk gehört, da dieses 'immer an den Weg nach Jerusalem' denkt. Denn nur auf denjenigen, die sich nach dem 'geliebten Kanaan' sehnen, ruhe der besondere Segen Gottes“[41] Auch die Auswanderung nach Jerusalem stellt Friederich sich übrigens als fröhlichen Spaziergang vor, es werde 'prächtig und fürstlich' dabei einhergehen und man werde „alsdann seyn wie die Träumenden, die es vor Freuden kaum glauben können“ (GHB, S. 164f.).
[...]
[1] Jung, 2008, S. 194
[2] Ebd.
[3] Voß, 2011, S. 18/19
[4] Vgl. für dieses Kapitel: Otto, Eckart: Jerusalem (I. Altes Testament), in: RGG4 4 (2008), Sp.428-432; Köpf, Ulrich: Jerusalem, himmlisches, in: RGG4 4 (2008), Sp. 448-449; Otto, Eckart: Zion, in: RGG4 8 (2008), Sp. 1874-1876; Brenner, Michael: Zionismus/Zionistische Bewegungen, in: RGG4 8 (2008), Sp. 1876-1879; Pezzoli-Olgiati, Daria/Aune, David E./Fitschen, Klaus/Leppin, Volker/Boyer, Paul S./Körtner, Ulrich: Chiliasmus, in: RGG4 2 (2008), Sp. 136-143
[5] Brenner, Michael: RGG-Artikel 'Zion', Sp. 1876
[6] Voß, 2011, S. 1
[7] Aune, David E., RGG-Artikel 'Chiliasmus', Sp. 137
[8] Voß, 2011, S. 29
[9] Vor allem in den USA ist die Idee in christlichen Gruppierungen heute noch sehr verbreitet und nimmt über sie auch Einfluss auf die amerikanische Israel-Politik, vgl. Falk, 2006, S. 46ff.
[10] Vgl. Voß, 2011, S. 92/93
[11] Ebd., S. 93
[12] Vgl. Ebd., S. 93
[13] Ebd., S. 137
[14] Voß, 2011, S. 132
[15] Ebd., S. 137
[16] Falk, 2006, S. 10
[17] Ebd., S. 9
[18] Vgl. Pragai, 1990, S. 40
[19] Falk, 2006, S. 12
[20] Pragai, 1990, S. 42
[21] Vgl. Lückhoff, 1998, S.44
[22] Bunsen an Gladstone, 1841 August 3, in: C.C.J. Bunsen: „Aus seinen Briefen und nach eigener Erinnerun geschildert von seiner Witwe“, Deutsche Ausgabe, durch neue Mitteilungen vermehrt von Friedrich Nippold, Bd. II, Leipzig, 1869, S. 120f., zit. in Lückhoff, 1998, S. 58
[23] Vgl. Lückhoff, 1998, S. 129
[24] Ebd., S. 209
[25] Vgl. Ebd., S. 201
[26] Lückhoff, 1998, S. 191
[27] Vgl. Lückhoff, 1998, S. 247
[28] Föll, 2002, S. 21
[29] Vgl. Ebd., S. 48
[30] Vgl. Föll, 2002, S. 37-40
[31] Vgl. Ebd., S. 40
[32] Ebd., S. 49
[33] Ebd., S. 12
[34] Föll, 2002, S. 54
[35] Ebd., S. 26
[36] GHB= Friederich, Johann Jakob: Glaubens- und Hoffnungsblick des Volks Gottes in der antichristlichen Zeit aus den göttlichen Weissagungen gezogen. Im Jahre Christi 1800. Gewidmet dem, der auf das Reich Gottes wartet. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage. Gedrükt im Monat März 1801, S. 1, zit. in: Föll, 2002, S. 58-78
[37] Auch beschreibt Friederich mit viel Enthusiasmus, wie die jüdischen Feste wieder gefeiert würden (GHB, S. 44ff.). Scheinbar hat Friederich hier, wie Renate Föll schreibt, „in seiner eigenen protestantisch-pietistischen Tradition ein gewisses Defizit empfunden, was die Pflege sinnlich-religiöser Rituale anbetrifft.“ (Föll, 2002, S. 68)
[38] Renate Föll merkt dazu an, dass „die Vorstellung einer vollständigen Gleichschaltung des Bildungswesens (und des gesamten Welt-Staatswesens […]) […] besonders nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts den Totalitarismus-Verdacht hervor[ruft] – ein kritischer Aspekt im Rahmen der chiliastischen Idee.“ (Föll, 2002, S. 73)
[39] Föll, 2002, S. 29
[40] GHB, S. XIIf., zit. in: Föll, 2002, S. 62
[41] Föll, 2002, S. 75, vgl. GHB, S. 78f.
- Citation du texte
- Ines Bethge-Bonk (Auteur), 2016, Christliche Zionssehnsucht und ihre Auswirkungen auf Palästina, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/350087
Devenir un auteur
Commentaires