Neurokognitive Prozesse bei dem Erwerb von Wortschatz mit Blick auf den schulischen Fremdsprachenunterricht Spanisch


Thèse de Master, 2016

80 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Was ist ein Wort? Annäherung an einen vielfältigen Begriff
2.1 Einzelkomponenten der lexikalischen Einheit
2.2 Der Wortschatz als ein dynamisches System
2.2.1 Rezeptiver, produktiver und potentieller Wortschatz

3 Die mentale Organisation von Wörtern im Gehirn
3.1 Das Langzeitgedächtnis
3.2 Der menschliche Wortspeicher: Das mentale Lexikon
3.2.1 Begriffsbestimmung und Forschung
3.2.2 Aufbau und Struktur
3.2.3 Wortform und Wortbedeutung
3.2.4 Das mentale Lexikon als Netzwerk
3.2.5 Zusammenfassung
3.3 Die Repräsentation von Wörtern im zwei- und mehrsprachigen mentalen Lexikon
3.3.1 Die Formen der mentalen Repräsentation nach Weinreich (1953)
3.3.2 Die Subset-Hypothesis nach Paradis (1987)
3.3.3 Aufbau semantisch-konzeptueller Repräsentationen
3.3.3.1 Die Entwicklung der lexikalischen Einheit
3.3.3.2 L1-Transfer im Bereich der Lexik
3.3.3.3 Kollokationen und Konstruktionen
3.4 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht
3.4.1 Rückbezug auf vorhandenes Sprachwissen
3.4.2 Mehrdimensionales Wortwissen
3.4.3 Kontextualisiertes und vernetztes Lernen
3.4.4 Wiederholungen und aktiver Gebrauch
3.4.5 Mehrkanaliges und ganzheitliches Lernen

4 Wortschatzarbeit im Spanischunterricht
4.1 Die lexikalische Kompetenz: eine Begriffsannäherung
4.2 Die Frage nach dem Umfang und der Auswahl des Wortschatzes
4.3 Die Vermittlung von Vokabellernstrategien im Spanischunterricht: eine Metho- denvielfalt
4.3.1 Didaktische Grundannahmen
4.3.2 Phasen des Wortschatzerwerbs
4.3.2.1 Sprachaufnahmephase
4.3.2.2 Konsolidierungsstrategien
4.3.2.3 Phase der Archivierung
4.3.2.4 Wortschatz einmal anders: Alternativen zum Vokabeltest

5 Fazit / Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Die Verarbeitung von Informationen im Gedächtnis

Abb. 2: Zweiteilung der lexikalischen Einheit in Lemma und Wortform

Abb. 3: Das mentale Netzwerk und seine Teilnetze

Abb. 4: Der Badewanneneffekt

Abb. 5: Schematische Darstellung der Extended System und Dual System Hypothesis

Abb. 6: Schematische Darstellung der Subset Hypothesis

Abb. 7: Die drei Phasen der lexikalischen Entwicklung nach Jiang

Abb. 8: Die Wissensbereiche der lexikalischen Kompetenz

Abb. 9: Schaubild für die Sammlung von Kollokationen am Beispiel des Substantivs exam- en

Abb. 10: Die semantische Treppe/Achse

Abb. 11: Die Reihengliederung

Abb. 12: Die Klassifizierung in Über- und Unterordnung

Abb. 13: Affektive Wortschatzarbeit am Beispiel des Adjektivs aburrido/ -a

Abb. 14: Wortigel zum Schlüsselbegriff el tiempo

1 Einleitung

Der Wortschatz wurde über einen langen Zeitraum hinweg von der Wichtigkeit der Gram- matik beim Fremdsprachenlernen in den Schatten gestellt. Mittlerweile haben die Fremd- sprachendidaktik und die Psycholinguistik jedoch erkannt, dass mit Blick auf einen kommu- nikativen Fremdsprachenunterricht, wie ihn der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GER), die Bildungsstandards und die Kernlehrpläne fordern, dass der Wortschatzerwerb sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht eine Schlüsselrolle bei der Sprachbe- herrschung einnimmt. Eine rudimentäre Kommunikation wäre trotz unzureichender Gram- matikkenntnisse bei Vorhandensein eines annehmbaren Wortschatzinventars eher möglich als umgekehrt. Dies implizieren auch die Lehr- und Lernmethoden, die innerhalb der letzten Jahre das didaktische Material neu strukturiert und den Stellenwert der Wortschatzdidaktik verstärkt in den Vordergrund gerückt haben (vgl. Nieweler 2006: 174; De Florio-Hansen 2009: 181).

Allerdings kritisiert die fachdidaktische Literatur weiterhin eine vage Repräsentation und Ein- seitigkeit von Wortschatzübungen im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht. Neue Wörter werden nicht multisensorisch, sondern überwiegend textbezogen semantisiert, kognitiviert und angewendet. Die Mehrheit der Lernenden hat oftmals große Schwierigkeiten sich die geforderte Wortschatzmenge eigenständig anzueignen, da ihnen die dafür notwendige Lern- und Behaltensleistung fehlt und das Vokabellernen meist wenig effektiv in Form von Hausaufgaben und stupidem Lernen von Listen erfolgt. So ist es nicht verwunderlich, dass das Lernen neuer Wörter häufig als Belastung und wenn nicht sogar als das größte Lernpro- blem im Fremdsprachenerwerbsprozess bezeichnet wird (vgl. Kieweg 2002: 4, 6; Bohn 1999: 8).

Die vorliegende Arbeit lenkt den Blick auf diese Problematik und beschäftigt sich mit den zu- grunde liegenden Forschungsfragen, welche neurokognitiven Prozesse den Erwerb und die langfristige Speicherung von Wortschatz beeinflussen und welche didaktischen Grundprinzi- pien sich aus Psycholinguistik und Lernpsychologie für eine nachhaltige und effektive Ver- mittlung von Wortschatz im Spanischunterricht ableiten lassen. Das Ziel dieser Arbeit ist, die neurokognitiven Aspekte des Wortschatzerwerbs sowie der Wortschatzerweiterung und die damit in der fachdidaktischen Praxis einhergehenden Methoden zu untersuchen. Obgleich die Forschungslage zum ein- und mehrsprachigen mentalen Lexikon äußerst heterogen ist, kön- nen wissenschaftlich fundierte Möglichkeiten aufgezeigt werden, inwiefern die lexikalische Kompetenz im Rahmen des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts gefördert werden kann. Diese Arbeit hat dagegen nicht die Darstellung der Bandbreite an Wortschatzübungen zum Ziel, sondern gibt vielmehr einen überblicksverschaffenden Einblick potentieller Alterna- tiven für die Optimierung von Wortschatzarbeit. Die Grundlage hierfür bietet die aus der Fremdsprachendidaktik und Psycholinguistik verwendete Literatur sowie der Einbezug ak- tueller Lehrwerke für den Spanischunterricht.

In Anbetracht der Thematik erscheint es zunächst sinnvoll sich mit der Vielfalt des Wortbe- griffs auseinanderzusetzen. Dabei wird in Kapitel 1 die zugrunde liegende Problematik der umfassenden Definitionsversuche aufgegriffen, bevor der Blick auf den Wortschatz als ein dynamisches System gelenkt und seinen Stellenwert für das Fremdsprachenlernen heraus- gearbeitet wird.

Das Kapitel 3 widmet sich im Anschluss daran dem Thema Wortschatzerwerb, wobei das Hauptaugenmerk auf den psycholinguistischen Erkenntnissen und Hypothesen zur Struktur und Funktion des mentalen Lexikons, insbesondere aber des zwei- und mehrsprachigen men- talen Lexikons liegt. Der Terminus Mehrsprachigkeit bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Lernen und Beherrschen mehrerer Fremdsprachen, die nicht auf dem gleichen Niveau wie die Muttersprache, sondern „mit unterschiedlicher und veränderbarer kommunikativer Reichweite“ (Ender 2007: 11) beherrscht werden. In der englischsprachigen Fachliteratur wird häufig der Begriff bilingual lexicon oder L2 lexicon gewählt, doch es wird sich selten auf ausschließlich zwei Sprachen beschränkt, auch nicht bei den in dieser Arbeit vorgestellten Modellen. Vielmehr bleibt die genaue Anzahl an Sprachen nach oben hin offen (vgl. ebd.: 57, 86). Das Kapitel schließt mit den daraus resultierenden Konsequenzen und Grundprinzipien für die fachdidaktische Praxis des Fremdsprachenunterrichts ab.

Anknüpfend an die didaktischen Schlussfolgerungen befasst sich Kapitel 4 mit der Wortschatzarbeit im Rahmen des institutionalisierten Spanischunterrichts und geht der Frage nach, inwiefern der Wortschatzerwerb unter Einbezug der Überlegungen zum mentalen Lexikon nachhaltig unterstützt werden kann. In dieser Arbeit wird der Begriff Wortschatzarbeit als eine aktive Erweiterung der fremdsprachlichen Wortschatzkompetenz definiert und umfasst die Vermittlung, Verarbeitung sowie Wiederholung neuer Lexik. Dabei wird sich sowohl auf das fremdgesteuerte als auch auf das selbstgesteuerte Wortschatzlernen bezogen (vgl. De Florio-Hansen 2009: 181; Haudeck 2008: 67). Neben einer Annäherung an den Begriff der lexikalischen Kompetenz sowie an die Frage nach dem Umfang und der Auswahl des zu lernenden Wortschatzes steht die Vermittlung von Vokabellernstrategien und - techniken1 im Vordergrund. Anhand ausgewählter Strategien werden unter der Berücksichti- gung, dass Lernen ein individueller Prozess ist, didaktische Implikationen für eine effektive Wortschatzarbeit aufgezeigt.

Ein Fazit rundet die Ergebnisse unter Berücksichtigung des der Arbeit zugrunde liegenden Forschungsgedanken ab und nimmt Bezug auf die daraus resultierenden fremdsprachendidaktischen Folgerungen.

2 Was ist ein Wort? Annäherung an einen vielfältigen Begriff

Die Frage, was genau ein Wort ist, erscheint zunächst trivial und man kann davon ausgehen, dass Menschen intuitiv wissen, worum es sich bei einem Wort handelt. Doch angesichts der zugrunde liegenden Thematik zum Wortschatzerwerb und des hohen Stellenwerts eines nor- mgerechten Gebrauchs von Wörtern innerhalb der gesprochenen und geschriebenen Sprache erweist sich diese Frage als zentral. Allerdings ist das Wort innerhalb der Sprachwissenschaft ein schwer erfassbares und komplexes Untersuchungsobjekt, dessen bisherigen Defini- tionsversuche zu keiner einheitlichen und übergreifenden Theorie führen (vgl. Neveling 2004: 18).

Bevor der Wortschatz in seiner Fülle und Dynamik vorgestellt wird, muss als theoretischer Einstieg in die Thematik eine Annäherung des Wortbegriffs erfolgen und geklärt werden, was unter einem Wort zu verstehen ist und aus welchen Komponenten sich die lexikalische Einheit zusammensetzt.

2.1 Einzelkomponenten der lexikalischen Einheit

Umfassende Definitionsversuche des Wortbegriffs rekurrieren auf verschiedene sprachliche Dimensionen und betrachten neben der Morphologie insbesondere die Graphemik, Phonolo- gie, Semantik und Grammatik (vgl. Haudeck 2008: 49; Neveling 2004: 18). Das graphemische bzw. formal-orthographische Kriterium definiert ein Wort als eine Ab- folge von Buchstaben zwischen zwei Leerzeichen. Doch treten hier bereits die ersten Pro- bleme auf, denn dt. Waschmaschine bzw. sp. lavadora bilden nach dieser Definition ein einziges Wort, wohingegen engl. washing machine oder frz. machine à laver bereits aus zwei bzw. drei Wörtern bestehen. Dies widerspricht allerdings der Wahrnehmung des Sprechenden und auch bei der Frage, inwiefern ein Bindestrich oder Apostroph sich auf die Anzahl von Wörtern auswirkt wird nach dieser Definition nicht erfasst (vgl. Gabriel / Meisenburg 2014: 137).

Der phonetisch-phonologische Ansatz beschreibt Wörter als eine durch Pausen begrenzte Einheit mit einer geschlossenen Lautfolge (vgl. Ender 2007: 59). Diese Definition ist insofern problematisch, als dass der Sprechende nicht hinter jedem Wort bzw. bei jeder Leerstelle eine Pause einfügt, sondern mehrere Wörter zu einem Satz zusammenfasst (vgl. Gabriel / Meisen- burg 2014: 138). Als ein weiteres Definitionskriterium wird hier der Wortakzent genannt, wobei es innerhalb einer Sprache zu Betonungsunterschieden kommt; manche Sprachen (z.B. das Französische) besitzen zum Teil gar kein festes Betonungssystem. Noch schwieriger er- weist sich dieses Kriterium im Fall von nicht-indogermanischen Sprachen, wie z.B. im Chine- sischen und Vietnamesischen, wo der Tonakzent bzw. die Tonhöhe einzelne Wörter voneinan- der unterscheidet. Im Spanischen und Deutschen erfolgt dies ausschließlich auf Satzebene (Intonation), sodass auch das lautliche Kriterium zu keiner allgemeingültigen Wortdefinition führt (vgl. ebd.; Dietrich / Geckeler 2007: 70).

Aus semantischer Sicht wird ein Wort als die „Vereinigung einer besonderen Bedeutung mit einer bestimmten Lautfolge und einer besonderen grammatikalischen Verwendung“ (Ender 2007: 60) definiert. Nach dieser Definition lässt sich der Ausdruck frz. machine à laver offen- sichtlich als ein einziges Wort auffassen, da es weiterhin modifiziert werden kann, wie beispielsweise durch das Hinzufügen des Adjektivs bon: c ’ est une bonne machine à laver. Das Adjektiv bezieht sich hier auf den gesamten Ausdruck machine à laver und nicht auss- chließlich auf machine (vgl. Gabriel / Meisenburg 2014: 138). Doch ergeben sich Probleme bei gebundenen Morphemen wie z.B. sp. des - oder dt. un -, welche tendentiell bedeutungstra- gend sind und aus einer Lautfolge bestehen, aber keine Wörter an sich sind. Zumal das Adjek- tiv sp. desagradable bzw. dt. ungut aus zwei bedeutungstragenden Einheiten besteht und de- mentsprechend nicht der Definition entspräche. Gleiches gilt für die Mehrheit der Komposita (limpiabotas, autoescuela), die trotz zusammengesetzter, eigenständiger Morpheme (limpiar, botas, auto, escuela) als eine einzige bedeutungstragende Einheit gesehen werden (vgl. Ender 2007: 60; Dietrich / Geckeler 2007: 91f).

Weiterhin lassen sich auf semantischer Ebene zwei Typen von Wörtern unterscheiden: die In- halts- und Funktionswörter. Erstere tragen eine kontextunabhängige lexikalische Bedeutung und umfassen Nomina, Adjektive und Verben, wohingegen die Funktionswörter eine gram- matikalische Bedeutung inne haben und grammatikalische Funktionen erfüllen. Zu ihnen zählen Präpositionen, Konjunktionen, Adverbien etc. und sie erhalten ihre Bedeutung durch die Verbindung mit anderen sprachlichen Elementen. Die Grenze zwischen Inhalts- und Funk- tionswörtern ist dabei nicht immer ganz deutlich (vgl. Rothweiler 2001: 30).

In diesem Zusammenhang ergab sich der Definitionsversuch des amerikanischen Sprachwis- senschaftlers Bloomfield, der ein Wort als „a minimum free form“ (Bloomfield 1933: 178 zi- tiert nach Gabriel / Meisenburg 2014: 138) zusammenfasst, also eine kleine selbstständige, an und für sich bedeutungstragende Form. Doch ruft diese Definition erneut Probleme hin- sichtlich der freien Morpheme bzw. Funktionswörter hervor, wie sp. este bzw. dt. diese (vgl. ebd.).

Letztendlich bleibt noch das grammatikalische Kriterium, welches sich an der Mobilität („positional mobility“) eines Wortes innerhalb des Satzes orientiert, ohne dass dabei eine Sinnveränderung hervorgerufen wird und die interne Wortstruktur sich hinsichtlich ihrer Rei- henfolge der Morpheme verändert. Dies würde bedeuten, dass bei einer Veränderung der Wortposition von dt. Lehrbuch in dem Satz Ich bringe dir das Lehrbuch morgen anstelle von Morgen bringe ich dir das Lehrbuch sich seine Konstituenten nicht verändern zu * Buchlehr. Allerdings gilt hier die Einschränkung, dass beispielsweise Funktionswörter trotz ihrer Stabil- ität ausschließlich in Blöcken verschoben werden können (vgl. Ender 2007: 61). Obgleich einiger Beschränkungen, trifft das Merkmal der Mobilität sowie das der internen Stabilität für die Mehrheit der Sprachen als zentrales Kriterium von Wörtern zu (vgl. Ender 2007: 61f).

Die bisherigen Definitionsversuche implizieren, dass Wörter auf Satz- und Textebene sprach- liche Bezüge herstellen und nicht isoliert als die einzelnen Bausteine einer Sprache bezeichnet werden können, sondern in ihrer Struktur und linguistischen Beschaffenheit weitaus komplex- er und vielfältiger sind (vgl. Bohn 1999: 19; Scherfer 1999: 178). Für das Fremdsprachenler- nen bedeutet diese Erkenntnis, dass alle Komponenten eines Wortes im Lehr-Lernprozess Berücksichtigung finden müssen, was sich angesichts der zahlreichen Nuancierungen selbst für einen Muttersprachler als nahezu unmöglich erweist (vgl. Neveling 2004: 21). Inwiefern die Vielfalt des Wortbegriffs den Ausbau der Wortschatzkompetenz beeinflusst, wird in Kapi- tel 4.1 dargelegt. Innerhalb des Fremdsprachenunterrichts (FSU) ist der Begriff Vokabel am geläufigsten, doch wird unter dem traditionellen Vokabellernen häufig die Aneignung der Wortbedeutung in der Zielsprache verstanden, was der Komplexität des Wortes nicht annäh- ernd gerecht wird (vgl. Haudeck 2008: 71). Für eine begriffliche Zusammenfassung der kom- plexen Struktur von Wörtern erscheint es demnach sinnvoll von lexikalischen Einheiten zu sprechen. Diese charakterisieren sich durch ein bedeutungstragendes Merkmal, nach den weiter oben genannten Gesichtspunkten sowie mindestens durch ein nach den grammatikali- schen Eigenschaften beschriebenes Wort (vgl. Ender 2007: 62). Die Mehrheit aller Wörter formen aufgrund ihrer Bedeutungsvielfalt mehrere lexikalische Einheiten (vgl. ebd.). Als Beispiel fungiert das spanische Wort partido, das zum Einen für die politische Partei steht und zum Anderen ein Spiel (z.B. Fußballspiel, Freundschaftsspiel etc.) bezeichnet. Auch mit Blick auf die zahlreich vorhandenen Komposita, idiomatischen Wendungen, Sprichwörter etc., die Bestandteil einer Sprache sind, umfasst der Begriff lexikalische Einheit am ehesten die Komplexität des Wortbegriffs (vgl. Bohn 1999: 21).

Im Verlauf dieser Arbeit sollen die Termini Wort, Vokabel und lexikalische Einheit in gleicher Hinsicht verwendet werden und den beschriebenen Charakteristika der Letzteren entsprechen. Die Begriffe können zudem durch den allumfassenden Ausdruck Einheit / Repr ä sentation des mentalen Lexikons ersetzt bzw. umschrieben werden.

2.2 Der Wortschatz als ein dynamisches System

Der Wortschatz kann als „das die Gesamtheit an Wörtern und Wendungen umfassende Teil- system einer bestimmten Sprache“ (Haudeck 2008: 47) definiert werden. Alle Wörter, über die ein Sprecher verfügt, bilden seinen individuellen Wortschatz, der sich bei den meisten Personen aus einem Wortinventar verschiedener Sprachen zusammensetzt (vgl. Ender 2007: 63). Es steht somit außer Frage, dass die Entwicklung des lexikalischen Wissens einen beachtlichen Teil der gesamten Sprachentwicklung darstellt, der mit den anderen sich ent- wickelnden Bereichen der Sprache, nämlich Aussprache, Grammatik, sowie Sprachverwen- dung in ständiger Wechselwirkung steht (vgl. Rupp 2013: 47). Der Umfang, die Struktur und auch der Gebrauch des Wortschatzes sind so gesehen Bestandteil der Kompetenzen aller Sprachfertigkeiten und sollte innerhalb des FSUs stets mit diesen in Zusammenhang stehen (vgl. Wirthner 2012: 1; Selimi 2010: 16, 18).

Der Wortschatzerwerb beschreibt „die Gesamtheit der Aneignungsprozesse von […] Wortschatz“ (Hallet / Königs 2010: 104) und findet in der sich stets verändernden sprach- lichen Welt ein Leben lang statt, sodass die Integration neuen lexikalischen Wissens den menschlichen Wortspeicher permanent erweitert (vgl. Daniel 2001: 28). Bereits in seinem ers- ten Lebensjahr erlernt der Mensch die ersten Wörter, womit gleichzeitig ein langer und indi- vidueller Prozess in Bewegung gesetzt wird, der von einer Vielzahl an Faktoren (z.B. Alter, persönliches Interesse, Familiensituation, soziales Umfeld etc.) abhängig ist. Jedes Mal, wenn ein Sprecher neuen „Wissensbereichen“ begegnet (Schule, Medien, Partner, Freizeit, Beruf etc.), erweitert er seinen Wortspeicher und zugleich sein Weltwissen um neue unbekannte Wörter und Inhalte (vgl. Selimi 2010: 27).

Dabei umfasst der Wortschatz nicht bloß getrennte Einzelwörter, sondern stellt vielmehr ein offenes und dynamisches System von Netzwerken dar, welches das Behalten und Abrufen von Wortwissen ermöglicht (vgl. Glück 2007: 2; Selimi 2010: 16f). Dazu gehört auch ein Teil grammatischer Strukturen, die innerhalb des Wortschatzes integriert sind (vgl. Haudeck 2008: 46). So verlangt der normgerechte Umgang mit Wörtern in der Fremdsprache insbesondere auch das Wissen über Möglichkeiten ihrer Kombinierbarkeit (vgl. Ender 2007: 67). Umgekehrt können die erworbenen Wörter auch wieder vergessen werden und aus dem Wortwissen verschwinden. Der Wortschatz wird in diesem Zusammenhang als ein „dynamische[s] Gebilde [bezeichnet], dessen Strukturen zu keinem Zeitpunkt in einen rigi- den, statischen Zustand einfrieren, sondern stattdessen wandelbar und […] stets der Verän- derung unterworfen sind“ (Daniel 2001: 29). Mit Blick auf einen didaktisch effizienten Wortschatzunterricht bedeutet dies, dass die Schülerinnen und Schüler (SuS) erkennen, dass Wörter nicht alphabetisch geordnete Einträge sind, sondern in ihrer Gesamtheit als ein lexikalisches System mit semantischen, morphosyntaktischen sowie systematischen Verbindungen organisiert sind (vgl. Wirthner 2012: 1f).

2.2.1 Rezeptiver, produktiver und potentieller Wortschatz

Innerhalb der Didaktik wird der Wortschatz in den rezeptiven/passiven Verstehenswortschatz und produktiven/aktiven Mitteilungswortschatz unterteilt, wobei hier keine scharfe Trennung vorliegt. Der rezeptive Wortschatz bezeichnet die Menge aller Wörter, die ein Sprecher beim Lesen und Hören auf der Grundlage von top-down Prozessen und unter Aktivierung seines Weltwissens versteht und verarbeitet. Dagegen bildet sein Mitteilungswortschatz ein Reper- toire an Wörtern, die er beim Sprechen und Schreiben produzieren kann (vgl. Selimi 2010: 26; Grünewald / Küster 2009: 203), wofür er auf das Wissen semantischer, grammatikali- scherer sowie pragmatischer Komponenten des Wortgebrauchs zurückgreifen muss (vgl. Grünewald / Küster 2009: 203; Löschmann 1993: 30f). Darüber hinaus unterscheiden Fremd- sprachendidaktiker zwischen dem kontrollierten aktiven und freien aktiven Wortschatz, wobei ersterer durch eine Übersetzungsaufgabe oder einen Lückentext (Hay un mont ó n de flo … en el jardin) aktiviert wird und der freie aktive Wortschatz solche Sprachelemente beinhaltet, die ohne jegliche Beeinflussung und nach freier Wahl durch den Sprecher in mündlichen sowie schriftlichen Sprachsituationen aktiviert werden (vgl. Ender 2007: 69). Der Verste- henswortschatz eines Sprechers entwickelt sich schneller und umfasst ein weitaus größeres Wortinventar als sein Mitteilungswortschatz. Der Austausch zwischen dem rezeptiven und produktiven Wortwissen ist dabei fließend, sodass die gespeicherten Wörter je nach Ak- tivierungsgrad und Anwendungshäufigkeit aus dem rezeptiven in den produktiven Wortschatz wandern und umgekehrt (vgl. ebd.; Selimi 2010: 26).

Neben der Unterscheidung zwischen rezeptivem und produktivem Wortschatz gibt es eine weitere Komponente, die zahlenmäßig nicht erfassbar ist. Dieser potentielle Wortschatz baut auf das passive und aktive Wortwissen auf und beschreibt die Fähigkeit eines Sprechers, sich unbekannte Wörter mithilfe ihm bekannter Wortbildungsregeln sowie seines Sprach- und Weltwissens selbstständig zu erschließen (vgl. Löschmann 1993: 30). Kennt ein kompetenter Sprecher z.B. das Wort posible, kann er sich mithilfe seines sprachlichen Wissens sowie lo- gischen Denkvermögens die Bedeutung von imposible ableiten. Gleiches gilt beispielsweise für das Substantiv semana, woraus der fortgeschrittene Lerner das Adjektiv semanal bilden kann (vgl. Dietrich / Geckeler 2007: 91, 93).

Die Wörter, die ein Sprecher täglich produziert und in kommunikativen Situationen neu erwirbt, wieder vergisst, erneut lernt, speichert und aktiviert, bilden zusammen seinen dynamischen und individuellen Wortschatz. Er umfasst eine Fülle an Wissen und stellt einen faszinierenden Teil des Gedächtnisses dar, der sich aus didaktischer Sicht als ein ergiebiges Forschungsfeld erweist (vgl. Haudeck 2008: 47). In diesem Zusammenhang wird der Blick in dem folgenden Kapitel auf die mentale Organisation von Wortwissen in der Mutter- und Fremdsprache innerhalb des menschlichen Gehirns gelenkt.

3 Die mentale Organisation von Wörtern im Gehirn

Das menschliche Gedächtnis steuert eine Vielzahl kognitiver Prozesse und ist für den kompe- tenten und normgerechten Umgang mit dem Wortschatz einer Sprache verantwortlich (vgl. Ender 2007: 57). Sowohl das Produzieren als auch Verstehen von Sprache ist ein vielschichtiger Vorgang, der eine enorme Herausforderung für das menschliche Gehirn darstellt, zumal der (fremdsprachliche) Wortschatzerwerb ein Prozess ist, der mit einer hohen Vergessensrate einhergeht (vgl. Unkel 1999: 61). Mit Blick auf die Frage, inwiefern eine neue Sprache gelernt und verarbeitet wird, stehen die Organisation des Wortschatzes im mentalen Lexikon sowie die Speicherung von Wortwissen im Langzeitgedächtnis (LZG) häufig im Zen- trum des Forschungsinteresses (vgl. Ender 2007: 7): Damit befasst sich das folgende Kapitel.

Innerhalb der Forschung gibt es eine Schnittstelle zwischen den Bereichen der Linguistik, Psycholinguistik sowie der Kognitionspsychologie, welche die Verarbeitungsprozesse und mentalen Repräsentationen des Wortschatzes sowohl in der Mutter- als auch in der Fremd- sprache versuchen zu erklären. Ein Einblick in die allgemeinen Vorstellungen der Psycholing- uistik und des LZGs ermöglicht die mentale Repräsentation von Wortschatz hypothetisch darzustellen. Im Anschluss an die Definition und den Aufbau des menschlichen Wortspeichers wird die komplexe Struktur des Wortschatzes im Hinblick auf dessen langfristige Speicherung genauer betrachtet. Hier wird insbesondere auf die Repräsentation von Wortwissen in seinen beiden Komponenten Form und Bedeutung sowie auf die Repräsentation innerhalb des men- talen Netzwerks eingegangen. Eine Zusammenfassung bündelt die Erkenntnisse, bevor der Blick von dem monolingualen auf das fremdsprachliche mentale Lexikon2 gelenkt wird. Dabei spielen sowohl die gleichzeitige Speicherung und Aktivierung mehrerer Sprachen als auch die Frage, inwiefern die Muttersprache mit den weiteren Fremdsprachen innerhalb des mentalen Lexikons in Verbindung steht eine wichtige Rolle. Das Kapitel schließt mit den da- raus resultierenden Schlussfolgerungen für den FSU ab.

In der vorliegenden Arbeit wird sich ausschließlich auf einen Ausschnitt psycholinguistischer Erkenntnisse bezogen, die für den fremdsprachlichen Unterricht von Interesse sind.

3.1 Das Langzeitgedächtnis

Für die Aneignung und den Erwerb von Wortwissen muss ein Sprecher nicht nur eine Fülle an Wörtern lernen, sondern diese auch adäquat behalten und zu jeder Zeit abrufen können. In einer Lernsituation ist der Mensch von Informationen umgeben, doch nicht immer sind all diese relevant und geraten wieder in Vergessenheit, während anderes dafür über einen langen Zeitraum behalten wird (vgl. Meerholz-Härle 2008: 18). Die meisten Fremdsprachenlerner kennen das Phänomen, dass neu gelernte Vokabeln, die am Ende einer Schulstunde noch abrufbar waren, in der Woche darauf wieder entfallen sind. Für das Fremdsprachenlernen ergibt sich hieraus die Aufgabe, das neu erworbene Wortwissen in das LZG zu überführen (vgl. Thornbury 2002: 24).

Das menschliche Gedächtnis wird als ein komplexes System beschrieben, das sich aus mehreren zusammenhängenden Speichern mit ihren entsprechenden Funktionen zusam- mensetzt (vgl. ebd.). Je nach Dauer und Präsenz der Informationen wird zwischen drei Spei- chern (Roche 2005) unterschieden: Das Ultrakurzzeitgedächtnis, worin neue Informationen für weniger als eine Sekunde verarbeitet werden, das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis mit einer begrenzten Verarbeitungsdauer von bis zu vier Minuten sowie das LZG mit seiner um- fassenden Speicherkapazität. Hier werden die aus dem Kurzzeitgedächtnis aufgenommenen Informationen nach einem bestimmten Ordnungsprinzip in bereits bestehende Wissensstruk- turen einsortiert, sodass eine fortlaufende Neustrukturierung zustande kommt. Während manche Informationen über Jahrzehnte hinweg hier gespeichert werden, geraten andere nach ein paar Wochen oder Monaten wieder in Vergessenheit (vgl. ebd., Bohn 1999: 81; Neveling 2004: 53). Das Vergessen äußert sich in der Unzugänglichkeit zuvor abgespeicherter Informa- tionen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr abgerufen werden können (vgl. Stork 2003: 60). Hier setzt der Prozess des Lernens an und verfolgt das Ziel, neu erworbene Infor- mationen dauerhaft zur Verfügung zu stellen (vgl. Kuhn 2016: 54). Um die vielschichtigen Verarbeitungsebenen des LZG zu erfassen, wird weiterhin zwischen dem aktiven Langzeitspeicher (Abrufgedächtnis), der die Informationen leicht zur Verfügung stellt und dem inaktiven Langzeitspeicher (Wiedererkennungsgedächtnis), wo jene Informationen für das Wiedererkennen gespeichert sind, unterschieden. Wird ein Wort graduell vergessen, ver- schiebt es sich zunächst von dem produktiven Speicher in den rezeptiven Speicher; es ist also noch passiv abrufbar. Die Speicherung von Wortwissen erfolgt in beiden Speichern auf unter- schiedliche Art und Weise und die Übergänge erfolgen dabei fließend.

Das Gedächtnis ist demzufolge ein sich ständig veränderndes und neu strukturierendes Gefüge, dass niemals statisch ist (vgl. ebd.; Bohn 1999: 81; Neveling 2004: 53). Die nachste- hende Abbildung 1 soll die Komplexität und Strukturierung des menschlichen Gedächtnisses noch einmal aufgreifen. Deutlich wird dadurch auch, dass das LZG ein Bestandteil vieler ver- schiedener und wechselwirkender Strukturen ist und auf dem Weg dorthin unzählige Prozesse durchlaufen werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

nach Rohrer (1990)

Abb. 1 Die Verarbeitung von Informationen im Gedächtnis (Bohn 1999: 81)

Diese Erkenntnisse über die unterschiedlichen Funktionen der genannten Speicher wirken sich auch auf das Lernen neuen Wortwissens aus, denn sie beeinflussen die Art und Weise und den Umfang des Lernens. So gesehen kann es nicht die perfekte Lerntechnik geben, um neuen Wortschatz in das LZG zu überführen (vgl. ebd.).

Zudem kann das LZG in die folgenden zwei Sphären unterteilt werden: Das implizite/proze- durale (unbewusste) und das explizite / deklarative (bewusste) Gedächtnis. Das bewusst abruf- bare deklarative Gedächtnis gliedert sich weiter in das episodische sowie das semantische Gedächtnis (vgl. Daum 2016: 25; Schmidt 2008: 54). Letzteres beinhaltet das Faktenwissen über die Welt sowie unseren Wortschatz, also jene Wortbedeutungen, die bei der Produktion und Rezeption von Sprache aktiviert werden können. Das episodische Gedächtnis umfasst die Emotionen und Erlebnisse, über die ein Sprecher verfügt und wird als autobiographisch bezeichnet. Das prozedurale Gedächtnis bedarf viele Wiederholungen und beinhaltet u.a. die kognitiven und motorischen Fähigkeiten sowie das Priming. Letzteres beschreibt den durch einen Reiz ausgelösten kognitiven Prozess der Voraktivierung von Gedächtnisinhalten, sodass z.B. anhand des Anfangsbuchstabens ein Wort bereits erkannt wird (vgl. Schmidt 2008: 55f). Auch das Vokabellernen und Konjugieren wird hier lokalisiert, sodass dieser Teil des Gedächtnisses für die Umsetzung deklarativen Wissens (z.B. in kommunikativen Situationen) zuständig ist (vgl. Schmidt 2008: 55; Kontio 2009: 11).

Die Prozesse und Abläufe des LZG sind über hierarchische Strukturen miteinander verbunden und stehen in ständiger Wechselwirkung (vgl. Schmidt 2008: 56).

3.2 Der menschliche Wortspeicher: Das mentale Lexikon

3.2.1 Begriffsbestimmung und Forschung

Jean Aitchison bezeichnet das mentale Lexikon als einen „human word-store“ (2003: 3), worin alle notwendigen Informationen und Daten des menschlichen Wortschatzes gespeichert werden: Es ist „das Reservoir, […] in dem unser Wissen über alle uns bekannten Wörter un- serer eigenen und ggf. auch anderer uns verfügbarer Sprachen gespeichert ist“ (Möhle 1997: 39). So gesehen ist das mentale Lexikon ein individuelles Wörterbuch und stellt jenen Teil des Gedächtnisses dar, der über den gesamten Wortschatz eines Sprechers verfügt (vgl. Alves- Bergerhoff 2013: 95f).

Zwar wurden in der Theorie bereits zahlreiche Untersuchungen zu den Strukturen des LZGs angesetzt (vgl. Clark 1993, De Bot 2004, Aitchison 1994, Neveling 2004), doch kann in der Summe keine vollständige Rekonstruktion des mentalen Lexikons abgebildet werden (vgl. Isermann 2008: 8). Die Ergebnisse sind demnach mit Vorsicht zu betrachten, denn vor dem Hintergrund, dass das Ganze „in seiner Funktionsweise nicht direkt beobachtbar [ist]“ (Haudeck 2008: 54), bleiben die Annahmen zunächst rein hypothetisch. J. Aitchison hat bereits in ihrem bekannten Werk Words in the mind (2003) die Struktur und Funktion des mentalen Lexikons versucht zu skizzieren und mehrmalig betont, mit welch einer Komplexität die Forschung konfrontiert wird:

It is an evolutionary mishmash, in which the various parts have developed over the ages into a somewhat strange amalgam (Aitchison 2003: 248).

Allerdings gewähren bestimmte Untersuchungen einen Einblick in die Funktionsbereiche des mentalen Lexikons, woraus sich wissenschaftliche Erklärungsversuche zum Wortschatzerwerb entwickelt haben (vgl. ebd.).

Stellt man sich ein Lexikon bildlich vor, hat man zunächst ein schriftliches und meist alphabetisch geordnetes Verzeichnis von Wörtern vor Augen. Dabei hat der menschliche Wortspeicher nur sehr wenig mit den uns bekannten Wörterbüchern zu tun, denn er ist weder alphabetisch angeordnet, noch in seiner Auffassung begrenzt. Das Wortwissen kann jederzeit erweitert und verändert werden, indem ein Sprecher neue Wörter aufnimmt und speichert, ihnen neue Informationen zuschreibt und die Aussprache bereits bestehender Wörter verändern kann. Wörterbücher hingegen sind in ihrer Auffassung beschränkt.

Studien über die Leistung des Gedächtnisses bestätigen, dass große Mengen an Daten ins- besondere in strukturierter Form erfolgreich gespeichert und abgerufen werden. Diese Er- kenntnis gilt auch für das mentale Lexikon, das dank seiner hocheffizienten Organisation ein beachtliches Auffassungsvermögen aufweist und mit großer Geschwindigkeit die Verar- beitung von Sprache abwickelt. Aufgrund seiner leistungsfähigen Struktur besteht die An- nahme, dass ein Muttersprachler durchschnittlich bis zu 180 Wörter pro Minute aktivieren kann (vgl. Rothweiler 2001: 21). Das mentale Lexikon und die darin ablaufenden kognitiven Prozesse erweisen sich demnach als äußerst effizient und organisiert (vgl. Günther 1989: 258).

Die Speicherkapazität des Wortschatzes zwischen Kindern und Erwachsenen weist dabei Variationen auf: Während Kinder bei ihrer Einschulung mit einem Alter von sechs Jahren über einen rezeptiven Wortschatz von rund 14.000 Wörter verfügen, beinhaltet im Vergleich dazu das Wortwissen eines Erwachsenen je nach Bildungsstand über 50.000 bis 250.000 passive Wörter, wovon zwischen 70-90% für den aktiven Gebrauch von Sprache zur Verfügung ste- hen (vgl. Rothweiler 2001: 21). Der Sprecher ist also dazu in der Lage, innerhalb weniger Sekunden eine Fülle an Informationen aus seinem Wortinventar abzurufen, was nach Levelt eine außergewöhnliche Fähigkeit des Menschen darstellt: „This alone characterizes lexical access as a cognitive skill par excellence“ (1992: 2).

3.2.2 Aufbau und Struktur

Allen wissenschaftlichen Ansätzen und Betrachtungsweisen liegt die fundamentale Frage zu- grunde, was genau innerhalb des mentalen Lexikons wo und auf welche Art und Weise ge- speichert wird.

Trotz der zahlreichen zugrunde liegenden, divergenten Vorstellungen über das mentale Lexikon und der mehrdimensionalen Betrachtung des Wortbegriffs (s. Kapitel 2) besteht Einigkeit darin, dass die lexikalischen Einheiten unter folgenden vier Repräsentationsebenen gespeichert werden (vgl. Rothweiler 2001: 33):

- die phonetisch-phonologischen Merkmale (phonologische Form, Silbenzahl, Wortakzent, Anlaut, Auslaut, Intonation),
- die morphologischen Eigenschaften (Genus, Pluralbildung, Wortstamm, Komposition, Der- ivation),
- die semantischen Aspekte (Wortbedeutung, Relationen),
- die syntaktischen Eigenschaften (Wortart, Satzbau, Grammatik).

Diese Dimensionen verdeutlichen, dass Wörter über eine Vielzahl an Eigenschaften verfügen, welche für die Produktion sowie Rezeption von Sprache maßgeblich sind (vgl. Glück 2007: 2). Es besteht ein wissenschaftlicher Konsens, dass sich die vielschichtigen Informationsebenen in Form von mehreren Teillexika innerhalb des mentalen Lexikons zu einem Gesamtgefüge von Wortwissen zusammenfügen (vgl. Raupach 1997: 21). Aus Sicht der Psycholinguistik stellt sich folglich die Frage, auf welche Art und Weise die Informationen im Wortwissen strukturiert sind und abgerufen werden.

In der Fachliteratur geht man bildlich von einer horizontalen Anordnung der Informationsebe- nen im mentalen Lexikon aus, doch kann diese Vorstellung nicht der räumlichen Anordnung im Gehirn entsprechen (vgl. Dietrich 2007: 34). Aus empirischen Untersuchungen geht her- vor, dass die Informationsebenen nicht willkürlich im Gehirn gespeichert und abgerufen wer- den, sondern viel mehr in freier und jedoch organisierter Form vorliegen (vgl. Glück 2007: 2), woraus sich ein umfassendes Netz aus Informationen spinnt, die nach gewissen Ordnungsprinzipien miteinander verknüpft sind (s. Kapitel 3.2.4) (vgl. Dietrich 2007: 36).

3.2.3 Wortform und Wortbedeutung

Es liegen eine Reihe kontrovers diskutierter, wissenschaftlicher Modelle3 vor, die von einer Zweiteilung der lexikalischen Information ausgehen, wobei hier eine Unterscheidung zwischen den Zwei-Stufen-Modellen (Levelt 1989/1992, Butterworth 1989, Garrett 1989) und den interaktiven Netzwerktheorien (Dell 1986, Herrmann 1992) zu beachten ist. Die wesentliche Unterscheidung besteht in ihren Annahmen über den zeitlichen Ablauf der Verarbeitung von Sprache (vgl. Rothweiler 2001: 37).

Das Modell nach Levelt (1989, 1992) ist das zurzeit bedeutendste Sprachproduktionsmodell und orientiert sich an dem vorausgehenden Modell nach Garrett (Processes in language pro- duction, 1988), dessen Prinzip der Modularität Levelt übernimmt und annimmt, dass jene Teilprozesse funktional voneinander getrennt und nach einer strukturierten Abfolge abgewickelt werden (vgl. Herrmann 2002: 23). Daraus ergibt sich die Auffassung einer zwei- teiligen Gliederung der lexikalischen Einheit in die Lemma- und Wortformebene (Lexe- mebene), dessen Betrachtung relevant ist für den lexikalischen Zugriff auf ein Wort. Abbil- dung 2 illustriert diese Gliederung der linguistischen Merkmale eines jeden Lexikoneintrages.

[...]


1 Im Verlauf dieser Arbeit werden die beiden Termini Lernstrategien und Lerntechniken gleichgestellt.

2 Im weiteren Verlauf kann dieser Ausdruck durch den Begriff Lernerlexikon umschrieben werden. 11

3 Zum Abruf und zur Speicherung von Wortwissen im mentalen Lexikon existieren kontroverse Diskussionen unter Linguisten und Psychologen (vgl. Börner / Vogel 1997: 4). Mit Blick auf den Um- fang dieser Arbeit kann und soll keine Stellungnahme bezogen werden, sondern sich ausschließlich auf die für die Fremdsprachendidaktik wertvollen Erkenntnisse psycholinguistischer Untersuchungen be- zogen werden.

Fin de l'extrait de 80 pages

Résumé des informations

Titre
Neurokognitive Prozesse bei dem Erwerb von Wortschatz mit Blick auf den schulischen Fremdsprachenunterricht Spanisch
Auteur
Année
2016
Pages
80
N° de catalogue
V351247
ISBN (ebook)
9783668378452
ISBN (Livre)
9783668378469
Taille d'un fichier
1517 KB
Langue
allemand
Mots clés
neurokognitive, prozesse, erwerb, wortschatz, blick, fremdsprachenunterricht, spanisch
Citation du texte
Jana Drenik (Auteur), 2016, Neurokognitive Prozesse bei dem Erwerb von Wortschatz mit Blick auf den schulischen Fremdsprachenunterricht Spanisch, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/351247

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