Informelles Lernen in der dualen Ausbildung. Eine Momentaufnahme des deutschen Berufsschulsystems im Kontext der europäischen Bildungsreform


Bachelorarbeit, 2016

43 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Versuch einer Begriffsabgrenzung
2.1 Das Lernen: eine definitorische Annäherung
2.2 Das erste Lernfeld: das formale Lernen
2.3 Das zwei Lernfeld: das non-formale Lernen
2.4 Das dritte Lernfeld: das informelle Lernen
2.5 Die Bedeutung der Lernfelder

3 Dimensionen des informellen Lernens
3.1 Die erste Dimension: das Erfahrungslernen
3.2 Die zweite Dimension: das implizite Lernen
3.3 Die dritte Dimension: das selbstgesteuerte Lernen
3.4 Informelles Lernen im Arbeitsprozess

5 Das informelle Lernen in der Berufsausbildung
5.1 Das duale Berufsausbildungssystem: ein Überblick
5.1.1 Gesetzliche Grundlagen des dualen Ausbildungssystems
5.1.2 Die Zuständigkeiten im dualen Ausbildungssystem
5.1.3 Die Expertenprüfung als informelles Qualifizierungsverfahren
5.2 Die Lernfelder im dualen System
5.2.1 Die formale und informelle Qualifizierung im Berufsbildungssystem
5.2.2 Reformansätze und bildungspolitische Maßnahmen

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Informelles Lernmodell

Abbildung 2: Betriebliche Lernarten

Abbildung 3: Vergleich Neuimmatrikulationen & Erstauszubildende seit 1992

Abbildung 4: Die Berufsausbildungssysteme im Überblick

Abbildung 5: Teilnehmer duale Abschlussprüfung 2012

Abbildung 6: Darstellung der Kompetenzmatrix im DQR

Tabelle 1: Übersicht Über Zuordnungen Zu Den Acht Stufen Der Dqr

1 Einleitung

„Meine Grundthese lautet, dass wir jetzt in einer Wissensgesellschaft leben, da mehr gelernt wird als je zuvor, aber noch nicht in einer Wissensökonomie, da die meisten nicht in der Lage sind, viel von diesem Wissen für die Erwerbstätigkeit einzusetzen.“ (Livingstone 1999, S. 66)

Die Arbeitswelt unterliegt in den letzten Jahrzehnten einer zunehmenden Entgrenzung, weg von der nationalstaatlichen Ebene hin zu einer internationalen Arbeitsgesellschaft. Einzelne Praktika, Teilstudiengänge oder ganze Ausbildungen können mittlerweile im Ausland absolviert werden. Diese neuen Möglichkeiten stellen die Nationalstaaten vor zahlreiche Herausforderungen, müssen sie doch, um konkurrenzfähig zu bleiben, mit dem steten Wandel schritthalten. Auch die Europäische Union erkannte aufgrund anhaltender wirtschaftlicher und arbeitspolitischer Defizite die Notwendigkeit von Reformen.

Die Weichen für einen Paradigmenwechsel innerhalb des Wirtschaftsraumes stellte der Gipfel von Lissabon im Jahr 2000. Erstmalig wurde die Bildungspolitik als marktwirtschaftlicher Faktor erkannt und die „Schaffung eines europäischen Raumes der Berufsbildung“ (Severing 2006, S. 17) manifestiert. Als Schlüsselbegriff rückte dabei das informelle Lernen als zukunftsweisendes Lernfeld der Wissensökonomie in den Fokus. Lernen ist folglich nicht nur auf die formalisierten Bildungsinstitutionen konzentriert, sondern findet auch außerhalb dessen im alltäglichen Lebens- und Arbeitskontext statt. (vgl. Laur-Ernst 2000, S. 161) Mit dem neuen Bildungsverständnis gingen und gehen noch immer vielfältige Reformmaßnahmen einher, u.a. die Einführung eines nationalen Qualifizierungsrahmens (NQR), die Priorisierung der „Validierung von nicht-formalem und informellem Lernen“ (ValNIL), die verstärkte Informalisierung und Internationalisierung der Ausbildungsberufe und Studiengänge sowie die Implementierung eines europäischen Leistungspunktesystems (ECVET). Diese Reformen müssen nach Art. 149 bis 151 EGV auf nationalstaatlicher Ebene verwirklicht werden. (vgl. BMBF 2005, S. 10)

Da sich die europäischen Ausbildungssysteme aber kulturell, historisch und institutionell stark voneinander unterschieden, stellt die Entwicklung eines einheitlichen Bildungsraumes die Mitgliedsstaaten vor eine Vielzahl logistischer wie politischer Herausforderungen. Insbesondere in Deutschland, der größten Wirtschaftsmacht der Eurozone, wurde dem informellen Lernen im Rahmen des dualen Ausbildungssystems bis Anfang der 2000er Jahre wenig Rechnung getragen. (vgl. Severing 2009, S. 35) Die Ursachen dafür sind vielfältig, sollen aber kein Bestandteil der vorliegenden Arbeit sein. Vielmehr gilt es, eine Momentaufnahme der gegenwärtigen Ausbildungssituation in Deutschland im Hinblick auf die differenten Lernfelder und die Umsetzung der europäischen Bildungsreform aufzuzeichnen. Dafür soll im ersten Teil der Arbeit ein umfassender Überblick über die differenten Lernbegriffe geschaffen werden, auf denen im analytischen Teil aufgebaut wird. Die Analyse entspricht in ihrem Charakter in groben Zügen einer Dokumentenanalyse. Untersucht wird dabei einerseits, inwieweit das informelle Lernen im dualen Ausbildungsprozess eine Rolle spielt und welche Potenziale es zur Integration neuer Lernfelder bietet. Andererseits soll die Metaebene der Europäischen Union, ihre Reformansätze und deren Umsetzung auf der nationalstaatlichen Ebene ausschnitthaft dargelegt werden. Die Arbeit erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden lediglich die wichtigsten Aspekte der Reformmaßnahmen in Deutschland im Hinblick auf die supranationalen Vorgaben der EU und das Konzept des informellen Lernens eingehender betrachtet. Besonders hervorgehoben werden in diesem Kontext die Externenprüfung (Kapitel 5.1.3) und der deutsche Qualifikationsrahmen (Kapitel 5.2.2) als erste signifikante Reformansätze in Deutschland. Die Arbeit kann demgemäß als Basis für eine umfassende Erörterung zum Thema dienen. Im Anschluss an die Analyse wird eine Schlussfolgerung zu den gewonnenen Erkenntnissen gezogen und ein kurzer Ausblick über die noch notwendigen Reformen in Deutschland gegeben. (Kapitel 6)

Als literarische Grundlagen wurden u.a. der Aufsatz „Debatten, Begriffsbestimmungen und Forschungsansätze zum informellen Lernen und zum Erfahrungslernen“ und die Monographie „Prüfungen und Zertifizierungen in der beruflichen Bildung“ genutzt.

2 Versuch einer Begriffsabgrenzung

Erstmalig kam der Begriff des informellen Lernens in den 1920er Jahren infolge der US-amerikanischen Debatte zur Erwachsenenbildung und -weiterbildung auf. In Deutschland fand der Terminus erst zu Beginn der 1990er Jahre zunehmend Beachtung und wurde in den bildungspädagogischen Diskurs implementiert. Ursächlich dafür waren zum einen die sich wandelnden ökonomischen, arbeitstechnischen und gesellschaftlichen Strukturen infolge der Wiedervereinigung und der Beendigung der Besatzungsmacht. (vgl. Overwien 2001, S. 359) Zum anderen spielte der Einfluss der Europäischen Union eine signifikante Rolle, welche mit ihrem „Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung“ im Jahr 1996 den Grundstein für die moderne Bildungsdebatte um das lebenslange Lernen und die Validierung von informell erworbenem Wissen legte. (Vgl. EU 1996, S. 9ff.)

Einer der ersten institutionalisierten Ansätze zum Begriff „informelles Lernen“ stammt aber von der Faure-Kommission der UNESCO, die in ihrem 1972 veröffentlichten „Learning to be: The world of education today and tomorrow“ von der Schätzung ausgeht, dass mindestens 70 Prozent aller menschlichen Lernprozesse nicht formalisiert ablaufen. Begründet wird diese These damit, dass in manchen Ländern die Majorität der Bevölkerung niemals eine Schule besucht oder lediglich das Grundschulniveau abgeschlossen habe und diese Personen trotz dessen Lernprozesse im Lebenskontext erfahren. (vgl. UNESCO 1972, S. 34) Mit diesem Report wurden in der Folge zahlreiche internationale Forschungsarbeiten angestoßen, wobei tendenziell aufgrund differenter Entstehungshintergründe, des theoretischen Zugangs und der individuellen Sichtweise divergierende Definitionsansätze zum Terminus „informelles Lernen“ verfolgt wurden. (vgl. Overwien 2004, S.52)

In der modernen Debatte wird das informelle Lernen primär in Abgrenzung zu den weiteren Lernfeldern des „formalen" und „non-formalen" Lernens betrachtet, wobei vorrangig die Wechselwirkungen zwischen diesen Lernfeldern als wichtig erachtet werden. Zentral ist dabei die Frage, ob das informelle Lernen als komplementär, kongruent oder divergent anzusehen ist.

Im Folgenden soll eine Ausdifferenzierung des Lernbegriffs vorgenommen werden, wobei auf die einzelnen Lernfelder im Allgemeinen und das informelle Lernen im Besonderen genauer eingegangen werden soll. Vorab wird hierfür der Terminus „Lernen" näher erörtert, sodass eine eindeutige und exakte Arbeitsdefinition vorgenommen werden kann.

2.1 Das Lernen: eine definitorische Annäherung

Im Anschluss an die Sitzung des Europäischen Rates in Lissabon im März 2000 veröffentlichte die Europäische Kommission im Oktober desselben Jahres das „Memorandum über lebenslanges Lernen“, indem die Weichen für den Paradigmenwechsel innerhalb der europäischen Bildungspolitik im Übergang zur wissensbasierten Gesellschaft gelegt wurden. (vgl. Europäische Kommission 2000, S. 5ff.) Besonders in den Fokus rückten dabei die drei differenten Lernfelder (formal, non-formal, informell), die erstmalig von der EU in Abgrenzung zueinander definiert wurden. (vgl. ebd., S. 12) Das informelle Lernen wurde dabei, als essenziell für das Konzept des lebenslangen Lernens und die im Hinblick auf die zukünftig von den Mitgliedsstaaten und der EU zu ergreifenden Reformen herausgestellt. Laut Memorandum sind die Kernziele der Reformen u.a. die Förderung neuer Grundkompetenzen und sozialer Integration in und mithilfe von Bildung, die Implementierung neuer Lernzentren und -einrichtungen sowie eine verstärkte Transparenz und Validierung von Bildungsnachweisen in den verschiedenen Lernfeldern. (vgl. ebd., S. 13ff.) Demgemäß soll infolge dieser Reformen eine Chancengleichheit für das lebenslange Lernen im europäischen Wirtschaftsraum geschaffen werden.

Mit der internationalen Chancengleichheit im Kontext des Bildungsdiskurses beschäftigte sich bereits die OECD in ihrer ersten Studie „International Adult Literacy Survey" (1994) und ihrem darauf aufbauenden Bildungsreport „Lifelong Learning for All" (ILAS) (1996). In der Studie wurden 9 Länder[1], darunter führende Industrienationen, auf ihre Literalität hin untersucht. Weitere ILAS-Studien folgten in den kommenden Jahren mit anderen, partizipierenden Ländern. Im Jahr 1996 setzen sich die Bildungsminister der entsprechenden Nationen zusammen und entwickelten Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Bildungschancen und -gleichheit. Insbesondere sozioökonomische Faktoren wie der freie Zugang zu Qualifizierungsmaßnahmen, die Förderung von Jugendlichen und die Transparenz des Bildungssystems wurden als politische Reformansätze konstatiert. (vgl. OECD, 2007, S. 18ff.) Der Terminus „Lernen“ fiel dabei abermals als integrative Maßnahme, eine eindeutige Definition wurde dazu aber nicht erarbeitet.

Deshalb soll im weiteren Verlauf auf andere Autoren zurückgegriffen werden. So wird im Anschluss an den Pädagogen Horst Siebert das Lernen

„als Erweiterung des Wissens, der Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung von Lebenssituationen" (Siebert 2010, S. 191)

angesehen. Demgemäß ist der Lernbegriff eng verknüpft mit dem Erfahrungsaspekt und einer Wissenserweiterung, die weder in institutionalisierten Kontexten (z.B. in Bildungseinrichtungen) verortet werden noch leistungsorientiert oder zielgerichtet (z.B. für ein Zertifikat) sein muss. Eine signifikante Folge des Lernprozesses ist dabei die Verhaltensänderung im Rahmen der Konfrontation mit historischen, kulturellen und sozialen Umweltbedingungen. Laut Becker und Treml ist eine solche auf das Individuum bezogene, behavioristische Folge relativ dauerhaft und nicht zwingend an äußerlichen Merkmalen oder geänderten Verhaltensmustern erkennbar, da das Lernen auch latent in Form unbewusster, kognitiv-mentaler Prozesse erfolgt. (vgl. Becker/ Treml, 2006, S. 104) Das Lernen findet dabei im ständigen Austausch mit der Umwelt statt, wobei die in der Praxis gewonnenen Erkenntnisse als Erfahrungswissen deklariert werden.

Nach Straka können die Lernprozesse nochmals nach ihrer Kategorisierung in intentional und non-intentional unterschieden werden. Zu den non-intentionalen Formen zählen u.a. beiläufiges und implizites Lernen. Das intentionale Lernen wird hingegen in fremdbestimmt (z.B. in der Schule oder im Hort) und selbstbestimmt (z.B. durch den Besuch spezieller Kurse oder Arbeitsgemeinschaften) differenziert. (vgl. Straka 2004, S. 11)

2.2 Das erste Lernfeld: das formale Lernen

Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen grenzt der Pädagoge Eckart Severing den Ausdruck „formales Lernen" anhand des Kriteriums Institutionalisierung gegenüber anderen Lernfeldern ab. So geht er davon aus, dass das formale Lernen auf reglementierte und festgelegte Lerninhalte ausgerichtet ist, die kompetent vermittelt werden müssen und mit denen spezifische Ziele verfolgt werden. (vgl. Severing 2010, S. 149) Im Kontext von Bildungseinrichtungen können diese Ziele grob gefasst (u.a. die Wissensvermittlung, das Erzielen guter Noten) oder spezifiziert werden (u.a. das Erlernen der Stochastik, die Förderung rhetorischer Fertigkeiten). Eine kongruente Definition stellte Dohmen bereits im Jahre 1996 auf, wobei er den Aspekt des Lernens zur Erlangung von Bildungsabschlüssen respektive Zertifikaten und Zeugnissen explizit hervorhob. (vgl. Dohmen 1996, S. 29)

Gleichermaßen ist das formale Lernen auf das Vorhandensein einer Bildungseinrichtung zur Vermittlung des Wissens angewiesen. Als formale Bildungsorte sind hierbei alle Schulen, Fachhochschulen, Berufs(fach)schulen, Ausbildungsstätten und Universitäten anzusehen. Diese legen die Rahmenrichtlinien für den Lernprozess fest, die sowohl behavioristischer als auch formalistischer und thematischer Natur sein können. (vgl. BMFSFJ 2005, S. 128) Das bedeutet, dass dem Bildungsort die Verantwortlichkeit für die Wissensvermittlung übertragen wird, wobei er vom Bildungsministerium und der KMK vorgegebene Regeln, Normen und Rahmenrichtlinien einzuhalten hat. In gewissen Fällen wird die Entscheidungsgewalt auch auf die untere Ebene, etwa bei Projektwochen oder Sportveranstaltungen, übertragen.

Diese Erkenntnisse fasst Overwien wie folgt zusammen:

"Formales Lernen ist danach institutionell geprägtes, planmäßig strukturiertes Lernen mit anerkannten Zertifikaten." (Overwien 2010, S. 41)

Über die Begriffsbestimmung zum formalen Lernen herrscht demgemäß ein weitgehender Konsens, der sich über die Jahre hinweg in der Fachliteratur etabliert hat und von zahlreichen Forschungen und Studien gestützt wird.

2.3 Das zwei Lernfeld: das non-formale Lernen

Beim Terminus „non-formales Lernen“ herrscht hingegen eine erhebliche Uneinigkeit im deutschsprachigen Bildungsdiskurs, da bereits die Übersetzung in die deutsche Sprache zu Verwechslungen mit anderen Begrifflichkeiten, u.a. dem informellen Lernen, führen kann.[2]

In der englischsprachigen Fachliteratur werden in der Regel unter „non-formal learning“ alle Lernformen zusammengefasst, die nicht in formalen Bildungsinstitutionen sowohl aktiv-bewusst als auch passiv-unterbewusst stattfinden. (vgl. Dohmen 2001, S. 18) Im Sinne des Memorandums der Europäischen Kommission ereignet sich das non-formale Lernen außerhalb der Hauptsysteme der Bildung und Arbeit im Rahmen von Organisationen und Gruppierungen. (vgl. Europäische Kommission 2000, S. 9f.) Dazu zählen beispielsweise politische Parteien, Arbeitsgemeinschaften, Sportverbände, Kurse und der Nachhilfeunterricht. Folglich ist diese Lernform weniger formalisiert und professionalisiert, besitzt trotz dessen aber ein erkennbares, intentionales Lernelement, dem durch differente zeitliche und sachliche (Lern-)Einheiten nachgekommen wird. (vgl. Cedefop 2009, S. 87) Üblicherweise geschieht das non-formale Lernen begleitend. Das heißt, dass weder eine Zertifizierung noch eine Überprüfung der erlernten Leistung in einem nummerisch vergleichbaren System angestrebt wird. Eine andere Auffassung des Terminus vertritt der Forscher John Garrick in seiner im Jahre 1998 erhobenen Studie „Informal Learning in the Workplace“. Sein Ansatz zielt auf ein postmodernes Verständnis des informellen und non-formellen Lernens ab. Das bedeutet, dass die Definition der Lernformen je nach Kontext stark variieren kann, da die politische Agenda bislang Bildungsfragen und der Erforschung der menschlichen Lernprozesse zu wenig Beachtung schenke. Demgemäß gibt es weder eine eindeutig falsifizierbare oder verifizierbare Begriffsbestimmung noch eine endgültige, universelle Theorie. (vgl. Garrick 1998, S. 12f.)

Garrick selbst stellt überdies die These auf, dass das non-formale Lernen ein Sammelbegriff für alle Formen des Lernens ist, die außerhalb des institutionalisierten und formalisierten Kontextes stattfinden. Das „informal learning“ (vgl. ebd., S. 1) ist dabei ein Teilbereich der nicht-formalen Lernformen und somit dem non-formalen Lernen hierarchisch untergeordnet. Mit dieser Definition revolutioniert Garrick die sonst in aller Regel vorgenommene Zwei- bzw. Dreiteilung der Lernfelder.

2.4 Das dritte Lernfeld: das informelle Lernen

Das informelle Lernen hat seinen Ursprung in dem Forschungsfeld der informellen Bildung, die bereits in den 1970er Jahren im angloamerikanischen Raum zunehmend an Popularität gewann. (vgl. Straka 2004, S. 11) Erste Forschungen gehen sogar auf die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück.

Trotz der umfassenden Diskussionen zum informellen Lernen gibt es bislang aber keine einheitliche Definition in der deutschen und internationalen Bildungspolitik. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann Livingstones Begriffsbestimmung angesehen werden, der das informelle Lernen „in any context outside the pre-established curricula of educative institutions“ (Livingstone 2001, S. 4)

verortet. Diese Abgrenzung zu anderen Lernfeldern sieht Overwien als großen Kritikpunkt, da wichtige Faktoren, u.a. die Intentionalität und das situative Lernen, nicht explizit in die Begriffsdefinition eingebunden werden. (vgl. Overwien 2009, S. 25f.) Die Differenzierung anhand eines Kriteriums ist folglich zu eindimensional und unspezifisch, um den Terminus in all seinen Facetten zu erfassen. Schließlich umfasst das informelle Lernen nicht nur einen Teilbereich der Gesellschaft, sondern es ist das Resultat der kontextbezogenen, alltäglichen Auseinandersetzung mit der direkten und indirekten Umwelt. Der Lernprozess erfolgt dabei in der Regel non-intentional, implizit und fall- bzw. anforderungsbezogen. (vgl. Düx/Sass 2005, S. 395) Das Individuum setzt sich also nicht zwangsläufig bewusst, etwa wie in einer Bildungseinrichtung, einer Lernsituation aus. Vielmehr richtet es sein Verhalten nach den alltäglichen Anforderungen und nicht nach Lerneinheiten und Testsituationen aus. (vgl. vgl. Straka 2004, S. 12ff.) Das Lernen erfolgt also in „everyday encounter“ (Marsick/ Watkins 1990, S. 29) als induktiver Prozess, bei dem intendierte und nicht-intendierte Folgen bewertet und das Gelernte kontextualisiert wird, sodass Lern- und Lösungsstrategien entsprechend der situativen Anforderung entwickelt werden können. Diese Strategien können auch in Form von Kompetenzen entstehen. Wie Abbildung 1 verdeutlicht, bedarf es eines Auslösers („trigger“), der zur Interpretation der entsprechenden Erfahrung und zur Entwicklung von Lernstrategien führt. Diese Strategien werden in der Realsituation ausgetestet und (un-)beabsichtige Konsequenzen vorab und anschließend analysiert, sodass das Individuum ein Fazit aus der Lernstrategie ziehen kann („lessons learned“). Hierbei handelt es sich um einen lebenslangen Kreislauf, der vom Kontext („context“) respektive der Umwelt des Individuums beeinflusst.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Informelles Lernmodell (nach: Marsick/ Watkins 1990, S. 29)

Aufgrund der schwer quantifizierbaren Dimension des informellen Lernens ist die Frage nach der Zertifizierung dessen schwierig und noch nicht abschließend geklärt worden, insbesondere im Hinblick auf die berufsqualifizierenden, dualen Ausbildungen. Die Europäische Kommission hat sich zwar in dem „Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung“ für eine Stärkung des informellen Lernens in allen Ausbildungsberufen und Arbeitsstellen ausgesprochen, aber vor allem in Deutschland herrschen massive Defizite bezogen auf die curriculare Bewertung von nicht-messbaren Kompetenzen und Lernerfolgen. (Descy/Teassaring 2002, S. 96)

Anhand der dargelegten Begriffsbestimmung zum informellen Lernen können differente Merkmalsdimensionen herausgestellt werden: das implizite und das inzidentelle Lernen, das Erfahrungslernen und das selbstgesteuerte Lernen. Diese Lernweisen sind Nebenprodukte des informellen Lernens. Während das Erfahrungslernen über die reflektierte Verarbeitung von Verhaltens- und Handlungsweisen teils intentional erworben wird, findet das implizite Lernen vollständig unterbewusst statt. Ein vollständig bewusster Lernprozess erfolgt hingegen beim selbstgesteuerten Lernen. (vgl. u.a. Overwien 2002, S. 17ff.)

Entsprechend der zugrundeliegenden Definitionen ist das informelle Lernen letzten Endes ein Lernfeld, bei dem sich das Individuum selbstständig Kompetenzen und Wissen bezüglich Alltags-, Berufs- und Ausbildungssituationen aneignet.

2.5 Die Bedeutung der Lernfelder

Mit Blick auf den wissenschaftlichen Diskurs ist augenfällig, dass insbesondere das Lernfeld des informellen Lernens als vermehrter Forschungsgegenstand dient und im Zusammenhang zu ökonomischen, gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Aspekten analysiert wird. Dabei spielt das von der Europäischen Kommission definierte Konzept des lebenslangen Lernens eine zentrale Rolle, da es die Anforderungen und Strukturen an die Bildungspolitik und das Individuum selbst neu konzipiert und aktualisiert hat. (vgl. Dehnbostel 2001, S. 255) Denn mit der zunehmenden Globalisierung und der steigenden Konkurrenz an professionalisiertem Personal besteht auf dem Arbeitsmarkt ein hoher Bedarf an der steten Kompetenzerweiterung, vor allem in Hinblick auf die neuen, technischen Standards und Innovationen. Hinzu kommt, dass mithilfe der EQF[3] - und der ECVET[4] -Systematiken eine Vereinheitlichung der Lernfelder und somit eine Aufwertung des informellen Lernens angestrebt wird. Bislang findet dieses Lernfeld aufgrund seiner recht schwierigen Quantifizierbarkeit bei der Arbeitsqualifizierung von Jugendlichen und Studierenden im Besonderen und auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Allgemeinen aber nur wenig Beachtung. (vgl. Descy/Teassaring 2002, S. 96) Die Arbeitsmarktforschung greift diese Problematik zunehmend in ihren Studien auf und prognostiziert für die kommenden Jahre, dass vor allem das implizite Lernen und das Erfahrungslernen von größerer Bedeutung werden zugunsten eines Bedeutungsrückgangs der formalen Lernstrukturen. (vgl. Overwien 2001, S. 359)

Insbesondere die „guided participation“ (Rogoff 2003, S. 282) könnte dabei zunehmend von Bedeutung werden. Das bedeutet, dass der Lernende die informellen Lernprozesse mithilfe eines ausgewiesenen Experten im Kontext der Lehrausbildung gleichermaßen bewusst wie unbewusst erfährt. (Vgl. ebd., S. 283ff.) Angelehnt ist dieses Konzept an die Kindheitserfahrungen, bei denen das Kind als ersten Prozess der Lernerfahrung sich Wissen in Form von Sprache und Verhaltensweisen informell aneignet.

3 Dimensionen des informellen Lernens

Da sich das informelle Lernen nicht im institutionalisierten oder formalen Kontext ereignet, gibt es keine fest geschriebenen Lernerfolge, die erzielt werden müssen. Vielmehr erfolgt der Lernprozess ständig, kontextbezogen, situativ und in differenten (Alltags-)Situationen. Hierbei können die Individuen ihre Kompetenzen an die sich wandelnde Umwelt anpassen, wobei verschiedene Lerndimensionen zur Anwendung kommen. Diese sollen in den folgenden Unterkapiteln differenziert dargestellt werden.

3.1 Die erste Dimension: das Erfahrungslernen

Über Jahre hinweg wurde dem Erfahrungslernen im beruflichen Alltag und in der dualen Ausbildung nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst durch den Input der Europäischen Kommission und der Debatte zum lebenslangen Lernen trat diese Dimension zunehmend in den Fokus. (vgl. Dybowski 1999, S. 17)

Insbesondere im angelsächsischen Raum werden die Termini Erfahrungslernen und informelles Lernen oftmals gleichgesetzt, weshalb eine eindeutige Definition nur sehr schwer möglich ist. Grundsätzlich aber spricht man dann vom Erfahrungslernen, wenn sogenannte „Primärerfahrungen“ (Dohmen 2001, S. 27) zu einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Umwelt führen und in der Folge handlungs- und lösungsrelevantes Wissen hervorbringen. (vgl. ebd.) Primärerfahrungen können dabei sowohl rational-bewusst als auch latent durch Erlebnisse sowie den Zugewinn von Erkenntnissen und Informationen gewonnen werden.

Die kritische Auseinandersetzung mit den Primärerfahrungen stellt dabei das zentrale Kriterium dar, um von Erfahrungslernen sprechen zu können. Der Input für diese Auseinandersetzung kann vom Individuum selbst oder von seiner Umwelt (z.B. Freunden, der Arbeit) kommen. (vgl. Kirchhof/Kreimeyer 2003, S. 224) Das geschieht in aller Regel, wenn sich die Lebenssituation so stark verändert, dass das vorhandene Erfahrungswissen zur Problemlösung unzureichend ist. In diesem Falle erfolgen die Erkenntnis des unzureichenden Wissens sowie die Reflexion der Erfahrung bewusst, indem vorhandene Verhaltensmuster neu strukturiert, koordiniert und verknüpft werden. (vgl. Trier et. al. 2001, S. 164f.)

Benötigt eine Situation aber ein schnelles und effizientes Handeln, so erfolgt üblicherweise keine bewusste Reflexion des Erfahrungswissens. Das Individuum verknüpft latent die gewonnenen Erkenntnisse mit dem vorhandenen Erfahrungsschatz und dem formalen Wissen und kommt unterbewusst zu einer Entscheidung. Folglich kann das Erfahrungslernen niemals losgelöst von den anderen Lernfeldern betrachtet werden, da sonst ein Mangel an Fakten und Systematik entstehe. (vgl. Dohmen 2001, S. 29ff.)

3.2 Die zweite Dimension: das implizite Lernen

Eine der signifikantesten Dimensionen des formellen Lernens, die sich latent vollzieht, ist das implizite Lernen. Einige Autoren verwenden diesen Terminus synonym zum inzidentellen (vgl. Overwien 2002, S. 18) und zum beiläufigen Lernen. (vgl. Düx/ Sass 2005, S. 395) Andere Autoren setzen sogar das formelle Lernen mit dem impliziten Lernen gleich. Der Pädagoge Dohmen weist aber darauf hin, dass es sich dabei keineswegs um kongruente Lernfelder handelt. Vielmehr ist das implizite Lernen als eine intentionale, latente Dimension des formellen Lernens anzusehen (vgl. Dohmen 2001, S. 34ff.), die

„oft mit der Entstehung und Verbreitung impliziten, wertbeladenen, verborgenen ('hidden') oder stummen ('tacit') Wissens verknüpft“ (Erpenbeck/Sauer 2001, S. 38)

ist. Das bedeutet, dass das implizite Lernen stark kontextbezogen und eng mit den individuellen Erfahrungen verbunden ist. Das daraus resultierende Wissen ist dem Individuum oftmals weder bewusst („hidden“) noch kann er dieses versprachlichen („tacit“). (vgl. Winkler/ Mandl 2005, S. 49)

Demgegenüber steht das explizite Lernen, das grundsätzlich in Bildungseinrichtungen stattfindet. Dem Individuum ist hierbei bewusst, dass es sich in einer formalisierten Lernsituation befindet und mit Wissen konfrontiert wird. Andere Formen dieses intentionalen Lernens können selbstorganisiert in Arbeitsgruppen und Nachhilfeunterricht stattfinden. (vgl. Straka 2001, S. 256) In diesem Zusammenhang spricht man aber zumeist bereits vom non-formalen Lernen, da zwar formales Wissen vermittelt wird, aber keine Benotung bzw. Zertifizierung erfolgt.

Die Übergänge zwischen dem expliziten Wissen zum impliziten Wissen können aber insofern fließend sein, dass eine regelmäßig wiederholte Übungseinheit, eine Kompetenz oder ein Fakt so verinnerlicht wird, dass eine zielgerichtete Anwendung einen impliziten Charakter annimmt. (vgl. Björnavold 2001, S. 220) Die Wissensarten stehen also in einem dynamischen Verhältnis zueinander, bedingen sich gegenseitig und können differente Formen annehmen. Dasselbe gilt für die Dimensionen des Lernprozesses.

[...]


[1] Zu diesen Ländern zählten Deutschland, die Schweiz, Frankreich, die USA, Polen, Schweden, Irland, die Niederland und Kanada.

[2] Die diffuse Begriffsableitung liegt darin begründet, dass „education“ mit Bildung und Lernen, „learning“ mit Lernen und Wissen übersetzt werden kann.

[3] EQF = Europäischer Qualifikationsrahmen; Raster zur Übersetzung von Zertifikaten aus differenten Mitgliedsstaaten der EU

[4] ECVET = Europäisches Leistungspunktesystem für die berufliche Bildung; einheitliches Bewertungssystem für schulische und universitäre Leistungen; erster Schritt: Einführung der Credit Points an den Universitäten

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Details

Titel
Informelles Lernen in der dualen Ausbildung. Eine Momentaufnahme des deutschen Berufsschulsystems im Kontext der europäischen Bildungsreform
Hochschule
Universität Kassel  (Gesellschaftswissenschaften - Wirtschaftswissenschaften - Institut für Berufsbildung)
Veranstaltung
Politische Bildung
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
43
Katalognummer
V351273
ISBN (eBook)
9783668383630
ISBN (Buch)
9783668383647
Dateigröße
888 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lernformen, deutsches Berufsschulsystem, europäische Bildungsreform, Berufsausbildung, Duales Ausbildungssystem
Arbeit zitieren
Eduard Ridiger (Autor:in), 2016, Informelles Lernen in der dualen Ausbildung. Eine Momentaufnahme des deutschen Berufsschulsystems im Kontext der europäischen Bildungsreform, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/351273

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