Das Gefühl von Scham angesichts der Leiblichkeit. Terézia Moras "Der einzige Mann auf dem Kontinent" mit Levinas betrachtet


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

15 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung und Fragestellung

B. Das Gefühl von Scham angesichts der Leiblichkeit
I. Grundlegendes Begriffsverständnis
1. Die Unterscheidung von Ethik und Moral
2. Der Andere, der Dritte und das Antlitz
3. Das Gefühl der Scham
II. Die Scham der Figuren in Der einzige Mann auf dem Kontinent
1. Flora
2. Darius Kopp
III. Die Korporalität
1. Bedeckung und Blöße
2. Leib und Nacktheit
IV. Der Erzähler, seine Position und Verantwortung

C. Fazit und abschließende Bemerkungen

D. Literaturverzeichnis

A. Einleitung und Fragestellung

Angesichts von tagtäglichen Plagiatsvorwürfen, Fällen von Kindesmissbrauch, Banken- und Finanzkrisen taucht bisweilen die Frage nach der moralischen Verfasstheit unserer heutigen Gesellschaft auf, die doch von sich behauptet, eine fortschrittliche zu sein. Auch im 21. Jahrhundert wird erneut der Ruf laut nach einer vermehrten Förderung des ethischen und moralischen Bewusstseins. Dies bedeutet in Anbetracht des immensen Einflusses des modernen Mediensystems auch eine moralische Verantwortung der Medien im Allgemeinen; immerhin wird diese gelegentlich proklamiert und eingefordert, oder zumindest viel diskutiert. Den Literaturbetrieb und die Literaturwissenschaft stellt die aktuelle Debatte um den Begriff des ethical turns bzw. die vermeintlich festgestellte Tendenz der moralischen Kehrtwende in post-postmodernen Texten vor neue Herausforderungen. Doch wo beginnt die ethische Verantwortung der Literatur, und wo hört sie auf?

Es stellt sich somit die Frage nach der Art der Darstellung und Verhandlung gesellschaftlicher Normen in der gegenwärtigen Literatur und ihr Umgang mit der thematisierten moralischen Verantwortung. Die folgenden Ausführungen versuchen dem am Beispiel des Romans Der einzige Mann auf dem Kontinent von Terézia Mora, stellvertretend nachzugehen. Das Augenmerk der Untersuchung liegt dabei auf den beiden Hauptfiguren und auf dem Gefühl der Scham verbunden mit der entblößten Körperlichkeit, unterlegt mit theoretischen Ansätzen von Emmanuel Levinas, dessen Ethik von der moralischen Verantwortung für den Anderen aufgrund seines entblößten Antlitzes für die anschließenden Betrachtungen hilfreich sein kann.

B. Das Gefühl von Scham angesichts der Leiblichkeit

I. Grundlegendes Begriffsverständnis

1. Die Unterscheidung von Ethik und Moral

Um den folgenden Ausführungen eine möglichst klare Linie zu geben und Missverständnisse zu vermeiden, ist es unerlässlich, im Vorfeld das diesem Aufsatz zugrunde liegende Verständnis gewisser verwendeter Begriffe kurz zu umreißen.

Angelehnt an ältere und gängige Definitionsversuche begreifen wir Ethik als eine Theorie der Moral und der Normen, eine Theorie moralischen Handelns und dessen Begründung, die sich mit der Frage nach allgemeingültigen Aussagen zur idealen Haltung und Position des Menschen in der Welt, als Grundlage für den Umgang mit dem Anderen, beschäftigt.1

Unter dem Begriff der Moral verstehen wir einen historisch und kulturell bedingten,2 also nicht auf alle Gemeinschaften anwendbaren, bestimmten Satz von Normen. Und diese Normen sind meist nicht ohne Widersprüche; zudem durch Gebote und Gesetze geregelt, da sie der Begrenzung und Orientierung, als Richtlinien für das menschliche Verhalten und das gesellschaftliche Zusammenleben dienen.

Der Begriff des ethical turn ist damit vielleicht für die Literatur-Wissenschaft zu gebrauchen (- dies zu untersuchen bedarf einer eigenen Arbeit), für den Literaturbetrieb und literarische Werke an sich allerdings ein problematischer, da fiktive Texte höchstens moralisch, jedoch nicht ethisch sein können; denn sie sind in der Regel nicht theoretisch-universeller, sondern narrativ-spezifischer Art. „Ethik kann also im Medienangebot nur als Theorie vorkommen, nicht jedoch als Erzählung, Diskursstrategie oder Format.“3 Dies dient lediglich als Bemerkung und als Erklärung, weshalb in folgenden Überlegungen mehr von Moral als von Ethik die Rede sein wird.

2. Der Andere, der Dritte und das Antlitz

Der Andere ist als erstes, so banal es klingen mag, definiert über die Differenz zum Ich, die Grenze, die ihn vom Ich unterscheidet. Das Ich in seiner Einzigkeit übernimmt nach Levinas automatisch Verantwortung für den Nächsten, den Anderen, über die bloße Wahrnehmung. Dieser Verantwortung kann er sich aufgrund des Antlitzes nicht entziehen, sondern ist gezwungen, dich dieser zu ‚unterwerfen’.4

Neben dem Anderen kommt allerdings der Dritte ins Spiel, der die politische bzw. gesellschaftliche Ebene eröffnet, indem er vom Ich Vergleich und Gerechtigkeit erfordert. „Das Ich, das „ich“, kann sich nicht an die unvergleichbare Einzigkeit jedes Einzelnen halten, die das Antlitz der Einzelnen ausdrückt. Hinter den einzigartigen Singularitäten müssen Exemplare der Gattung erblickt werden, sie müssen verglichen, beurteilt und verurteilt werden.“5 Somit folgt aus der Verantwortung für den Anderen - über den Vergleich und das (moralische) Urteil - die Gerechtigkeit.

Unter dem Antlitz schließlich versteht Levinas nicht nur das Gesicht, sondern das vom Anderen angesehen werden, aus dem die Verantwortung erwächst.6 Die entblößte Schutzlosigkeit des ‚ansprechenden’ Antlitzes fordert das Ich auf, als Antwort Verantwortung für den Anderen zu übernehmen. „Im Antlitz gibt es eine wesentliche Armut; der Beweis dafür liegt im Versuch, diese Armut zu maskieren, indem man Posen, eine bestimmte Haltung annimmt.“7 Um von der Gemeinschaft akzeptiert bzw. nicht ausgeschlossen oder bestraft zu werden, muss sich jedes Mitglied an die moralischen Vorschriften und Gebote halten. Diese schreiben nicht nur vor, wie man sich verhalten soll, sondern auch, wann man sich zu schämen hat.

3. Das Gefühl der Scham

Scham bezeichnet ein Gefühl, „das die Tendenz hat, einen Handlungs- oder Redeimpuls zu hemmen, um möglichen Tadel und damit Minderung des Selbstwertgefühls zu vermeiden, oder Insuffizienz schmerzlich spüren zu lassen, weil diese Rücksicht verletzt wurde.“8 Die Scham als Gefühl ist (intentional) entweder bezogen auf etwas, das geachtet oder respektiert werden soll (z.B. eine Gottheit oder Autorität, eine Sitte, den Anstand usw.), auf eine beurteilende Instanz (den Mitmenschen, die Gesellschaft, auch das eigene Ich), oder auf das redende oder handelnde Subjekt, dem bei Verletzung genannter Werte Bloßstellung oder Schande droht bzw. zuteil wird.9 Scham aufgrund ‚schlechter’, d.h. normabweichender Handlungen bzw. Gedanken,10 wäre also in erster Linie eine moralische Erfahrung. Unterschieden werden kann in das Schamgefühl, das man für sich selbst vor sich selbst bzw. den Anderen empfindet, und das ‚Fremdschämen’, ohne unbedingt persönlich betroffen zu sein. Entsprechend erstreckt sich das Emotionsspektrum bei der Herabsetzung unserer selbst oder Herabsetzung des Anderen durch das Ich von dem Gefühl des schlechten Gewissens über Verachtung oder Ekel bis zum Gefühl des Hasses. Welcher Gegenstand das Gefühl von Scham auslöst, hängt immer von den in einer Gesellschaft geltenden Wertungsmaßstäben ab.

Man schämt sich, schlecht gehandelt oder sich von der Norm entfernt zu haben. Es handelt sich um die Vorstellung unseres Selbst als eines herabgesetzten Wesens, mit dem wir uns nur schmerzvoll identifizieren. Doch die ganze Schärfe der Scham, was sie an Schmerzhaftem mit sich bringt, besteht eben in unserer Unmöglichkeit, uns mit diesem Wesen zu identifizieren, das uns bereits fremd geworden ist und dessen Handlungsmotive wir nicht mehr nachvollziehen können.11

Ausgehend von der Beschreibung in Ausweg aus dem Sein versteht Levinas unter dem Begriff der Scham das Sein, das sich und seine Bedingung aufdeckt. „Die Scham hängt nicht, wie man meinen könnte, von der Begrenztheit unseres Seins ab, insofern es für die Sünde empfänglich

ist, sondern vom Sein unseres Wesens selbst, von seiner Unfähigkeit, mit sich selbst zu brechen.“12

Die Scham sei abhängig vom Sein des Wesens. „Die Scham gründet auf der Solidarität unseres Seins mit sich selbst, die uns verpflichtet, die Verantwortung für uns selbst zu fordern.“13 Demgegenüber steht im Moment des Schamempfindens die schmerzhaft empfundene Unmöglichkeit der Distanzierung von der eigenen Person und ihrem Handeln; also die Pflicht der Selbst-Identifikation.

Verbunden mit dem Begriff der Scham ist die Nacktheit bzw. das Gefühl der (beschämenden) Blöße, wenn es nicht gelingt, die Nacktheit der physischen Anwesenheit durch die moralische Person zu verdecken; sie vor den anderen und vor sich selbst zu verbergen. Außerdem ist Emmanuel Levinas’ Verständnis der Scham (la honte) selbstverständlich untrennbar verknüpft mit seinen Ansichten über den Anderen und das Antlitz.

II. Die Scham der Figuren in Der einzige Mann auf dem Kontinent

a) Flora

„… und die eine Schwester, wenn ihre Tochter sich in die Hosen gemacht hat, hat sie ihr den nassen Schlüpfer über den Kopf gezogen, so musste sie in der Ecke stehen, die war schon mit einem Jahr sauber …“14. Dieser zufällig mit angehörte Erfahrungsaustausch zwischen zwei Frauen in einem Supermarkt genügt für Flora, die junge und hübsche Frau des Protagonisten Kopp, in Verzweiflung auszubrechen und vollkommen aus dem Gleichgewicht zu geraten. „Ich habe mich geschämt für diese Frauen, für die Frau, von der sie erzählten, für das kleine Mädchen in der Ecke und schließlich für mich selbst. Weil es mir so wehtat. Mein ganzes Leben lang schon. (…) Ich konnte mir selbst nicht in die Augen sehen, so sehr habe ich mich geschämt.“15 Flora ist das Musterbeispiel einer (über-)empfindsamen Person, die sich prinzipiell verantwortlich fühlt, auch für Zustände, an denen sie keine Schuld tragen müsste. Im Gegensatz zu ihrem Mann ist sie sehr sensibel und leicht verletzlich, eine „highly sensitive person“16, der nicht nur das grausame und brutale Verhalten der Anderen, der Gesellschaft zu schaffen macht. Sie kann das Leid und das bedrückende Elend der Welt nur schwer ertragen und sich davon nicht abgrenzen, sondern leidet psychisch mit, bis sie immer wieder zusammenbricht und gar versucht, sich das Leben zu nehmen.17

[...]


1 Vgl. Leschke: Von der Moral der Texte und Medien, S. 81

2 Vgl. Leschke: Von der Moral der Texte und Medien, S. 79

3 Leschke: Von der Moral der Texte und Medien, S. 79

4 Vgl. Levinas: Zwischen uns, S. 259

5 Levinas: Zwischen uns, S. 272

6 Levinas: Zwischen uns, S. 270

7 Levinas: Ethik und Unendlichkeit, S. 65

8 Vgl. Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, S. 1208f.

9 Vgl. Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, S. 1208f.

10 Levinas: Ausweg aus dem Sein, S. 39

11 Levinas: Ausweg aus dem Sein, S. 39

12 Levinas: Ausweg aus dem Sein, S. 39

13 Levinas: Ausweg aus dem Sein, S. 39

14 Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent, S. 68

15 Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent, S. 68f.

16 Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent, S. 68

17 Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent, S. 66/67

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Das Gefühl von Scham angesichts der Leiblichkeit. Terézia Moras "Der einzige Mann auf dem Kontinent" mit Levinas betrachtet
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,7
Jahr
2010
Seiten
15
Katalognummer
V352814
ISBN (eBook)
9783668389786
ISBN (Buch)
9783668389793
Dateigröße
508 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gefühl, scham, leiblichkeit, terézia, moras, mann, kontinent, levinas
Arbeit zitieren
Anonym, 2010, Das Gefühl von Scham angesichts der Leiblichkeit. Terézia Moras "Der einzige Mann auf dem Kontinent" mit Levinas betrachtet, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352814

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Im eBook lesen
Titel: Das Gefühl von Scham angesichts der Leiblichkeit. Terézia Moras "Der einzige Mann auf dem Kontinent" mit Levinas betrachtet



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden