Anwerbepraxis der Staatssicherheit in der DDR. Paternalismus, Geborgenheit und Anerkennung

Der Führungsoffizier als Vaterfigur am literarischen Beispiel von Sascha Andersons Autobiographie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Führungsoffizier und IM
2.1 Gewinnungsmotive: Gründe für die Mitarbeit und gezielte Anwerbung
2.2 Geborgenheit, Führung, elterliches Lob und materielle Vorteile

3 Sascha Anderson erzähltüber sein Leben
3.1 Die Autobiographie im Kontext zusammengefasst
3.2 Die Rolle des verlorenen Vaters in Andersons Beziehung zum MfS

4 Schlussbemerkung

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In den 80er-Jahren galt der 1953 in Weimar geborene Sascha Anderson als eine der Dichterikonen des Prenzlauer Bergs und wichtigster Organisator der dortigen Literaturszene. Ungeahnt von der subversiven Avantgarde des Szeneviertels, schrieb er aber nicht nur für DDR- Samizdat, den linken Rotbuch-Verlag aus Westberlin (Jeder Satellit hat einen Killersatelliten)[1] und unter verschiedenen Pseudonymen für DDR-Rock- und Punkbands. Auch die Staatssicherheit war einer seiner Adressaten –über 20 Jahre hinweg erstellte er für seine Führungsoffiziere Berichteüber das eigene Umfeld, verriet Freunde und Kollegen. Der nach der Wende von Wolf Biermann,[2] Jürgen Fuchs[3] und Holger Kulick entlarvte Schriftsteller findet selbst nur wenig erklärende Worte für sein, folgt man den von Kulick und Lewis analysierten Akten, durchausüberlegtes Handeln.[4] In seiner Autobiographie Sascha Anderson [5] sind es vage Begriffe wie Geborgenheit, Angst vor der Zukunft und Vergangenheit sowie Sicherheit, die auftauchen. Anstatt der Sicherung materieller Vorteile, scheint Sascha Anderson in dem kryptischen Text von 2002 eher eines getrieben zu haben: Die Suche nach dem Vaterfigur, die er laut eigener Aussage in der emotionalen Bindung zu seinen Führungsoffizieren gefunden zu haben scheint.[6]

Die Idee des Väterlichen im Konspirativen – der familiären Bindung in einem geheimen Bund, der von einer lobenden wie strafenden Instanz geführt wird, spielte für die Staatssicherheit stets eine Rolle. So Druck auf die Spitzel nicht wirkte, wurde auf andere Mittel zurückgegriffen. Die Offiziere bewiesen große Anpassungsfähigkeit und nutzten je nach Charakter des Gegenübers andere Strategien, Sprechweisen und anderes Auftreten. Freundschaftlichkeit und Freiräume für den geführten IM waren in vielen Fällen von enormer Wichtigkeit, so auch das väterlich-patriarchische Element, das zuvörderst bei weiblichen Kandidaten zum Einsatz kam, wie Belinda Coopers Studie Patriarchy Within a Patriarchy ersichtlich wird.[7] In der vorliegenden Arbeit wird von der Rolle des Vater-Kind-Verhältnisses bei Anwerbung und Führung der IMs berichtet. Wie wurde das Verlangen einzelner Charaktere nach einer elterlichen Figur, die lobt, führt, straft, fördert und sich freundschaftlich unterhält, dazu eingesetzt, um Mitarbeiter an sich zu binden und wie spiegelt sich dies in der Autobiographie Sascha Andersons wider?

Um diese Frage zu ergründen, wird zunächst ein Blick auf die Anwerbungsmethoden des MfS geworfen, ein Thema, das bereits von Autoren wie Jens Gieseke,[8] Helmut Müller-Engbergs[9] und Ilko-Sascha Kowalczuk[10] angeschnitten wurde. Anschließend soll tiefgründiger auf den Führungsoffizier als Vaterfigur eingegangen werden und inwieweit die Machtposition dazu genutzt wurde, eine quasi-familiäre Bindung zwischen Agent und Auftraggeber zu schaffen. Als Beispiel sollen die kontroversen Reflexionen Sascha Andersonsüber seine MfS-Tätigkeit dienen, die er in seiner Biographie anhand von Kindheitstraumata, der Nicht-Identifizierung des Vaters mit dem Sohn und dem Auftreten der Führungsoffiziere als Ersatz-Eltern ausführt.

2 Führungsoffizier und IM

2.1 Gewinnungsmotive: Gründe für die Mitarbeit und gezielte Anwerbung

Ende der 60er-Jahre baute das MfS seine Tätigkeit erheblich aus (allein die zentrale Personalverwaltung verfünffachte sich zwischen 1968 und 1982)[11] und erweiterte die Schulungsangebote an der seit 1965 als Juristische Hochschule Potsdam firmierenden Stasi-Kaderschmiede in Eiche-Golm. Verblieben sind unzählbar viele Diplom- und Doktorarbeiten, die sich u. a. mit dem Thema Anwerbung und Führung von IMs beschäftigen. Teil dieser Arbeiten sind zudem Erhebungen und Umfragen, in denen das Ministerium die Motive der Angeworbenen für ihren Zusammenarbeit ermitteln wollte[12] –nicht zuletzt, um die zum Zeitpunkt der Auflösung der DDR etwa 12.000[13] bzw. 13.000[14] IM-führenden Offiziere psychologisch angemessen schulen zu können.[15] Nach einer MfS-Untersuchung von 1967, in der IMs mehrere Gründe für ihre Zusammenarbeit anhand eines Fragebogens angeben konnten, beteiligten sich 60,5% deswegen, weil Sie die „gesellschaftlichen Erfordernisse“ ihres Tuns erkannt haben. 49,1% seien dagegen aus „sittlichem Pflichterleben und Gewissenszwang“ in den Stasi-Dienst eingetreten, während immerhin 27,4% „persönliche Vorteilserwägungen“, 39,9% „lebenspraktische Zielsetzungen“, 11,9% „Selbstzweckmotivation“ und 23,4% „Druck- und Zwangerlebnisse“ als Gewinnungsmotiv angaben.[16] Die Anzahl der politischüberzeugten IMs – dies schätzt auch Jens Gieseke in Mielke-Konzern so ein[17] – dürfte trotz des MfS-Bias bei der Befragung sehr hoch gewesen sein. Diese Tatsache weist Müller-Engbergs anhand der parteipolitischen Bindungen, des Geschlechts, des Alters und der beruflichen Tätigkeit nach.[18] Grundsätzlich kann man, selbst wenn immer „komplexe Motivbündel mit höchst unterschiedlichen Gründen“ [19] vorliegen, unter acht wesentlichen Elementen unterscheiden:

1) Politischeüberzeugung[20]

„im Glauben an den guten Kern der sozialistischen Idee, an die Legitimität des Schutzes vor versteckten Operationen feindlicher Mächte, im Wunsch, bessere Kenntnis des Gegenübers zu vermitteln und damit etwas für den zwischenstaatlichen oder innergesellschaftlichen ‚Frieden‘ zu tun“,[21] kann als Hauptgrund für die Mitarbeit gelten.

2) Persönliche Vorteile[22]

Im Berufsleben konnten sich durch eine IM-Tätigkeit Vorteile ergeben. Bei Anderson darf man vermuten, dass seine Stellung als Ikone des Prenzlauer Berg und seine Literaturverkäufe an westliche Verlage nur deshalb gewahrt blieben, weil er durch das MfS gedeckt war. Er konnte im System seinen Dienst tun (geheim Stellung im staatlichen Feld beziehen) und nach außen (im literarischen und künstlerischen Feld) seine Stellung und Lebensweise gewohnt beibehalten.[23] Er konnte „sich anpassen, ohne im herkömmlichen Sinne angepasst zu sein.“ [24] Anderson bestätigt diesen Gedankengang in einem Gespräch mit Holger Kulicküber die gescheiterte Bewerbung beim DDR-Schriftstellerverband: „Das ist ein Versuch, man will irgendwie mit dieser gesellschaftlichen Realität doch in ein abgesichertes, reines Verhältnis kommen, daß [sic] einem eben nicht immer vorgeworfen wird, man würde außen stehen…“ [25]

3) Anerkennung durch Führungsoffiziere[26]

Bei gewissen Charaktergruppen – z. B. jungen Soldaten[27] – spielte dieses Motiv eine große Rolle. Das Gefühl, Wertschätzung zu erleben und als gleichwertiger Partner anerkannt zu werden, der eigene Ideen in Operative Vorgänge (OV) einbringen darf, schafft eine besondere Bindung zu den Offizieren und gewährt vorauseilenden Gehorsam.

4) Reiz der Teilhabe an einer geheimen Macht und Abenteuerlust (Lust am Doppelleben)[28]

In der psychoanalytischen IM-Befragung von Kerz-Rühling/Plänkers fühlten sich einige der Befragten „durch das geheime Wissen […] ihren Mitbürgernüberlegen. […] Zwei der IM sahen sich zur Zeit ihrer Anwerbung durch die Väter nicht anerkannt und entwertet und konnten so insgeheim Machtüber diese gewinnen.“ [29] Auch Autoren wie Alois Hahn, betonen den Mythos des Geheimen, die Gruppendynamik und das familiäre Gefühl des Eingeweiht-Seins, mit dem Differenz gegenüber anderen aufgebaut werden und ein Gefühl von Macht und Kontrolle erzeugt werden kann.[30]

5) Absicherung und Loyalitätsbeweise[31]

Z. B. eine mangelnde SED-Mitgliedschaft ausgleichen; sich eine Westreise erarbeiten.

6) Sonderkanal, um bessere Bedingungen im Betrieb durchzusetzen[32]

Manche waren auch schlichtweg enttäuscht vom realexistierenden Sozialismus und „hofften, im MfS endlich die richtigen Kommunisten als Ansprechpartner zu finden.“ [33]

7) Absicherung vor möglichen Nachteilen[34]

8) Haft, Zwang und Angst vor dem Apparat[35]

[...]


[1] Anderson, Sascha: Jeder Satellit hat seinen Killersatelliten, Rotbuch, Berlin 1982

[2] Vgl. Biermann, Wolf: Der Lichtblick im gräßlichen Fatalismus der Geschichte, Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1991, in: Böthig, Peter/Michael, Klaus (Hrsg.): MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg, Reclam, Leipzig 1993 S. 298 ff.

[3] Vgl. u. a. Fuchs, Jürgen: Landschaften der Lüge. Jürgen Fuchsüber Schriftseller im Stasi-Netz (II): Pegasus, Spinne, Qualle, Apostel, Der Spiegel 48/1991, 25. November 1991, in: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13492284.html, Zugriff: 12. April 2015

[4] Vgl. Kulick, Holger: Der Dorfpolizist vom Prenzlauer Berg. Sascha Andersons letzte Geheimnisse, Horch und Guck, Heft 28 (4/99), S. 1-39; Lewis, Alison: Die Kunst des Verrats. Der Prenzlauer Berg und die Staatssicherheit, Königshausen und Neumann, Würzburg 2003

[5] Vgl. Anderson, Sascha: Sascha Anderson, DUMONT, Köln 2002

[6] Vgl. Anderson, Sascha: Sascha Anderson

[7] Cooper, Belinda: Patriarchy Within a Patriarchy. Women and the Stasi, German Politics&Society, 16/2, S. 1-31

[8] Gieseke, Jens: Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945-1990, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2001

[9] Vgl. Müller-Engbergs, Helmut: Die inoffiziellen Mitarbeiter (MfS-Handbuch), BStU, Berlin 2008, in: http://www.nbn-resolving/urn:nbn:0292-97839421302647, Zugriff: 12. April 2015; Ders.: Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main 2014

[10] Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret.überwachung und Repression in der DDR, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013

[11] Gieseke, Jens: Mielke-Konzern, S. 88; Zur Stasi-Hochschule Vgl. auch Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret, S. 191 ff sowie Förster, Günter: Die Juristische Hochschule des MfS (MfS-Handbuch), Hg. BStU, Berlin 1996, in: http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421302265, Zugriff: 12. April 2015

[12] Vgl. Hempel, Manfred: Die Wirkung moralischer Faktoren im Verhalten der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit, Dissertation, Potsdam 1967, 2 Bde., in: Müller-Engbergs, Helmut: Die indiskrete Gesellschaft, S. 122 ff.

[13] Vgl. Gieseke, Jens: Mielke-Konzern, S. 113

[14] Vgl. Müller-Engbergs, Helmut: Die indiskrete Gesellschaft, S. 207

[15] S. Lehrplan der Juristischen Hochschule des MfS und Schulung in Psychologie, in Förster, Günter: Die Juristische Hochschule des MfS, S. 7 ff.

[16] Vgl. Hempel, Manfred: Die Wirkung moralischer Faktoren, zit. nach Müller-Engbergs, Helmut: Die indsikrete Gesellschaft, S. 122 ff.

[17] Vgl. Gieseke, Jens: Mielke-Konzern, S. 124 ff.

[18] Vgl. Müller-Engbergs, Helmut: Die indiskrete Gesellschaft, S. 123

[19] Gieseke, Jens: Mielke-Konzern, S. 125

[20] Vgl. Ebd., S. 124

[21] Ebd., S. 124

[22] Vgl. Ebd., S. 125

[23] Vgl. Lewis, Alison: Die Kunst des Verrats; Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, [Original: 1979]

[24] Ebd.

[25] Anderson, Sascha im Interview mit Kulick, Holger, Januar 1992, in: Kulick, Holger: Grautöne. Der Amoklauf Sascha Andersons. Aus drei Gesprächen, in: Böthig, Peter/Michael, Klaus (Hrsg.): MachtSpiele, S. 191

[26] Gieseke, Jens: Mielke-Konzern, S. 125

[27] Müller-Engbergs, Hemut: Die indiskrete Gesellschaft, S. 101 ff.

[28] Vgl. Kerz-Rühling, Ingrid/Plänkers, Tomas: Verräter oder Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, Ch. Links Verlag, Berlin 2004, S. 131

[29] Ebd., S. 131

[30] Vgl. Hahn, Alois: Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten, in: Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Schleier und Schwelle, Bd.1: Geheimnis und Öffentlichkeit, Fink Verlag, München 1997, S. 23-39, S. 27 ff.

[31] Vgl. Gieseke, Jens: Mielke-Konzern, S. 126

[32] Vgl. Ebd. S. 126

[33] Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret, S. 242

[34] Gieseke, Jens: Mielke-Konzern, S. 127

[35] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Anwerbepraxis der Staatssicherheit in der DDR. Paternalismus, Geborgenheit und Anerkennung
Untertitel
Der Führungsoffizier als Vaterfigur am literarischen Beispiel von Sascha Andersons Autobiographie
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Kulturwissenschaft)
Note
1,0
Autoren
Jahr
2015
Seiten
17
Katalognummer
V352897
ISBN (eBook)
9783668394759
ISBN (Buch)
9783668394766
Dateigröße
636 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
DDR, Stasi, Staatssicherheit, Sascha Anderson, Punk, Prenzlauer Berg, IM, Verrat, Vater, Innoffizieller Mitarbeiter
Arbeit zitieren
Markus Müller (Autor:in)Indre Kiudelyte (Autor:in), 2015, Anwerbepraxis der Staatssicherheit in der DDR. Paternalismus, Geborgenheit und Anerkennung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352897

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