Geburtenrückgang in Deutschland


Seminararbeit, 2004

27 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Theorien des Geburtenrückgangs und des generativen Verhaltens
II.1 Die „wealth-flow-theory of fertility decline“ (J. C. Caldwell)
II.2 Die „Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung“ (Hans Linde)
II.3 Zusammenfassung

III. Geburtenrückgang in Deutschland (West)
III.1 Historische Betrachtung des Geburtenrückgangs
III.2 Familien- und Gesellschaftsstrukturen im Wandel
III.3 Ursachen des Geburtenrückgangs ( in Deutschland)
III.4 Die Bevölkerungssituation in Deutschland und im westlichen Europa

IV. Familienpolitik und familienpolitische Lösungsansätze in der Bundesrepublik Deutschland ( - im Vergleich mit Frankreich)
IV.1 Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland
IV.2 Lösungsansätze
IV.3 Familienpolitik in Frankreich

V. Fazit

Literaturverzeichnis

Internetquellen

I. Einleitung

Kinder stehen in Deutschland nicht im fröhlichen Mittelpunkt, sondern unter einem bedrohlichen Artenschutz.“

(Jeanne Rubner, Süddeutsche Zeitung, Nr. 106, 8. Mai 2004)

Betrachtet man die Fertilität in der Bundesrepublik, so liegt diese seit Mitte der siebziger Jahre ziemlich konstant bei 1,35 Kindern pro Frau. Eine Geburtenrate von 2,1 Kindern wäre jedoch notwendig, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Neben einem, ohne Zuwanderung zu erwartenden Rückgang der Bevölkerung, ist ein weiterer demographischer Trend zu beobachten: die Überalterung der Bevölkerung. Zum einen resultiert dies aus einer gesteigerten Lebenserwartung, zum anderen aber auch aus der anhaltend niedrigen Kinderzahl pro Familie.[1] Deutschland nimmt im weltweiten Vergleich der Geburtenzahlen einen der letzten Plätze ein. Dies wäre, wenn man sich denn ausschließlich auf die Betrachtung der Daten und Statistiken beschränken würde, weniger besorgniserregend. Bedenkt man jedoch die Folgen des Geburtenrückgangs, sind diese alarmierend. Durch die Umkehrung der Bevölkerungspyramide entstehen enorme finanzielle Kosten für die Sozialsysteme und es bleibt fraglich, ob diese in der Zukunft überhaupt noch funktionieren können. Das Innovationskapital des Wirtschaftsstandorts Deutschland wird verringert. Ökonomische Krisen sind aufgrund der Mehrbelastung der sozialen Sicherungssysteme vorprogrammiert, um nur einige der Folgen zu nennen. Angesichts dieser Tatsachen ist es umso erstaunlicher, dass dieses Thema in der Politik über Jahrzehnte stiefmütterlich behandelt und verdrängt wurde.

In der Soziologie lässt sich dieser Umgang mit der Thematik nicht feststellen, denn das Thema Geburtenrückgang streift zahlreiche Teilbereiche der soziologischen Forschung, sei es nun Familien- und Bevölkerungssoziologie, soziologische Theorie oder das interdisziplinäre Forschungsgebiet der Bevölkerungswissenschaft (Demographie). Die vorliegende Arbeit wird sich im Schwerpunkt mit dem Phänomen des Geburtenrückgangs in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen. Die zentrale Frage, ist die nach den Ursachen dieser Entwicklung unter Berücksichtigung der Familien- und Gesellschaftsstrukturen. Welche erfolgsversprechenden Lösungsansätze gibt es, gerade hinsichtlich einer Umkehrung des Trends in Frankreich?

In einem ersten Schritt werden theoretische Erklärungsansätze der Geburtenentwicklung und des generativen Verhaltens vorgestellt. Ursachen des Geburtenrückgangs mit besonderer Berücksichtigung der sich veränderten gesellschaftlichen und familialen Strukturen im 20. Jahrhundert und der Geburtenrückgang in Deutschland und Europa liegen im Focus des zweiten Bearbeitungsteils. Drittens folgt eine Darstellung der Familienpolitik und familienpolitischer Lösungsansätze in der Bundesrepublik, auf die ein Vergleich mit dem europäischen Nachbarland Frankreich erfolgt.

Da das bearbeitete Thema, wie zuvor schon erwähnt, eine große Bandbreite soziologischer Forschung berührt und auch in andere Wissenschaftsbereiche übergreift, sei es Geschichte, Politik oder Ökonomie, gibt es eine Fülle von Literatur und somit auch von unterschiedlichen Betrachtungen, die zu verschiedenen Schlussfolgerungen kommen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich vornehmlich mit soziologischen und demographischen Untersuchungen, ergänzt durch politikwissenschaftliche Publikationen, wobei der Übergang hier hinsichtlich möglicher Lösungsansätze fließend ist und einander sogar bedingt.

II. Theorien des Geburtenrückgangs und des generativen Verhaltens

In den verschiedenen, vom Geburtenrückgang betroffenen Wissenschaftsbereichen entstanden unterschiedliche Theorien zur Erklärung dieser Situation und des generativen Verhaltens. Die Vielzahl der Erklärungsansätze und Theorien erklärt deren teilweise divergierende und konkurrierende Ausrichtung.[2]

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die „Wohlstandstheorien zur Fertilität“ rasche Verbreitung. Kern der Wohlstandstheorien ist die Annahme, dass die Zunahme wirtschaftlichen Wohlstands verantwortlich sei für den Geburtenrückgang. Diese Annahme begründete sich in der Beobachtung bessergestellter sozialer Schichten, die trotz ihres ökonomischen Status die geringste Geburtenzahl aufwiesen. Im Laufe der Verbreitung dieses Erklärungsansatzes wurde dieser weiter verfeinert, denn der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Fertilität sei nur mittelbar. Wohlstand führe zu wirtschaftlichem Denken und dies wiederum befördere den Wunsch nach Begrenzung der Kinderzahl. Francois Höpflinger kritisiert an diesem Erklärungsansatz die fehlende Berücksichtigung struktureller Veränderungen innerhalb der Familie und in der gesellschaftlichen Stellung von Kindern. Obwohl dieser Erklärungsansatz aufgrund seiner eingeschränkten Anwendbarkeit im wesentlichen wissenschaftlich überholt ist, blieb er in der Öffentlichkeit in einer popularisierten Form erhalten. Oftmals werden Wohlstand und Konsumverhalten herangezogen, um die stark gesunkene Geburtenrate zu erklären.[3]

Neuere Erklärungsansätze berücksichtigen die modifizierten Familienstrukturen und -funktionen in ihrer Theoriebildung. Besonderen Einfluss hatte die sich veränderte Kosten-Nutzen-Relation von Kindern. I, folgenden Abschnitt werden die „wealth-flow-theory“ von John C. Caldwell und die „Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung“ von Hans Linde vorgestellt. Im Rahmen der Darstellung theoretischer Modelle zur Erklärung des Geburtenrückgangs beruht diese auf der von Francois Höpflinger in seinem Buch „Bevölkerungssoziologie – Eine Einführung in bevölkerungssoziologische Ansätze und demographische Prozesse“ getroffenen Theorieauswahl.[4]

II.1 Die „wealth-flow-theory of fertility decline“ (J. C. Caldwell)

Der australische Sozialforscher J. C. Caldwell verknüpft in seiner Theoriebildung des langfristigen Geburtenrückgangs die Relation von Produktionsverhältnissen, Familienstrukturen und Geburtenrückgang. Ähnlich wie in haushalts- und mikro-ökonomischen Fertilitätstheorien geht Caldwell davon aus, dass, sobald von Seiten der Eltern keine langfristigen wirtschaftlichen Vorteile von Kindern mehr wahrgenommen werden, die Geburtenhäufigkeit abnimmt. Weiterhin stellt er familiale Produktionsverhältnisse denen von marktwirtschaftlich organisierten Produktionsverhältnissen entgegen und kommt zu dem Fazit, dass bei erstgenanntem eine hohe Kinderzahl und bei zweitgenanntem eine geringe Kinderzahl anzunehmen sei. Francois Höpflinger spricht somit von einer ökonomisch-deterministischen Theorie. Er schränkt diese Aussage jedoch sogleich wieder ein, da Caldwell ebenfalls die Existenz unterschiedlicher Familienstrukturen und –normen anerkennt. Die Einschränkung besteht darin, dass die ökonomische Rationalität eines hohen oder niedrigen Geburtenniveaus von familial-verwandschaftlichen Strukturen und intergenerationellen Beziehungen geprägt wird.[5]

Simplifiziert dargestellt basiert die „wealth-flow-theory“ nach Höpflinger auf sechs Ausgangsthesen:[6]

1. Generatives Verhalten ist in jedem Gesellschaftstypus und in jeder Entwicklungsstufe ein rationales Verhalten. Diese Ansicht steht im Gegensatz zu den Annahmen der Wohlstandstheoretiker, welche die These vertraten, dass erst moderne Gesellschaften rationales Verhalten zuließen.
2. Ökonomische Merkmale bestimmen langfristig das Geburtenniveau.
3. Soziale Konditionen entscheiden, welches Geburtenniveau als ökonomisch rational gilt.
4. Verlaufen die Einkommensströme von der jüngeren zur älteren Generation, so ist es rational, viele Kinder zu haben (Gesellschaften mit primär familialen Produktionsformen).
5. Durch sozialen und ökonomischen Fortschritt kehren sich die Einkommensströme unwiderruflich um.
6. Eine geringe Kinderzahl wird rational, sobald die ältere Generation direkt die ökonomischen Kosten der jüngeren Generation zu tragen hat (Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise).

Die Thesen vier und sechs zeigen, dass Caldwell nur von zwei langfristig stabilen Formen des Geburtenniveaus ausgeht. These fünf bildet eine Art Übergangsphase zwischen hohen und geringen Geburtenraten. Zwei gesellschaftliche Bedingungen sind laut Caldwell ausschlaggebend, warum es für die Elterngeneration nicht mehr wirtschaftlich sei, Kinder zu bekommen. Erstens können dies hohe wirtschaftliche Kosten sein, die direkt auf die Eltern zukommen. Einen großen Einfluss auf die Veränderung des Kosten-Nutzen Verhältnisses von Kindern hatte die Einführung der Schulpflicht. Zweitens kann dies die Auflösung intergenerationeller Beziehungen und / oder Verwandtschaftsstrukturen sein. Ein Grund hierfür ist unter anderem eine individualistische Orientierung der erwachsenen Kinder.[7]

Meinhard Miegel und Stefanie Wahl haben in ihrem Buch „Das Ende des Individualismus: Die Kultur des Westens zerstört sich selbst“ (1994) explizit das Phänomen des Individualismus untersucht, auch hinsichtlich der Auswirkungen auf die Fertilität einer individualistisch geprägten Gesellschaft. Die Autoren gehen von der Annahme aus, dass die Entdeckung des „Ichs“ den Wunsch entstehen lässt, dies zu erhalten. Der Mensch ersetzt die Naturordnung durch eine von ihm konstruierte Kulturordnung, in der seine Individualität größeren Bestand haben soll. Dies führt unter anderem zu einer Steuerung des Geburtenverhaltens. Gesellschaften, welche sich sehr weit von der Naturordnung entfernt haben, zeigen eine Fruchtbarkeitsrate, die unter der Sterblichkeitsrate liegt.[8] Im Gegensatz zu Caldwell stellen Miegel und Wahl eine ausschließlich individualistisch zentrierte These zur Erklärung des Geburtenrückgangs auf, zumindest bezogen auf westliche Gesellschaften. „Bedingt durch den logisch zwingenden Gegensatz zwischen Individualismus und Kinderreichtum sinkt in individualistischen Kulturen die menschliche Fruchtbarkeit. Dies ist der eigentliche und zugleich einzige Grund für die Geburtenarmut in Ländern mit individualistischen Kulturen. Weiterer Begründungen bedarf es nicht.“[9] Individualismus als einzige normative Ursache für ein niedriges Geburtenniveau anzunehmen, scheint angesichts des Facettenreichtums der Thematik zu einseitig. Ähnlich wie bei den „Wohlstandstheorien“, ist auch hier die Anwendbarkeit zu begrenzt.

II.2 Die „Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung“ (Hans Linde)

Eine verstärkte Individualisierung (laut Linde „Personalisierung“) der familialen Beziehungen wirkte sich auch nach Linde als Folge der Moralisierung der Kernfamilie bereits ab dem 16. und 17. Jahrhundert, von der primär das vermögende Bürgertum betroffen war, auf das generative Verhalten aus.[10] Jedoch spiegelt der Faktor „Individualisierung“ bei Linde, wie auch bei Caldwell, nur einen Aspekt des Geburtenrückgangs wieder, welcher in die veränderten Familienstrukturen eingebettet ist.

Hans Lindes Theorie erklärt den langfristigen Geburtenrückgang als eine historische und säkulare Erscheinung industrialisierter europäischer Gesellschaften. Wie bei Caldwell, wird auch hier das generative Verhalten als eine Dimension des durch die Industrialisierung bewirkten Wandels der Familienstrukturen begriffen. Höpflinger analysiert im Zentrum der Theorie die Veränderung der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, die zu einer Verminderung des Stellenwertes von Kindern innerhalb der Familien führten. Die geringe Kinderzahl industrialisierter Gesellschaften ist, laut Linde „die defizitäre Kehrseite der dem Ideal einer sozialen Marktwirtschaft nächsten gesellschaftlichen Wirklichkeit.“[11]

Entscheidend für den Geburtenrückgang sind drei historisch aufeinander folgende Entwicklungen. Erstens die Ausgliederung der Produktion und der Erwerbstätigkeit aus dem Familienhaushalt. Linde geht davon aus, dass die generativen Verhaltensänderungen in den verschiedenen sozio-ökonomischen Gruppen jeweils unabhängig von einander erfolgten. Man kann somit nicht von einer Verschmelzung eines spezifischen generativen Verhaltens durch alle sozialen Schichten sprechen. Zweitens die Einführung und der Ausbau sozialer Sicherungssysteme. Sie lösten die Abhängigkeit des Einzelnen hinsichtlich Versorgung und Altersvorsorge von der Familie auf. Linde vertritt somit die These, dass der Wohlfahrtsstaat ein entscheidender Faktor für die Stabilisierung eines geringen Geburtenniveaus ist. Drittens greift Linde ein Argument mikro-ökonomischer Theorien auf: Opportunitätskosten von Kindern. Marktwirtschaftlicher Wohlstand setzt die Entscheidung für oder gegen Kinder den Gesetzen des Marktes aus, d.h. dass Kinder nicht nur direkte Kosten für die Eltern bedeuten, sondern auch die Wahlmöglichkeit anderer Konsumoptionen einschränken.[12]

Veränderte sozio-ökonomische Konstellationen führen zu Verhaltensänderungen hinsichtlich der Fortpflanzung. Diese Veränderungen werden durch unterschiedliche Merkmale der familialen Strukturen und Beziehungen innerhalb der sozialen Schichten bestimmt. Dies führte in einigen sozialen Schichten zu generativen Verhaltensänderungen, welche den sozio-ökonomischen Änderungen vorauseilten. Beispielsweise die Individualisierung familialer Rollen in den vermögenden bürgerlichen Schichten führte frühzeitig zu einem Geburtenrückgang in dieser sozialen Gruppe, wohingegen bei familialen Produktionsprinzipien unterworfenen Gruppen (Bauern) erst der technische Fortschritt (Mechanisierung und Motorisierung) eine Veränderung des generativen Verhaltens bewirkte.[13]

[...]


[1] Bundesministerium des Inneren, Bericht der unabhängigen Kommission Zuwanderung, URL: http://www.bmi.bund.de/dokumente/Artikel/ix_46900.htm (Stand 28.05.2004)

[2] Vgl. Francois Höpflinger, „Bevölkerungssoziologie – Eine Einführung in bevölkerungssoziologische Ansätze und demographische Prozesse“, Juventa Verlag, München, 1997, S. 64

[3] Ebenda, S. 64 f.

[4] Ebenda, S. 66 ff.

[5] Ebenda, S. 69

[6] Ebenda, S. 66 f.

[7] Ebenda, S. 68 f.

[8] Vgl. Meinhard Miegel / Stefanie Wahl, „Das Ende des Individualismus: Die Kultur des Westens zerstört sich selbst“, Verlag Bonn Aktuell, München, 1994, S. 15 f.

[9] Ebenda, S. 64

[10] Vgl. Francois Höpflinger, „Bevölkerungssoziologie – Eine Einführung in bevölkerungssoziologische Ansätze und demographische Prozesse“, Juventa Verlag, München, 1997, S. 72 f.

[11] Ebenda, S. 70

[12] Ebenda, S. 70 f.

[13] Ebenda, S. 72 f.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Geburtenrückgang in Deutschland
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
27
Katalognummer
V35415
ISBN (eBook)
9783638353342
Dateigröße
590 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geburtenrückgang, Deutschland
Arbeit zitieren
Till Martin Hogl (Autor:in), 2004, Geburtenrückgang in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35415

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