Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Der Begriff der Gewalt und seine Dimensionen – im Allgemeinen und Speziellen
3. Erklärungsansatz: Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt-Konzept
3.1 Die Basis: Der Faktor Individualisierung / Herleitung
3.2 Der Faktor Desintegration
3.3 Mögliche Folge der Desintegration: Der Faktor Verunsicherung
3.4 Die mögliche Folge der Verunsicherung: Gewalt
3.5 Einordnung in das Konzept: Auswirkungen auf die soziale Institution Schule und ihre Rolle in der Gesellschaft
4. Kritische Reflexion
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Bedeutungselemente des Gewaltbegriffs im Überblick (in Anlehnung an Imbusch 2002:37)
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Schattenseiten der Individualisierung im Überblick (in Anlehnung an Heitmeyer 1995a:57)
Abbildung 2: Das Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt-Konzept im Überblick
1. Einleitung
„Bei einer Prügelattacke ist ein zwölfjähriger Junge in Euskirchen bei Bonn möglicherweise von Mitschülern lebensgefährlich verletzt worden...“
Spiegel online am 23. September 2016
Zwei gewaltbereite Schüler (12 Jahre) traten ihrem Mitschüler E. aus Streit um Karten eines bestimmten Spiels mehrfach gegen den Kopf, da Letzterer das Kartenspiel vorrangig gewann. E. lag längere Zeit in einem künstlichen Koma
Gewalt von Jugendlichen, wie in diesem aktuellen Fall, ist ein bekanntes Phänomen. Kilb (2011:13) zitiert hier beispielweise Platon, der schon vor 2000 Jahren äußerte, dass die Jugend keinen Respekt mehr vor den Älteren habe. Auch mit dem Thema Gewalt an Schulen beschäftigt sich die Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren. Hurrelmann/Bründel (2007:7f.) konstatieren, dass Schüler[1] viele Probleme mit in die Schule bringen, durch die die Schule oftmals zum Tatort wird. Es gibt unterschiedliche Arten von Gewalt, wobei die physische Gewalt die „erheblichste Gewaltkategorie“ (Kassis 2004:252) in der Schule ist. Wie kommt es dazu und wie lässt sich dieses Gewaltphänomen soziologisch erfassen?
Zur Beantwortung der Fragen soll in dieser Arbeit nachfolgend das Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt-Konzept von Heitmeyer (1995c:57ff.) als möglicher sozialisationstheoretischer Ansatz vorgestellt werden, der von sich beansprucht, neben dem Rechtsextremismus auch Gewalt von und an Jugendlichen beschreiben und erklären zu können. Dieses Konzept wird anschließend analysiert und es wird kritisch hinterfragt, inwiefern es die empirische Realität im Schulkontext erfassen und erklären kann.
Jedoch soll zunächst geklärt werden, was in dieser Arbeit unter Sozialisation zu verstehen ist, denn der Begriff als solches wurde schon 1896 von Edward A. Ross verwendet und gilt als wissenschaftliches Konstrukt (vgl. Hurrelmann 2006:11ff.). Hurrelmann (2006:7) definiert Sozialisation als
„Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit in produktiver Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen (der >>inneren Realität<<) und mit der sozialen und physikalischen Umwelt (der >>äußeren Realität<<).“
Der Mensch gestaltet seine Umwelt und wird durch diese auch beeinflusst. Dementsprechend verarbeitet er die innere und äußere Realität und entwickelt seine Persönlichkeit. Zu der äußeren Realität gehören beispielweise die Familie, Freunde, Bildungseinrichtungen, Arbeits- oder Wohnbedingungen. Dagegen gehören beispielsweise Intelligenz, körperliche Konstitution, psychisches Temperament oder die genetische Veranlagung zu der inneren Realität. Abels/König (2016:173ff.) fassen Hurrelmanns theoretische Ansätze wie folgt zusammen:
- „Die Gesellschaft stellt den äußeren Rahmen der Sozialisation, der von den Individuen wahrgenommen und verarbeitet wird
- Sozialisation meint [...] die selbsttätige, produktive Verarbeitung und Aneignung von Umweltangeboten.
- Identität meint das Erleben des ‚Sich-gleich-seins‘ und dessen Behauptung gegenüber der Gesellschaft.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sozialisation ein „dynamischer, facettenreicher und zugleich multifaktorieller Prozess zwischen Individuum, Organisationen und Gesellschaft“ (Kassis 2004:249) ist.
Belastende Lebenssituationen, Misserfolge oder soziale Ausgrenzung können mögliche Gründe sein, die den Jugendlichen in seinem sozialen Verhalten beeinflussen (vgl. Krall 2007:99). Somit prägen verschiedene Sozialisationsbedingungen die Persönlichkeitsstruktur und ein gewaltbereites Verhalten des Jugendlichen (vgl. Kassis 2004:249). Nach einem Versuch der Begriffsdefinition des Phänomens Gewalt im Allgemeinen und Speziellen, wird das Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt-Konzept von Heitmeyer (1995a:56) erläutert, sowie ein genauer Blick auf den Bereich Schule als soziale und gesellschaftliche Institution in diesem Zusammenhang geworfen. Anschließend erfolgt eine kritische Reflexion, der ein Fazit folgt.
2. Der Begriff der Gewalt und seine Dimensionen – im Allgemeinen und Speziellen
Die Spannweite der Definitionen um den Begriff Gewalt mit seinen komplexen Phänomenen ist groß. Dementsprechend verhalten sich die dazugehörigen Theorien in ihrer Reichweite und Aussagekraft (vgl. Heitmeyer/Hagan 2002:15, Imbusch 2002:27; Hurrelmann/Bründel 2007:11). „Gewalt ist einer der schillerndsten und zugleich schwierigsten Begriffe der Sozialwissenschaften“ (Imbusch 2002:26) und wird in unterschiedlicher Art und Qualität genutzt. Hitzler (1999:11) äußert hier, dass es keinen Konsens über das Phänomen Gewalt in der soziologischen Gewaltforschung gibt. Denn eine exakte Anwendung des Begriffs wird durch zusätzliche Synonyme oder Nebenbedeutungen wie Aggression, Konflikt oder Zwang erschwert. Hurrelmann/Bründel (2007:11) äußern dazu, dass Aggressivität als feste menschliche Antriebskraft gesehen werden kann. Dabei sind Aggressionen beispielsweise mehr ein Empfinden, welches zu zerstörerischen Handlungen führen kann, wohingegen Gewalt eine zerstörerische Handlung selbst ist. Aufgrund synonymer Verwendung der Begriffe Gewalt und Aggression in der Wissenschaft soll in dieser Arbeit ebenso verfahren werden.
Ob national oder international, im nahen sozialen Umfeld (Familie, Schule, auf der Straße), als Gewaltkriminalität (Mord und Totschlag) oder politisch motiviert: „Keine Gesellschaft [...] ist frei von Gewalt“ (Imbusch 2002:27), eine gewaltfreie Gesellschaft nur in der Fantasie erreichbar (vgl. Heitmeyer/Hagan 2002:20). Fest steht allerdings, dass man von dem Grundprinzip einer Grenzüberschreitung ausgehen darf (vgl. ebd.:16), dass zwischenmenschliche Unzufriedenheit, sowie eine „Ungleichheit mit ungerechter Verteilung von Ressourcen vorherrscht“ (Hurrelmann/Bründel 2007:16).
Dollase (2010:11f.) betont, wie schwierig ein Definitionsversuch sein kann, da durch eine Klassifizierung (un)gewollte Ein- und Ausgrenzungen stattfinden und diese in der Praxis zu Problemen führen können. Es sollten grundlegend Mehrdeutigkeiten der Phänomene von Gewalt bedacht werden, denn: „Wenn man sich dem Gewaltphänomen nähern möchte, stößt man [...] auf eine schier unendlich anmutende Kette von vermeintlichen Ursachen“ (Kilb 2003:36). Imbusch (2002: 53) referiert ferner, dass Gewalt in ihrem Kontext nicht immer als positiv oder negativ einzuordnen ist und empirisch keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen. Dennoch soll in dieser Arbeit versucht werden, den „Bedeutungsgehalt und Charakter von Gewalt zu konstatieren“ (Imbusch 2002:34):
Betrachtet man beispielsweise wie Gewalt ausgeübt wird, so wird zwischen physischer, institutioneller, struktureller und kultureller/symbolischer Gewalt unterschieden. Die direkte physische Gewalt beispielweise wird mit Verletzung, Schädigung und Tötung anderer Menschen in Verbindung gebracht. Imbusch (2002: 38) konstatiert, dass diese Form der Gewalt eine Handlungsoption ist, sie also nicht gezwungen ausgeübt wird, jedoch als „Mächtigkeit ganz elementar aus der Verletzbarkeit des menschlichen Körpers resultiert [] sie muss nicht verstanden werden“ (ebd.:45). Sie ist also ein Machtmittel. Die hier zuzuordnende individuelle Gewalt erfolgt von einzelnen Tätern (auch aus Peer Groups heraus) auf der Straße oder in öffentlichen Institutionen, wie beispielsweise der Schule. So kann auch eine soziale Beziehung zwischen Täter und Opfer vorliegen. Die private Gewalt hingegen findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie in Familien, bei Bekannten oder unter Freunden statt. Imbusch (2002:45) betont, dass die Ursache hier in Verwandtschaftsbeziehungen und dem Zwang, sich zu verständigen und gemeinsam vertragen zu müssen, liegen kann.
Den Gegensatz zu den zuletzt genannten Formen von Gewalt bietet die kollektive Gewalt (Gruppe mit Führung: Straßengangs, Hooligans), die sich wiederum von der politischen Gewalt, und den Intentionen der Akteure und Reaktionen des Staates (vgl. ebd.:46f.), beispielsweise Rechtsextreme, unterscheidet (dazu auch Lamnek/Luetke/Ottermann/Vogl 2012:13f.). Im Anschluss soll folgende Tabelle beispielhaft einen engen Gewaltbegriff überblicksartig umschreiben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Bedeutungselemente des Gewaltbegriffs im Überblick (in Anlehnung an Imbusch 2002:37)
Heitmeyer (1999:74) referiert bei den Osnabrücker Friedensgesprächen 1998, dass Gewalt mit Individualisierung in Zusammenhang gebracht werden muss: Es zeigt sich gewissermaßen „eine ‚doppelte Freisetzung‘, zum einen durch Subjektivierung auf der Werte- und Normebene und zum anderen durch Erfahrung bzw. Antizipation von sozialer, beruflicher und politischer Desintegration“ (ebd.). Er selbst definiert in diesem Zusammenhang drei Gewaltformen:
- Die expressive Gewalt stellt sich durch ihre Einzigartigkeit dar. Das Individuum will durch Tabuverletzung eine erhöhte Aufmerksamkeit seiner Person erreichen, wobei Opfer zweitranging sind und die Form unkalkulierbar und gefährlich ist. Sie erscheint attraktiv zur Selbstspiegelung des Ichs (ebd.:75).
- Die instrumentelle Gewalt hingegen ist kalkuliert, zielt auf eine individuell bestimmte Problemlösung und ist so „die soziale Variante, weil es um Anschluß [sic!], Sicherung und Aufstieg geht, die diese Gewalt stützen soll“ (Heitmeyer 1999:74; Einfügung CW) und wird deshalb realisiert.
- Politische Motive, die Unsicherheiten fördern und Ängste schüren, sollen soziale, berufliche und politische Desintegrationsprozesse in Form von regressiver kollektiver Gewalt aufheben. Heitmeyer (1999:75) spricht hier auch von einer ethnischen Überlegenheit.
Zur näheren Untersuchung des Phänomens der Gewalt an Schulen bedarf es einer Einbettung in ein Mehrebenenkonstrukt: Die Makroebene betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung in Verbindung mit den sozialen Strukturveränderungen und einer zunehmenden Ungleichheit. Die Institution Schule sollte auf der Mesoebene in ihrer gesellschaftlichen Funktion und internen Abläufen durchleuchtet werden. Abschließend sollte das Phänomen auf der Mikroebene erfasst und innerhalb individueller Handlungsmuster und Interaktionen untersucht werden (vgl. Holtappels 2009:47). Um alle drei Ebenen miteinander in Beziehung setzen zu können, soll im Anschluss das Desintegrations-Verunsicherungs-Ge-walt-Konzept von Heitmeyer (1995a:56ff.) genauer erläutert und auf die Thematik angewendet werden. Denn: Gewalt ist sehr vielschichtig; sie weist in ihrem Prozess Handlungs- und Strukturkomponenten auf (vgl. Imbusch 2002:37). Um diesen Prozess genauer analysieren zu können, werden nun Begrifflichkeiten wie Individualisierung, Desintegration und Verunsicherung in Heitmeyers Konzept (1995) ausführlich betrachtet. Wie begegnet der Jugendliche innerhalb seines Milieus Konflikten, Druck oder Zwang und wie kann er „im Zusammenhang mit Schule die geforderte Selbstdurchsetzung realisieren“ (Heitmeyer/Ulbrich-Herrmann 2009:50), wenn die Institution Schule auf die Ansprüche der Schüler nicht mehr angemessen reagieren kann (vgl. Klewin/Tillmann 2006:201)?
3. Erklärungsansatz: Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt-Konzept
Die allgemeinen Voraussetzungen, unter denen Jugendliche aufwachsen, sind von starker Zwiespältigkeit geprägt (vgl. Heitmeyer 1995b:12). Heitmeyer (vgl. ebd.) versucht zunächst durch ein Interaktionsmodell Gewalt unter subjektiven wie objektiven Gegebenheiten zu erklären, die Wechselwirkung von sozialen Erfahrungen, die subjektive Verarbeitung sowie die kollektiven und individuellen Handlungsweisen zu verdeutlichen. Sein sozialisationstheoretisches Konzept betrachtet den Jugendlichen als aktiven Umweltgestalter (vgl. Heitmeyer 1995c: 31). Basis und Rahmung dazu und zu den oben angeführten Gewaltformen als „kollektive ‚Furcht vor Freiheit‘“ (Heitmeyer 1999:73), bildet das Individualisierungstheorem. Heitmeyer/Mansel/Olk (2011:7) äußern, dass die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Jugendlichen nämlich durchweg von Individualisierung geprägt sind.
3.1 Die Basis: Der Faktor Individualisierung / Herleitung
Der Begriff der Individualisierung meint einen historisch-sozialen Prozess (vgl. Jagodzinski/Klein 1998:15) und hat in der modernen (Wohlstands-)gesellschaft einen hohen Stellenwert. Er bedeutet die Loslösung von strengen Vorgaben, Normen und Werten, sowie eine eigene Selbstfindung und -entfaltung des Individuums (vgl. Beck 1986; Heitmeyer 1995b:12). Dadurch verfügen Jugendliche prinzipiell über eine große individuelle Handlungs- und Wahlfreiheit. Die Entscheidung der Jugendlichen ist zwangsläufig gekoppelt mit zu bewältigenden Zwängen und/oder Druck. Ihre Lebensaufgaben sind komplexer, jetzt ohne „den Rückhalt stabiler Vergemeinschaftungsformen“ (Heitmeyer 1995b:12). Hinzu kommen Ungleichheitsrelationen durch Entstandardisierung von Lebensläufen. „Jugendliche können heute mehr entscheiden, [...] sie müssen aber auch mehr entscheiden – ohne häufig zu wissen, worauf sie denn entscheiden wollen“ (ebd.; Hervorh. CW.). Die Anforderungen an die Jugendlichen werden also größer und Probleme müssen eigenverantwortlich gelöst werden, seien es der Anschluss an eine Gruppe oder Institution, die Sicherung einer Position oder die Realisierung eines Aufstiegs. Heitmeyer (1995b:13) sieht hier keineswegs nur bessere Chancen für die jungen Menschen, sondern auch das Verhängnis „einzeln mit ihrer ganzen Persönlichkeit haften zu müssen“ (ebd.). Durch die Ausweitung an Möglichkeiten innerhalb der Individualisierung machen Jugendliche auch die Erfahrung der Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit und somit können individuelle Entwicklungsprozesse durchkreuzt werden (vgl. Heitmeyer 1995c:39). Im Anschluss sind noch weitere Ambivalenzen aufzuzeigen: Durch die vielen Optionen nimmt die Berechenbarkeit der Lebenswege ab. Ein individueller Lebenslauf kann zudem einen Verlust sozialer Verortung bedeuten. Trotz Auflösung von Strukturen ist der Bedarf an Unterscheidung groß. Individualisierte Lebensweisen können jedoch in die Isolation führen. „Die Auflösung von Traditionen eröffnet neue Verhaltenschancen, aber die selbstverständlichen Regelungswege zur Verminderung von Konflikten sind verloren“ (Heitmeyer 1995c:50). Entscheidungsfreiräume wirken sich auf die Subjektivierung von Normen und Werten aus. Eine gesellschaftliche Integration, das heißt der soziale Zusammenhalt, eine Vergemeinschaftung mit sozialer Ordnung und ihren ethnischen Normen und Werten (vgl. Imbusch/Heitmeyer 2012:10), erscheint durch die tief greifenden Veränderungen sozialer Strukturen erschwert.
Sind Jugendliche den Folgen der Individualisierung nicht gewachsen, so die These Heitmeyers (1995a:56), entstehen Desintegrationspotentiale, die in gewaltbereites Handeln münden. Gewalt ist von daher ein Interaktionsprodukt. Auch Meier (1997:173) ergänzt an dieser Stelle, „daß [sic!] gewaltförmige Handlungen in der Schule Teil eines komplexen Interaktionsgeschehens sind“ (ebd; Einfügung CW).
[...]
[1] Der besseren Lesbarkeit halber wird eine wertfrei zu betrachtende maskuline Wortform gewählt.