Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Was ist Politik?
2.2 Wer ist frei?
2.3 Revolution! - Aber wie?
2.4 Das ist öffentlich ... oder doch privat?
3 Abschließende Bemerkungen
4 Quellen
1 Einleitung
In ihrem Werk „Vita activa“ zeigt Hannah Arendt (1906-1975), wie die Tätigkeiten des menschlichen Leben organisiert sind und sich Politik gestalten lässt. Dabei gliedert sie das menschliche Leben in drei grundlegende Tätigkeitsbereiche: der Arbeit, das Herstellen und das Handeln1.
Mit Arbeit versteht Arendt hierbei alle Tätigkeiten, die das Leben selbst unterstützen und somit gewissen Zyklen untergeordnet sind. Sie denkt in diesem Zusammenhang vor allem an alle Tätigkeiten, bei denen ein Mensch eines anderen nicht bedarf, beispielsweise der Ernährung und andere Arten des Konsums. Die Arbeit wird insofern als eine Notwendigkeit für das Am-Leben- Bleiben und das Weiterleben der Gattung charakterisiert.
Unter Herstellen begreift sie hingegen als das Schaffen einer künstlichen Welt voller Dinge. Das Hergestellte ist keinen Zyklen und keiner Vergänglichkeit unterworfen und bleibt insofern beständig in der Welt.
Der zentrale Begriff bei Arendt ist jedoch das Handeln 2 und es gilt als einzige Tätigkeit, die sich direkt zwischen Menschen abspielt und dabei keines materiellen Dinges bedarf. Das Handeln und Sprechen findet in einer Öffentlichkeit statt, andere Menschen und somit eine Mitwelt gelten hierbei als Voraussetzung.
Während das Arbeiten auf den Organismus selbst bezogen ist, das Herstellen eine materielle, beständige Welt erschafft, ist das Handeln auf eine nicht-materielle Mitwelt ausgerichtet, die von mehrerer Menschen geteilt wird. Es wird insofern als ein politisches Handeln begriffen, indem es die Mitwelt und das politische Gemeinwesen aktiv gestaltet. Für Arendt gehört es zur Aufgabe des Menschen - als ein gesellschaftliches Wesen - nicht nur eine gegenständliche, beständige Welt herzustellen, sondern auch eine gesellschaftliche, beständige Welt zu erschaffen. Politik findet bei Arendt nicht hinter geschlossenen Türen statt, sondern in der Öffentlichkeit. Dabei können sich viele Menschen aktiv beteiligen und somit ihre Welt mitgestalten.
Eine völlig andere Position nimmt in diesem Zusammenhang der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862) ein. Er wurde 1817 in Concord, Massachusetts geboren, wo er nahezu sein ganzes Leben verbrachte. Bekannt wurde er vor allem durch sein Werk „Walden oder Leben in den Wäldern“, in dem er autobiographisch beschreibt, wie er der Gesellschaft den Rücken kehrt und für zwei Jahre in einer Hütte im Wald lebt. Seine wenig schmeichelhaften Ansichten über die Politik stellt er in seinem Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ dar. Seiner Meinung nach sollen politische Gesetze und Entscheidungen das eigene Leben nicht leiten lassen. Selbst demokratischen Mehrheitsentscheidungen steht er kritisch gegenüber. Schlussendlich kann nur das eigene Gewissen beim Handeln ausschlaggebend sein. Der Staat und das Gemeinwesen sollen so wenig Einfluss auf das persönliche Leben nehmen, wie nur möglich.
„Die beste Regierung ist jene, die am wenigsten regiert“3
Indem Thoreau die Sklavenpolitik der US-Regierung im 19. Jhdt. boykottierte, wurde er zum Gründer des „gewaltlosen Widerstands“, der sich - mit seinen Worten - folgendermaßen skizzieren lässt:
„Ich hätte mich zwar mit mehr oder weniger Erfolg mit Gewalt widersetzen, gegen die Gesellschaft Amok laufen können. Ich zog aber vor, die Gesellschaft gegen mich Amok laufen zu lassen, da sie die verzweifelte Partei ist.“4
Inspirierenden Einfluss übten Thoreau‘s politische Ideen sowohl bei Gandhi in seinem gewaltlosen Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft, sowie bei Martin Luther King in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aus. Auch die französische Résistance, die Generation der 68er und die Friedensbewegung der achtziger Jahre beriefen sich auf ihn. Aufgrund seiner ablehnenden Haltung zum Staatswesen inspirierte er auch einige liberal-anarchistische Bewegungen zu Beginn des 20. Jhdts, insbesondere Emma Goldman5.
Nur unschwer lässt sich erkennen, dass Hannah Arendts und Henry David Thoreaus Verständnisse von Politik und Gesellschaft schwer zu vereinbaren sind. Schon auf dem ersten Blick zeigen sich eher tiefgreifende Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Arendt begreift sich hierbei als politische Denkerin und setzt sich scharfsinnig mit politischen Systemen auseinander. Thoreau gehört hingegen zu der seltenen Gattung von Philosophen, die ihre eigene Philosophie eher leben als lehren. So verfasst er nur wenige Essays und ein autobiographisches Werk und kein umfassendes philosophisches System. Ohnehin kann wohl sein Tagebuch als der größte Fundus für seine Ansichten gelten und nicht zuletzt aufgrund des Umfangs - es besteht nämlich aus 47 Bänden.
Diese Arbeit vergleicht die Ansichten der beiden Personen, im Bezug auf Politik und die Relation von Öffentlichkeit und Privaten. Zudem soll Arendts Begriff des „Handelns“ mit Thoreaus „gewaltlosem Widerstand“ verglichen werden.
2 Hauptteil
2.1 Was ist Politik?
Bereits in der Einleitung wurden die zwei unterschiedlichen Positionen von Arendt und Thoreau skizziert. Man könnte meinen, für Arendt stelle die griechische Polis das Ideal und Vorbild eines politischen Gemeinwesens dar:
„Politisch zu sein, in einer Polis zu leben, das hieß, daß alle Angelegenheiten vermittels der Worte, die überzeugen können, geregelt werden und nicht durch Zwang oder Gewalt.“6
Insofern stellt das Handeln und das Sprechen das Mittel dar, die gemeinsame Welt, die sozusagen zwischen den Menschen zu finden ist, zu verändern und zu gestalten. Dazu ist für Arendt jeder Mensch und Bürger fähig, der Zugang zum politischen Diskurs hat. In der griechischen Polis waren dies männliche Bürger - Frauen und Sklaven konnten hingegen nicht politisch Handeln und waren in diesem Sinne gesellschaftlich nicht sichtbar. Ihr Leben war auf andere Tätigkeitsbereiche beschränkt, die Arendt als Arbeit oder Herstellen klassifiziert.
Der politische Diskurs selbst findet dabei im öffentlichen Raum im weitesten Sinne statt und ist nicht auf ein Regierungsgebäude beschränkt. Man denke in diesem Zusammenhang an einen griechischen Marktplatz an dem lebhaft über öffentliche Belange disputiert wird. Heutzutage finden solche politischen Diskussionen freilich in anderen Rahmen statt. Auf jeden Fall macht dies deutlich: Grundsätzlich können nach Arendt viele7 Bürger am politischen Geschehen mehr oder weniger direkt teilnehmen und Politik (und Mitwelt im weiteren Sinne) ist insofern etwas von vielen Beteiligten, aktiv Gestaltetes.
Voraussetzung solcher Überlegungen ist jedoch, den Menschen überhaupt als ein gesellschaftliches Wesen zu begreifen. Für Arendt gehört es zur menschlichen Bedingtheit, sich in einer Gesellschaft und unter Menschen zu finden:
„Für Menschen heißt Leben […] soviel wie ‚unter Menschen weilen‘ (inter homines esse) und Sterben soviel wie ‚aufhören unter Menschen zu weilen‘ (desinere inter homines esse). […] Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“8
Wird die nie enden wollende Debatte zwischen n ó mo und ph ý sis betrachtet - eine Dialektik, welche von den Sophisten in der Antike angestoßen und in der Neuzeit neu aufgeworfen wurde - lässt sich Arendt schwer einer einseitigen Position zuordnen. Immerhin schreibt sie, dass die menschliche Bedingtheit und die menschliche Natur nicht verwechselt werden dürfen.9 Insofern lässt sich sagen, dass das Leben in Gesellschaft zwar zu den menschlichen Bedingungen, jedoch nicht notwendigerweise zur menschlichen Natur gehört.10
Dass man der Gesellschaft schwer entkommt, sieht Thoreau ähnlich, wenn er schreibt: „An Menschen fehlt es kaum jemals, wo man auch sei.“11 Für ihn hingegen ist die Spannung zwischen nómo und phýsis rasch abgehandelt, wie dieser, sowie etliche andere Tagebucheinträge bezeugen:
„Ich liebe die Natur auch deshalb, weil sie nicht menschlich, sondern eine Zuflucht vor den Menschen ist. Keine ihrer Institutionen kontrolliert oder durchdringt sie. Hier herrscht eine andere Art von Recht. In ihr kann ich vollkommen fröhlich sein. Wenn diese Erde ganz menschlich wäre, könnte ich mich nicht strecken und würde alle Hoffnung verlieren. Der Mensch ist Zwang, sie ist Freiheit für mich. [...] Keine der Freuden, die sie gewährt, ist seinen Regeln und Definitionen unterworfen. Was er berührt, beschmutzt er. Wenn er denkt, moralisiert er. Wie grenzenlos und rein ist dagegen die geringste Freude, die mir aus der Natur erwächst, etwa im Vergleich mit dem Beifall der Menschheit! […] Kein Gesetz ist so mächtig, daß die geringste Freude sich nicht darüber hinwegsetzen könnte. Ich besitze den Raum, der ganz mir gehört: die Natur. Sie ist ein Ort jenseits der Verfügungsgewalt von Regierungen. […] Jenseits eurer Gesetze ist die wilde Steppe.“12
Für ihn gibt die Natur die Gesetze vor. Von Menschen gemachten Vorschriften und gesellschaftliche Konventionen sind für ihn allemal lästige Stolpersteine für ein Leben voller persönlicher Freiheit. Beispielsweise liebte er die Kinder, die noch nicht durch gesellschaftlichen Masken verkleidet sind, wie es etwa bei Erwachsenen der Fall ist. Gegenüber Erwachsenen verhielt er sich hingegen oft etwas schroff, immerhin hielt er nichts von Höflichkeiten. Für Thoreau bedarf der Mensch keiner Gesellschaft. Er selbst ist „unendlich gern allein“ und fühlt sich in der Einsamkeit geselliger, als er es unter vielen Menschen tut.13
Das obige Zitat lässt zudem Thoreaus Verständnis von Politik aufzeigen. Im Gegensatz zu Arendt ist Politik für ihn weitaus enger gefasst und beschreibt letztendlich nur die Regierung und deren Institutionen, von denen er jedoch allesamt nichts hält. Die Menschen und Bürger müssen sich dabei der Regierung mehr oder weniger passiv fügen. Wie bereits beschrieben, glaubt Arendt im Vergleich dazu, dass politische Entscheidungen sozusagen auch von unten und von einer breiten Masse kommen können, indem in der Bevölkerung ein politischer Diskurs stattfindet und trotz aller Pluralität einigende Meinungen gebildet werden. Sie schaffen gar eine gemeinsame Welt.
Thoreau steht selbst Entscheidungen, die von der Bevölkerung in Form einer demokratischen Mehrheit getroffen werden, kritisch gegenüber:
„Hat das Volk einmal die Macht, darf eine Mehrheit bestimmen, und zwar eine ganze Weile. Und dies in erster Linie nicht etwa, weil die Mehrheit am ehesten das Recht auf ihrer Seite hätte, und auch nicht, weil die Minderheit deren Herrschaft für einigermaßen fair hielte; nein, der eigentliche Grund, dass sie es darf, ist ihre physische Überlegenheit. Aber eine Regierung, bei der die Mehrheit in jedem Fall den Ausschlag gibt, kann keine Regierung der Gerechtigkeit sein, wie weit man diesen Begriff auch immer fassen mag. Ließe sich keine Regierung denken, in der gleichsam nicht die Mehrheit über Falsch und Richtig befindet, sondern das Gewissen? - in der die Mehrheit lediglich über solche Belange entscheidet, für die das Gebot der Nützlichkeit gilt?“14
[...]
1 Arendt, 2015, S. 16-18
2 Wenn im folgendem von dem Handeln gesprochen wird, so ist diesem in Arendts Verständnis vom Handeln gemeint.
3 Motto des United States Magazine und der Democratic Review. Es ist der erste Satz in Thoreaus Schrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“.
4 Thoreau, 1971, S. 174
5 Dabei forderte Thoreau allerdings keinen Anarchismus, wie folgendes Zitat belegt: „Aber, um seriös und als Bürger zu reden, und nicht wie die Anarchisten, die jegliche staatliche Autorität ablehnen, fordere ich nicht: ab sofort keine Regierung mehr, sondern: ab sofort eine bessere Regierung.“ Thoreau, 2013, S. 9
6 Arendt, 2015, S. 36f
7 Wieviele Menschen in Arendts Sinne handeln können, ist letztlich abhängig vom politischen System und der gesellschaftlichen Organisation. Grundsätzlich steht es nach Arendt aber jeder Person - auch jedem Sklaven - frei, solch ein System zu verändern. Die Person, die Veränderungen erreichen will, muss bereit sein, sich dabei unter Umständen gewissen Risiken (die den Tod dieser Person beinhalten) auszusetzen.
8 Arendt, 2015, S. 17
9 ebd., S. 19
10 ebd., S. 34
11 Thoreau, 1971, S. 147
12 Thoreau, 1996, Tagebucheintrag am 3.1.1853, S. 133f
13 Thoreau, 1971, S. 140
14 Thoreau, 2013, S. 9f