Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Zur Thematik des Romans
2. Einführung in die Welt des Romans im Romananfang
2.1 Der erste Abschnitt: Die Grundstimmung
2.2 Präzisierung der Thematik im zweiten Abschnitt
3. Der Erzähler als Augur
4. Das Ende des Romans
5. Hintergründe in der Geschichte und zu Wolfgang Koeppen
6. Resümee
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Zur Thematik des Romans
1951 ist der Weltkrieg vorbei und die Menschheit sollte aufatm en können. Doch in „Tauben im Gras“, der bedeutensten literarischen Gestaltung der Nachkriegszeit1, zeigt Wolfgang Koeppen die Realität. In mehr als hundert kürzeren und längeren Episoden fängt er aus unterschiedlichsten Perspektiven einerseits die Verwüstung des Krieges und die Traumata der Menschen ein und zeigt andererseits die Rückstände von Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft auf. Die Handlung des Romans beschränkt sich auf die Geschehnisse eines einzigen Tages in einer deutschen Großstadt (vermutlich handelt es sich um München). Dabei treten mehr als dreißig Charaktere aller Schichten und unterschiedlicher Nationen mit ihren individuellen Problemen, wie Armut, Einsamkeit und Zukunftsängsten, die sich teilweise innerhalb der Handlung treffen, teilweise aber auch nicht, auf. Koeppen beweist stilistisch experimentelle Kühnheit, indem er nicht an den literarischen Hauptstrom der Trümmer- und Kahlschlagliteratur nach 1945 anknüpft, sondern an die Tradition des modernen Romans des 20. Jahrhunderts.2 Oft wird sein Werk mit dem Roman „Ulysses“ (1922) von Joyce und Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1929) verglichen. Der Einfluss von Joyce und Döblin macht sich bemerkbar, nicht nur, weil es sich bei allen drei Romanen um Großstadtromane handelt, sondern auch, weil das Montageprinzip, die Technik des Bewusstseinsstroms und die Einfügung von Zitaten bei diesen Romanen ähnlich ist.3 Im Folgenden wird analysiert, wie bereits der Romananfang den Leser auf der einen Seite in die Thematik der Nachkriegswelt einführt und auf der anderen Seite mit den stilistischen Mitteln Koeppens vertraut macht.
2. Einführung in die Welt des Romans im Romananfang
2.1 Der erste Abschnitt: Die Grundstimmung
Der erste Absatz in „Tauben im Gras“ lautet:
Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm.
Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen. Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten.
Niemand blickte zum Himmel auf.4
Mit der Deutung des Erzählers der Flugzeuge als „unheilkündende Vögel“5 wird direkt im ersten Satz die Grundstimmung des Romans angeschlagen. Koeppen vertieft hier die Realität der über den Ruinen der Stadt kreisenden Flieger in eine Metapher, die eben diesen Fliegern eine tiefere Bedeutung einverleibt und ihnen das Unheil zuschreibt.6 Außerdem wird schon hier der Bezug zum Titel des Romans hergestellt, indem das semantische Feld der Vögel und des Fliegens eingeführt wird.
Der Lärm der Motoren wird mit Naturgeräuschen verglichen, was sich so deuten lässt, dass die Geschichte des Krieges so natürlich wie das Wetter ist und immer wiederkehrt und gleich abläuft. Dass diese Naturphänomene im Chiasmus wiederholt werden, verdeutlicht eben diese Vorstellung davon, dass der Krieg immer wiederkehren könnte.7
Die Beschreibung, dass „täglich und nächtlich“8 -anstatt der Sonne und des Mondes- die Flieger am Himmel wahrgenommen werden, zeigt auf, wie diese auf vergangene und auf kommende Kriege verweisen9, so wie die Sonne und der Mond auf den vergangenen und den kommenden Tag verweisen.
Es folgen verschiedene Assoziationen, die mit dem Flugzeuglärm aufkommen, wie „Übungen des Todes“10 und „ein Erinnern in den Ruinen“11, die auf Krieg und Tod verweisen, aber der Erzähler weiß, dass die Flugzeuge noch keine Bomben mit sich tragen.
Anschließend werden die „Auguren“12 eingeführt. Auguren hatten im alten Rom die Aufgabe, aus dem Vogelflug den Willen der Götter zu lesen und Kriege vorauszudeuten.13 Ihr wissendes Lächeln zeigt hier, dass sie aus dem Flug der am Himmel kreisenden Flieger das zukünftige Unheil vorausdeuten können. Außerdem wird hiermit auch das Feld der mythologischen Bezüge aufgegriffen, die sich durch den ganzen Roman ziehen. So taucht zum Beispiel im Laufe des Romans der amerikanische Soldat „Odysseus“ auf, dessen Begleiter Josef als „keine Maske des Ödipus für Odysseus“14 bezeichnet wird. Ebenso wird mit „Messalina“, der Frau des Schauspielers Alexander, auf die Frau des römischen Kaisers Claudius angespielt und gleichzeitig auf die Schreckensgestalt des mythischen Gorgo.15 Mit der Aussage, dass niemand zum Himmel aufblickte, wird gezeigt, dass die Romanfiguren die apokalyptischen Vorzeichen nicht wahmehmen und sich nicht für das Geschehen interessieren. Lediglich der Dienstmann Josef verfolgt mit seinem Kofferradio die Nachrichten, versteht diese aber nicht wirklich.16 Folglich lässt sich sagen, dass bereits der erste Abschnitt die Zeichen für den Roman setzt. Er zeigt auf, dass die Gefahr eines dritten Weltkrieges präsent ist, dass es Wissende und Unwissende gibt und klingt mahnend, drohend und ankündigend.17
2.2 Präzisierung der Thematik im zweiten Abschnitt
Nachdem durch den ersten Abschnitt die Geschehnisse am Himmel beschrieben wurden, beginnt der zweite Abschnitt mit erneuten Bezügen zur Natur, indem die evolutionäre Entstehungsgeschichte des Erdöls in einer parataktischen Reihung18 beschrieben wird:
Öl aus den Adern der Erde, Steinöl, Quallenblut, Fett der Saurier, Panzer der Echsen, das Grün der Famwälder, die Riesenschachtelhalme, versunkene Natur, Zeit vor dem Menschen, vergrabenes Erbe, von Zwergen bewacht, geizig, zauberkundig und böse, die Sagen, die Märchen, der Teufelsschatz: er wurde ans Licht geholt, er wurde dienstbar gemacht.19
Die Welt des Romans wurde so von „oben“ nach „unten“ aufgebaut.
Der Erzähler macht hier übermenschliche Gewalten für den Verlauf der Geschichte verantwortlich.20 Zusätzlich werden hier erneut mythische Bezüge aufgegriffen, indem auf Sagen und Märchen eingegangen wird. So wird mit dem „Teufelsschatz“21 auf Wagners Oper „Das Rheingold“ angespielt, was sich in diesem Zusammenhang so deuten lässt, dass die Natur den Menschen zum Teufelsschatz wird, weil sie sie ausgebeutet haben.22
Anschließend werden in Großbuchstaben Schlagzeilen der Zeitungen eingeschoben, die andeuten, dass Kriege um den Besitz der Ölquellen nicht unwahrscheinlich sind. Diese Schlagzeilen benennen nun erstmals konkrete handelnde Personen, nämlich „Truppen“23, den „Schah“24 und die „Russen“25. Solche Zeitungsüberschriften werden den ganzen Roman über immer unkommentiert eingeschoben. Sie zeigen, dass die Bedrohung allgegenwärtig ist und führen zu Anspannung.
Im Anschluss an die Schlagzeilen über das Erdöl, werden diese noch einmal vertieft, indem das Öl als Subjekt erscheint26 und seine Abhängigen aufgezählt werden:
Das Öl hielt die Flieger am Himmel, es hielt die Presse in Atem, es ängstigte die Menschen und trieb mit schwächeren Detonationen die leichten Motorräder der Zeitungsfahrer.27
Danach wird das Unwohlbeftnden der Zeitungshändler durch Adverbien beschrieben und es wird angedeutet, dass es sich bei diesen teilweise um Kriegsveteranen
[...]
1 Vgl.: Häntzschel: Romanfigur, S.83.
2 Vgl.: Hielscher: Zitierte Modeme, S.9.
3 Vgl.: Wehdeking: Nachkriegsliteratur, S.151 f.
4 Koeppen: Tauben im Gras, S.9.
5 Ebd.
6 Vgl.: Hielscher: Zitierte Modeme, S.43.
7 Vgl.: Ebd.: S.44.
8 Koeppen: Tauben im Gras, S.9.
9 Vgl.: Hielscher, Zitierte Modeme, S.46.
10 Koeppen: Tauben im Gras, S.9.
11 Ebd.
12 Ebd.
13 Nordau: Entartung, S.617.
14 Koeppen: Tauben im Gras, S.29.
15 Vgl.: Hinck: Romanchronik, S.117.
16 Vgl.: Koeppen: Tauben im Gras, S.68.
17 Vgl.: Hielscher: Zitierte Modeme, S.46.
18 Vgl.: Sprengel: Koeppen, S.411.
19 Koeppen: Tauben im Gras, S.9.
20 Vgl.: Hielscher: Zitierte Modeme, S.51.
21 Koeppen: Tauben im Gras, S.9.
22 Vgl.: Hielscher: Zitierte Modeme, S.47.
23 Koeppen: Tauben im Gras, S.9.
24 Ebd.
25 Ebd.
26 Vgl.: Hielscher: Zitierte Modeme, S.48.
27 Koeppen: Tauben im Gras, S.9.