Die Rollbilder der Patua. Entwicklung der folkloristischen Ausdrucksform zur indischen Volkskunst


Hausarbeit, 2016

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Paṭua und ihre Stellung in der hinduistischen Gesellschaft

3. Die Paṭs
3.1. Herstellung
3.2. Frühe Funktionen und Aufführungspraxis
3.3. Stil
3.4. Inhalte

4. Bilderrollen im 19. und 20. Jahrhundert
4.1. Vom Schauspiel zum Wandbehang – Kommodifizierung unter den Kalighat
4.2. Die Rolle der paṭs im indischen Nationalismus
4.3. Kommerzialisierung

5. Ausblick

Anhang

1. Einleitung

Bereits vor zweitausend Jahren zirkulierten Barden durch Indien, die, anhand von Bildrollen Geschichten und moralische Lehrstücke unter der meist analphabetischen Bevölkerung verbreiteten. Diese bengalischstämmigen Erzähler, Anhänger der ethnischen Gruppe der Paṭua (von paṭ , „Bildrolle“), sind die Schöpfer und Träger einer Kunstform, eines fantastischen Schauspiels, das sich von Indien weit bis nach Ost- und Südostasien verbreiten sollte.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Tradition in ihren verschiedenen Facetten zu skizzieren und den Prozess ihrer Transformation aufzuzeichnen: Von ihrer ursprünglichen Lehrfunktion über ihre Instrumentalisierung im indischen Nationalismus und hin zu ihrer heutigen, kommerzialisierten Form. Es ist zudem von Interesse, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen das Handwerk der Paṭua, zunächst nur eine folkloristische Ausdrucks- und Kommunikationsform, ästhetisiert und in die Hierarchie der indischen Volkskünste aufgenommen wurde.

2. Die Paṭua und ihre Stellung in der hinduistischen Gesellschaft

Die Volksgruppe der Paṭua bzw paṭuẏā পটুয়া in ihrer bengalischen Bezeichnung – oder auch Patidar in der persifizierten Form (McCutchion 1999: 3), ist überwiegend im indischen Bundestaat Westbengalen sowie im heutigen Bangladesch angesiedelt (Hauser 2002: 108). Sie konzentriert sich besonders in der südlichen Hälfte Westbengalens, wo sie paṭua-paras, Slums am Rande multi-ethnischer Städte bewohnt (McCutchion 1999: 3). Den Kern ihres Namens bildet der Begriff paṭ, „Rollbild“, welcher von dem bengalischen Suffix –ua für „Inhaber“ oder „Halter“ besiegelt wird. Im strengen Sinne sind die Paṭua für die gesangliche Untermalung von Bilderrollen zuständig - heute aber werden sie, entgegen ihrem traditionellen Berufsbild, mit einer Bandbreite an handwerklichen sowie kunstschaffenden Tätigkeiten assoziiert - sie sind Jongleure, Magier, fangen Vögel oder beschwören Schlangen (Hauser 2002: 108).

Den Paṭua , einer niederen Kastengruppe, galt innerhalb des brahmanischen Indien seit jeher ein hohes Maß an Diskriminierung. Sie trugen die Bürde, eine marginale Stellung innerhalb der hinduistischen Gesellschaft einzunehmen und weitgehend vom gesellschaftlichen Leben Indiens ausgeschlossen zu werden (McCutchion 1999: 3). Die Paṭua , keinesfalls gewillt, ihre soziale Benachteiligung hinzunehmen, wussten aber nun, ihre Immobilität durch ein geschicktes Manöver – zumindest vorübergehend – zu überwinden. Der Schlüssel zu ihrer sozialen Aufwertung lag darin, einen gemeinsamen Herkunftmythos herzuleiten und die Bedeutung der eigenen Kaste so anzuheben (Hauser 2002: 110). Die Paṭua taten dies, indem sie sich auf die Künstlerkaste der Citrakār beriefen, Berichten zufolge den Söhnen des himmlischen Baumeisters Viśvakarman (Chakrabarti 2008: 14). Mit dieser Verschmelzung war eine kurze Dauer des sozialen Anstieges für die Paṭua verbunden, die damit endete, dass die brahmanischen Autoritäten dieses Vorgehen durchschauten und die gesamte Kaste der Citrakār unter dem Vorwurf der Korruption aus der Gesellschaft verbannten (McCutchion 1999: 11). Das nachklingende Misstrauen gegenüber den Paṭua , welches sich seit jeher systematisch im öffentlichen Bewusstsein herausbildete, ist heute nach wie vor ein entscheidender Stolperstein auf dem Weg zu ihrer vollständigen sozialen Integration - so sind die Paṭua heute offiziell unter den sogenannten scheduled castes aufgelistet, sozial benachteiligten, unteren Kasten, denen bestimmte Sonderrechte zugesprochen werden (Hauser 2002: 110; Korom 2006: 41).

SenGupta spricht nun, in dem Versuch, die Psyche der Paṭua darzustellen, von ihrer „flexibility and fluidity of personal identity“ (SenGupta 2012: 5). Tatsächlich lässt sich die ständige Neuinterpretation der eigenen Identität wie ein roter Pfaden durch die Geschichte der Paṭua verfolgen. Besonders ersichtlich wird dies in dem Versuch, ihr religiöses Profil abzubilden. Anstatt sich zu einer einzelnen, klar definierten Glaubensgemeinschaft zu bekehren, praktizieren die Paṭua heutzutage einen religiösen Synkretismus, der gleichermaßen Elemente des Hinduismus sowie des Islam enthält (SenGupta 2012: 5). Die frühe religiöse Laufbahn der Paṭua ist die einer langen Zugehörigkeit zum Hinduismus – nur gebrochen von einer kurzen, buddhistischen Periode unter dem Maurya-Reich (McCutchion 1999: 22). Als dann der Islam mit den Moguln in Indien eintraf, konvertieren viele der Paṭua mit der Hoffnung, im Islam eine Zuflucht von der hierarchischen und als repressiv empfundenen hinduistischen Gesellschaft zu finden (Bhowmick 1995: 43). Da es ihnen aber aus ökonomischen Gründen nicht möglich war, der Anfertigung von hinduistischen Götterbildern gänzlich zu entsagen (Bhowmick 1995: 42), wurden sie in den Augen des Islams, der die Darstellung von Menschen und Tieren strikt verbietet, niemals als vollwertige Muslime angesehen (McCutchion 1999: 13). Bereits nach dem Abfall der muslimischen Macht schwangen die Paṭua wieder zum hinduistischen Ufer rüber - jedoch ohne jemals auf die Ausübung der muslimischen Bräuche zu verzichten, denen sie zuvor nachgegangen waren (Bhowmick 1995: 44). Anstatt sich dogmatisch zu einer bestimmten Religion zu bekehren, lag die Strategie der Paṭua darin, eine lockere Mittelposition einzunehmen, um wie ein Pendel zu derjenigen Seite wechseln zu können, die gegenwärtig die größten Profite versprach (Bhowmick 1995: 45). Da dieser religiöse Eklektizismus seitens beider Religionsgemeinschaften als „unrein“ geschimpft wurde, konnten sich die Paṭua jedoch - bis heute - in keinem dieser beiden Milieus vollständig integrieren – ihnen wird eine doppelte Marginalisierung zuteil: der Hinduismus degradiert sie aufgrund ihrer niederen Kaste, der Islam hingegen wirft ihnen vor, schlechte Muslime zu sein (Bhowmick 1995: 41).

3. Die Paṭs

Der Begriff paṭ, „Leinwand“ oder „Rollbild“ ist in der Sprache des klassischen Sanskrit beheimatet und ist abgeleitet von paṭṭa, „Stoff“, da es im alten Indien – noch vor der Erfindung des Papiers - üblich war, Stoffe zu beschreiben oder bemalen (McCutchion 1999: 6). Grundsätzlich wird zwischen zwei Arten der paṭs unterschieden: Die chauka paṭ s sind rechteckige, meist quadratische Bilder, die nur aus einer einzelnen Szene bestehen. Diese dienen im Wesentlichen der Illustrierung einzelner Gottheiten, Volkshelden oder Tiere. Solche Formen der paṭ s werden nicht zur gesanglichen Rezitation verwendet, sondern eignen sich durch den geringen Arbeitsaufwand, die verringerten Materialkosten und die kompakte Größe besonders gut für den Verkauf (McCutchion 1999: 7). Da sie nicht von einer Performance begleitet werden, wird dieser Form der paṭ s oft nachgesagt, erst im Zuge eines Kommerzialisierungsprozesses entstanden zu sein. Erst bei den jarano oder auch gutano paṭ s handelt es sich streng genommen um Rollbilder. Diese bemalten Rollen bestehen mehrheitlich aus Leinen (Jefferson 2014: 8) und weisen im Schnitt eine Breite von etwa 28–35cm sowie eine Länge von etwa 150–700 cm auf (Malovic 2013: 55). Sie sind an beiden Enden mit Bambusstäben fixiert (Chakrabarti 2008: 16) - so können sie während der Rezitation bequem ein- und aufgerollt werden. Weiterhin sind sie vertikal in zehn bis fünfzehn rechteckige Paneele gegliedert, die während der Darbietung nacheinander zur Schau gestellt werden und jeweils singuläre Aufnahmen der parallel verlaufenden Erzählung zeigen (Bajpai 2014: 3). Die Zwischenräume sind dabei oftmals von floralen Mustern durchzogen, sogenannten bab, die an die Miniaturmalerei der Moguln erinnern (siehe Abb. 1 und 2) (Bhowmick 1995: 45).

3.1. Herstellung

Wie viele folkloristische Ausdrucksformen tragen die bengalischen Bilderrollen einen hohen ideologischen Wert, der weit über ihre bloße materielle Beschaffenheit hinausgeht - so präsentiert sich ihr Herstellungsprozess über die Dauer ihres Bestehens als höchst eingespieltes und ritualisiertes Gebilde, dessen einzelne Facetten wie Zahnräder ineinander verzahnt sind:

Zur Herstellung der Malunterlage werden mehrere Papierlagen auf eine Leinenschicht appliziert (Bajpai 2014: 3), mit gekochtem Reislehm zusammenklebt und durch die Bearbeitung mit einem Mörser stabilisiert (Malovic 2013: 57). Anschließend wird der Papierstreifen durch sorgfältiges Ein- und Ausrollen in die richtige Form gepresst (Korom 2006: 41). Nach einer Trocknungsphase wird die zu bemalende Fläche mit einer Mischung aus Kalk und Reislehm bestrichen, auf die im Folgenden die Konturen mit einer speziellen, aus Lackschildläusen gewonnenen roten Farbe (āltā) aufgetragen werden (Malovic 2013: 57). Im nächsten Schritt werden die Farben in ausgehöhlten Kokosnuss-Schalen angereichert, welche später als Palette dienen (Bajpai 2014: 3). Da zu deren Herstellung ausschließlich natürliche Pigmente verwendet werden, ist die Farbpalette des Paṭua -Stils klassischerweise auf sieben bis acht Farben limitiert: Gelb (aus Kurkuma), Grün (aus Blättern der Hyazinthe- Pflanze), Violett (aus Pflaumen), Weiß (aus Tonerde), Braun (aus Kalkstein), Rot (aus Terrakotta), Blau (aus blauen Samen - nil bori) und Schwarz (aus Ruß). Um diese Farben widerstandsfähiger zu machen, werden diese mit Kokosnussschalen, gemahlenen Tamarinde-Samen und Wasser, oder mit dem Saft des Margossa -Baumes sowie Eigelb gemischt (Bajpai 2014: 3). Sind die nötigen Vorkehrungen getroffen, so erfolgt nun anschließend die Koloration – hierfür werden feine Pinsel verwendet, die aus den Härchen von Eichhörnchenschwänzen hergestellt und mit Bambusstreifen umwickelt werden (Bajpai 2014: 3). Zunächst werden der Kopf sowie die Gliedmaßen gemalt, später dann feinere Details wie Schmuck oder Gewänder hinzugefügt und der Hintergrund ausgestaltet. In einem abschließenden, zeremoniellen Schritt werden nun die Konturen mit schwarzer Farbe nachgezogen und das abgeschlossene Werk mit einer Lackschicht überzogen (Malovic 2013: 58).

3.2. Frühe Funktionen und Aufführungspraxis

Worin aber genau besteht nun die Performance und was war ihre Funktion? In seinen Ursprüngen trug der Brauch, mobile Bilderrollen anzufertigen, mit diesen umherzuziehen und deren Inhalt vor größeren Menschengruppen gesanglich zu rezitieren, vor allem eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Der ländliche Kern des heutigen Westbengalen war damals ein Flickenteppich verschiedenster, in sich geschlossener landwirtschaftlicher Siedlungen, die in einem hohen Grade isoliert waren. Diese städtischen Kulturen lebten mehrheitlich von Subsistenzwirtschaft und schafften es nur selten, intensiven Kontakt zur Außenwelt aufrecht zu erhalten. Dort nun, wo eine ungebildete und vorwiegend analphabetische Bevölkerung nach dem Wissen um die Außenwelt durstete, welche ihr bisher verborgen geblieben war, da vermochten es die Paṭua, mit ihren Rollbildern ein unentbehrliches Kommunikations- und Bildungsmedium zu etablieren (Sengupta 2012: 9; Malović 2013: 54). Die leichten und mobilen Rollen erlaubten es nämlich, einmal angefertigt, ohne große Mühe von Dorf zu Dorf zu ziehen (Korom 2006: 64) und dem Publikum bewegte und unterhaltsame Unterrichtsstunden zu bieten, die ihre angenommenen Bildungslücken um die indische Kultur überwinden sollten. Die Stärke dieser Praktik lag dabei vor allem darin, dem Volk durch die Symbiose von Gesang und Bild selbst komplexe Gegenstände auf spielerische und leicht verständliche Weise zugänglich zu machen.

Anders als heute nahm das Rollbild keine autonome Rolle in der Welt der Künste ein – trotz seiner farbenprächtigen Ausgestaltung war es nicht mehr als Hilfsmittel in einem pädagogischen Prozess (Malović 2013: 55), ein Schulbuch zur Begleitung des Lehrers (Bhowmick 1995: 45), eine lingua franca zur Vernetzung kulturell und ethnisch auseinanderklaffender Bevölkerungsgruppen (Sengupta 2012: 9) – es trug somit außerhalb von der Vorführung keine eigenständige Funktion: vielmehr war es die Narration, die als glänzende Disziplin galt. Die Vorführung war es auch, die den Paṭua erlaubte, ihren Lebensunterhalt zu behaupten - nicht etwa der Verkauf der Bilderrollen, die - im Gegenteil - meist so lange verwendet wurden, bis sie unbrauchbar wurden und ersetzt werden mussten (Malović 2013: 55).

Wie also ist eine solche Vorführung charakterisiert? Der Bildrollenkünstler, meist allein, ist vor dem Publikum positioniert – dabei fällt seine Wahl vorwiegend auf Hindubauern, von denen er sich kurz nach der Erntezeit den größten Ertrag erhofft (Hauser 2002: 108). Die Hände des Künstlers umklammern die langen Bambus- oder Holzstäbe, die an beiden Seiten der Rolle angebracht sind. Während der Vorführung wird er das Bildmaterial an den beiden Enden ein- und ausrollen, sodass immer nur diejenige Szene der Bildsequenz sichtbar wird, die gerade erläutert wird (siehe Abb. 3) (Varadpande 1992: 120). Nun stimmt er seinen Gesang an, den gitika. In seltenen Fällen wird er dabei von einer Trommel, dem dugdugi oder anderen Windinstrumenten wie der Flöte oder dem Harmonium begleitet - meistens erklingt der Gesang jedoch für sich (Bajpai 2014: 4).

Ein solches Liedstück lässt sich grob in drei Abschnitte einteilen: Der erste Teil, kahini, widmet sich der thematischen Einführung in die Erzählung und dient im Wesentlichen dazu, Spannung aufzubauen. Hier wird ein Erzählgegenstand meist nur wiedergegeben, ohne das Geschehen wertend zu kommentieren. Dieser Teil wird gekrönt von dem nächsten Abschnitt, dem māhātmya, dem glänzenden Hochpunkt der Geschichte. Zumeist wird hier anhand der zuvor geschilderten Thematik ein moralischer Imperativ ausgesprochen. Der letzte Teil, bhaṇita, ist für die orale Signatur des Künstlers reserviert: Durch den Ausruf seines Namen, seines Dorfes, sowie der dort beheimateten Polizeistation nimmt sich der Künstler den Freiraum zur Personalisierung seines Werkes (Bajpai 2014: 3).

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Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Rollbilder der Patua. Entwicklung der folkloristischen Ausdrucksform zur indischen Volkskunst
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Institut für Orient- und Asienwissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
25
Katalognummer
V356717
ISBN (eBook)
9783668427211
ISBN (Buch)
9783668427228
Dateigröße
1230 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Patua Pat Folklore Kunst Indien Rollbild Bilderolle
Arbeit zitieren
Alice Rogovoy (Autor:in), 2016, Die Rollbilder der Patua. Entwicklung der folkloristischen Ausdrucksform zur indischen Volkskunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/356717

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