Lagos und der informelle Sektor - zwischen Segregation, Dekolonisation und Strukturanpassungsprogrammen


Dossier / Travail de Séminaire, 2004

22 Pages, Note: 1-

Anonyme


Extrait


Inhalt

I. Einleitung

II. 1. Lagos: Entstehung
2. Krankheit, Wohnungsnot und Armut im „viktorianischen“ Lagos
3. Politische Maßnahmen der Kolonialherren
4. Armut im Kontext von Segregation und Elitenförderung
5. Bildung – Parteigründung – Unabhängigkeit
6. Der informelle Sektor im unabhängigen Lagos

III. Schlussbetrachtung und Ausblick

IV. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Der afrikanische Kontinent ist besonders seit Mitte des 21. Jahrhunderts von einer massiven Urbanisierung geprägt, die sich heute in einer Vielzahl von sogenannten „Megacities“ bemerkbar macht. Eine Folge dieser weitgehend unregulierten Verstädterung ist der alles überragende sogenannte „informelle Sektor“- ein zusammenfassender Begriff für überwiegend kleinbetrieblich oder familiär organisierte Arbeit in Produktion und Handel, die "zumeist staatlich wenig reguliert oder statistisch erfasst" ist.[1] Der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde dieser von Keith Hart geprägte Begriff durch eine Studie der "International Labour Organisation" (ILO) über Kenia, publiziert 1973.[2] Ein einfacher Zutritt für Neuankömmlinge, die Nutzung vorwiegend einheimischer Ressourcen, eine hohe Arbeitsintensität, eine lokalen Gegebenheiten angepasste Technologie sowie ein unregulierter und daher wettbewerbsintensiver Markt sind weitere entscheidende Kennzeichen des informellen Sektors.[3]

Ein herausragendes Beispiel stellt in diesem Zusammenhang Lagos dar, eine Stadt vorkolonialen Ursprungs, die allerdings rasch Kontakte zu Europa hatte. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung des informellen Sektors in Lagos: Es soll untersucht werden, inwiefern sich die Lebensbedingungen der Stadtbevölkerung vor dem Hintergrund kultureller und ökonomischer Gegebenheiten sowie politischer Maßnahmen der Stadtregierungen verändert haben. Leitlinie soll dabei die Zeit zwischen der Britischen Annexion 1861 und der Einführung der Strukturanpassungsmaßnahmen 1986 darstellen.

Nach einem Grundriss der Entstehungsgeschichte folgt eine Untersuchung der Lebensbedingungen im „viktorianischen“ Lagos sowie die sich darauf auswirkenden politischen Maßnahmen und Leitlinien der Kolonialherren. Dem gegenüber gestellt werden soll die Entwicklung des informellen Sektors in Lagos nach der Unabhängigkeit. Dabei soll es hier weniger um eine Schuldzuweisung an einzelne Administrationen gehen, als eher um die historische Einordnung des informellen Sektors in die Geschichtswissenschaft des urbanen Westafrikas, die die Analyse der Lebensbedingungen der unteren Schichten – und damit der Mehrzahl der Bevölkerung - bislang vernachlässigt hat.

Überhaupt nimmt sich die Forschungs- und Literaturlage geschichtswissenschaftlicher Werke zu Lagos recht dünn aus. Noch immer kann die Arbeit der Soziologin Margaret Peil über Lagos als Standardwerk angesehen werden.[4] Wegweisend für die Betrachtung der Armut und der Lebensbedingungen der gemeinen Bevölkerung Afrikas und zentral auch für diese Arbeit ist die Darstellung John Iliffes.[5]

II. 1. Lagos: Entstehung

Lagos entstand ursprünglich als Fischer- und Bauernsiedlung und wurde seit dem 15. Jahrhundert von Awori Yoruba besiedelt, die - gemäß mündlicher Überlieferung - von Iseri aus flußabwärts des Ogun zunächst Ido besiedelten und später auch den natürlichen Schutz des heutigen Lagos Island ausnutzten.[6] Wahrscheinlich im frühen 16. Jahrhundert wurde Lagos durch das Königreich Benin erobert. Dennoch gewährte Benin den lokalen Chiefs (Obo) weitgehende Autonomie, jedoch musste der Oba von Lagos dem Oba Benins Tributzahlungen entrichten, die bis ins 19. Jahrhundert reichten, im Laufe der Zeit allerdings immer geringer und symbolischer ausfielen.[7]

Einen massiven Bedeutungsumschwung erhielt Lagos letztendlich durch den Handel mit den europäischen Seemächten. Seit den 1760er Jahren sind Handelsbeziehungen zunächst mit Portugiesischen Händlern, aber wenig später auch zu Frankreich und Großbritannien nachgewiesen.[8] Haupthandelsgut waren Sklaven, die aus weit entfernten Gegenden herangeschafft wurden, so unter anderem aus Benin im Osten oder den Königreichen Oyo und Dahomey. Das Königtum von Dahomey allerdings versuchte seinen Sklavenhandel über andere Hafenstädte wie Ouidah abzuwickeln, was wiederholt kleinere Handelskriege nach sich zog.[9] Diese Kriege und weitere Kriege im Hinterland von Lagos, verstärkt seit den 1820er Jahren ausgetragen, sorgten letztendlich selbst für "Nachschub".[10] Im Verlauf dieser Kriege wurden Konkurrenzstädte wie Badagry und Porto Novo zerstört.

Dank seines natürlichen Hafens und einer überaus günstigen strategischen Lage wurde Lagos rasch zum überregionalen Hauptumschlagsplatz für Sklaven, aber auch für andere "Güter" wie Tuch oder - in geringerem Maße - Elfenbein aus Oyo und Ijebu. Nach dem Verbot des Sklavenhandels durch zunächst Frankreich 1826 und dann auch Großbritannien 1834 erwies sich das unübersichtliche und weitverzweigte Lagunensystem von Lagos als prädestiniert für illegalen Sklavenhandel, den andere Hafenstädte wie Ouidah so nicht bieten konnten.[11] Nachdem Großbritannien Lagos 1851 erobert hatte und es 1861 als Kronkolonie in das britische Kolonialreich eingegliedert war, wurde der Sklavenhandel schließlich rigoros bekämpft. Dominierende Exportgüter wurden nun Palmöl und andere Forstprodukte, deren Exportanteil bis 1900 auf 80 Prozent anstieg.[12] Herangeschafft wurden diese Güter wie auch Elfenbein und Bekleidung oft aus dem unmittelbaren Hinterland. Als günstige Lagerhallen erwiesen sich hier die bereits vorhandenen barracoons, die ursprünglich als Speicher für die auf ihre Verschiffung wartenden Sklaven erbaut worden waren.[13]

Um 1860 hatte Lagos eine für die gesamte Region vergleichsweise geringe Bevölkerungszahl von 25.000 Einwohnern, gegenüber der größten Stadt Sokoto mit 120.000 Einwohnern.[14] Durch die Präsenz der Briten stabilisierte sich die politisch- ökonomische Stellung von Lagos und zog so die Einwanderung von zahlreichen, oft überdurchschnittlich gebildeten Afrikanern nach sich. Viele dieser Neuankömmlinge waren freigelassene Sklaven, die zu großen Teilen aus Sierra Leone, Brasilien und Kuba stammten. Befreite Sklaven aus Sierra Leone taten sich nun als Kaufleute hervor und lösten damit vor allem brasilianische Händler ab, die das Verbot des Sklavenhandels nicht durch andere Handelsaktivitäten kompensieren konnten.[15] Die weit größte Zahl ehemaliger Sklaven machten allerdings die "Brasilianer" aus, die jedoch seltener kaufmännisch als meist eher handwerklich ausgebildet waren. Von etwa 37.500 Lagosiern um 1880 stellten die "Brasilianer" etwa 3.221 Einwohner, während die Zahl der "Sierra Leoner" 1.500 betrug.[16] Trotz ihrer vermeintlichen Armut, die zumindest kurzfristig durch das Loskaufen entstand, schufen sich diese befreiten Sklaven rasch eine ökonomische Grundlage und nahmen später zum Teil wichtige Rollen im Wirtschaftsleben von Lagos ein. Besonders hilfreich erwiesen sich hier wohl europäische Ausbildung und Qualifikationen, die mit traditionellen Kenntnissen und Fertigkeiten einhergingen.

Die Zahl der Europäer in Lagos blieb in den ersten fünfzig Jahren der britischen Herrschaft sehr klein. Der Zensus von 1881 verzeichnete lediglich 111 weiße Einwohner, deren Zahl sich auch noch bis 1901 auf nicht mehr als 308 anhob.[17]

Krankheit, Wohnungsnot und Armut im "viktorianischen" Lagos

Insgesamt waren schon 1891 etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Lagos im Handel tätig.[18] In dieser Zeit prosperierte die städtische Wirtschaft mit teilweise massiven Zuwachsraten.[19] Doch bedeutete dies keineswegs, dass Armut damit nur noch eine Randerscheinung darstellte. Die Arbeitsbedingungen für unqualifizierte Tätigkeiten Abseits des Großhandels verbesserten sich nicht signifikant. So hatten die etwa 1000 Fischer und ihre Familien im überfüllten Offin-Viertel, obwohl in Lohn und Brot und ohne Nahrungsprobleme, eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten von Lagos zu verzeichnen.[20] Zurückzuführen ist dies vor allem auf ungenügende Hygienebedingungen. Krankheiten wie Durchfall und Ruhr bedeuteten so die logische Konsequenz für die arme Bevölkerung. Doch ging die wohl größte Gefahr von Moskitos aus, die sowohl Malaria als auch Gelbfieber übertragen. Sumpfiges Terrain und regelmäßige Überflutungen der zu nahe am Wasser gebauten Wohnquartiere boten eine perfekte Lebensumgebung für diese Mückenart. Außerdem trugen höchst unhygienische traditionelle Bestattungsbräuche zu den katastrophalen sanitären Bedingungen bei. So begruben die Bewohner von Lagos ihre Verwandten meist in sehr flachen Gräbern direkt hinter dem Haus, was die Trinkwasserzufuhr durch den flachen Meeresspiegel nachhaltig verderben konnte.[21]

Besonders Lagos wurde so dem für Westafrika geltenden Ruf als "White Man's Grave" mehr als gerecht. Wenngleich sich die Lebensbedingungen für Europäer meist günstiger als für die Mehrzahl der einheimischen Bevölkerung darstellten, so lag die Todesrate der europäischen Bevölkerung immer noch etwa dreimal so hoch wie die in London.[22]

[...]


[1] Bass, Hans / Wauschkuhn, Markus (2003): Informeller Sektor, in: Mabe, Jacob: Das Kleine Afrika-Lexikon, Stuttgart (Metzler), S. 78.

[2] Fapohunda, Olanrewaju J. (1985): The Informal Sector of Lagos. An inquiry into urban poverty and employment, Lagos (University Press), S. 1.

[3] Bass, S. 79.

[4] Peil, Margaret (1991): Lagos. The City is the People, London (Belhaven).

[5] Iliffe, John (1987): The African Poor. A History, Cambridge (Cambridge Univ. Press).

[6] Law, Robin (1983): Trade and politics behind the slave coast: the lagoon traffic and the rise of Lagos, 1500 - 1800, in: Journal of African History, 24 (1983), S. 321 - 348. S. 327.

[7] Peil, The City is the People, S. 6.

[8] Law, S. 345.

[9] Law, S. 345 ff.

[10] Eckert, Andreas (2003): Lagos im 20. Jahrhundert. Informalität als urbanes Prinzip, noch unveröffentlicht, S. 3. Es bleibt zu untersuchen, in wie weit das Bedürfnis nach immer mehr Sklaven einen Auslöser dieser Kriege darstellte.

[11] Eckert, S. 3.

[12] Elegbede-Fernandez, Abiola Dosumu (1992): Lagos : A legacy of honour, Ibadan (Spectrum Books), S. 63 - 64.

[13] Elegbede-Fernandez, S. 64.

[14] Abiodun, Josephine Olu (1997): The challenges of growth and development in metropolitan Lagos, in: Rakodi, Carole (1997): The urban challenge in Africa. Growth and management of ist large cities. Tokyo (UNU Press), S. 192 – 222, S. 195.

[15] Eckert, S. 4.

[16] Elegbede-Fernandez, S. 65. M. Peil geht sogar von 5 000 aus Brasilien kommende Sklaven aus. Vgl. Peil, The City is the People, S. 7.

[17] Baker, Pauline H . (1974). Urbanization and Political Change: The Politics of Lagos, 1917- 1967. Berkely (University of California Press.), S. 22.

[18] Iliffe, S. 164, Elegbede-Fernandez, S. 65.

[19] Siehe weiterführend S. 8 dieser Arbeit, außerdem Olukoju, Ayodeji (2000): The Cost of Living in Lagos 1914 - 1945, in: Anderson, David M./Rathbone, Richard (Hg.): Africa's Urban Past, Oxford/Portsmouth (Currey/Heinemann), S. 127.

[20] Iliffe, S. 164.

[21] Baker, S. 23.

[22] Baker, S. 23.

Fin de l'extrait de 22 pages

Résumé des informations

Titre
Lagos und der informelle Sektor - zwischen Segregation, Dekolonisation und Strukturanpassungsprogrammen
Université
University of Hamburg  (Neuere Geschichte)
Cours
Städte in Afrika: Urbane Traditionen und Strategien des Überlebens
Note
1-
Année
2004
Pages
22
N° de catalogue
V35723
ISBN (ebook)
9783638355506
ISBN (Livre)
9783656132134
Taille d'un fichier
562 KB
Langue
allemand
Mots clés
Lagos, Sektor, Segregation, Dekolonisation, Strukturanpassungsprogrammen, Städte, Afrika, Urbane, Traditionen, Strategien
Citation du texte
Anonyme, 2004, Lagos und der informelle Sektor - zwischen Segregation, Dekolonisation und Strukturanpassungsprogrammen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35723

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