Globales Lernen in entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten als Antwort auf globale Zukunftsfragen?

Chancen und Grenzen des Globalen Lernens am Beispiel von weltwärts


Bachelorarbeit, 2016

59 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmungen
2.1. Entwicklungspolitische Freiwilligendienste
2.2 Länder des Globalen Südens

3. Globales Lernen
3.1 Hintergrund: Theorien und weltweite Entwicklungen
3.1.1 Theorie der Weltgesellschaft
3.1.2 Globalisierung
3.1.3 Entwicklungen in der Weltpolitik
3.1.4 Bildungs- und Lerntheorie: informelles und non-formales Lernen
3.2 Konzepte Globalen Lernens

4. Globales Lernen im weltwärts-Programm
4.1 Programmgenese des weltwärts-Freiwilligendienstes
4.1.1 Entstehung und Entwicklung
4.1.2 Zielgruppe
4.1.3 Programmziele
4.1.4 Rückkehrarbeit
4.2 Auswirkungen des weltwärts-Programms auf das Globale Lernen
4.2.1 Wirkungsverständnis
4.2.2 Engagement nach dem Freiwilligendienst
4.2.3 Kompetenzerwerb durch freiwilliges Engagement
4.2.4 Auswirkungen des Auslandsaufenthalts auf die Persönlichkeits­entwicklung der Freiwilligen
4.2.5 Übergeordnete und gesamtgesellschaftliche Auswirkungen

5. Diskussion

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

Bachelor-Thesis

Globales Lernen in entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten als Antwort auf globale Zukunftsfragen?

Chancen und Grenzen des Globalen Lernens am Beispiel von weltwärts

November 2016

Diese Arbeit ist meinem Papa gewidmet, der sie Korrektur gelesen und ihr mit seiner Liebe zum Detail, seinem feinen Gespür für Sprache und mit kritischen Nachfragen den letzten Schliff verliehen hätte.

Du hast mir beigebracht, quer und kreativ zu denken, Dinge zu hinterfragen, nicht alles als gegeben zu akzeptieren und dabei doch den Humor nicht zu verlieren.

Ich habe noch so viele Fragen an Dich und bekomme keine Antworten mehr.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Die öffentliche Meinung über das entwicklungspolitische Freiwilligenprogramm weltwärts ist geteilt: Kritiker_innen betonen, das Programm sei für die jungen Menschen lediglich eine Möglichkeit, ihre Karriere voranzubringen, und Aus­druck des Wunsches nach einem besonders ereignisreichen Leben (vgl. Walther, 2013, S. 16). Nach Einführung des Freiwilligendienstes (FWD) weltwärts wurde unter Schlagzeilen wie „Egotrips ins Elend“ (Töpfl, 2008) über den Dienst berich­tet. Außerdem bedeute die Zunahme der Entsendungen innerhalb von drei Jahren (der Einführungsphase des Programms) auf 10.000 Freiwillige pro Jahr[1] mitunter eine Überforderung für die aufnehmenden Partnerorganisationen (vgl. Walther, 2013, S. 16). Fischer (2011) hingegen stellt fest, „[d]ie Haltung, dass gerade ent­wicklungspolitische Freiwilligendienste vornehmlich eine Saat sind, die erst nach dem eigentlichen Dienst aufgeht, ist weit verbreitet“ (Fischer, 2011, S. 61). Fest­zuhalten bleibt an dieser Stelle jedoch: Die Beliebtheit des weltwärts-Freiwilli­gendienstes (angesichts der großen Anzahl an Entsendungen ist davon auszuge­hen, dass der Dienst sich eines großen Zulaufs erfreut) impliziert auch eine gewis­se gesellschaftliche Relevanz. Diese Arbeit soll aber keine pauschale Antwort ge­ben, ob entwicklungspolitische Freiwilligendienste wie das weltwärts-Programm als gut oder schlecht zu betrachten sind. Vielmehr wird der Blick darauf gerichtet, worin diese „Saat“ (ebd.) besteht.

Bei der Online-Recherche sowie in der einschlägigen Literatur zu entwick­lungspolitischen FWD wird schnell deutlich: Das Stichwort „Globales Lernen“ scheint omnipräsent. Diese Lernform wird als Antwort auf die globalen Heraus­forderungen des 21. Jahrhunderts behandelt, wie sie schon im Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ 1972 formuliert wurden.[2] Ein erstes Konzept Globalen Lernens findet sich unter der Bezeichnung Global Education bei Pike und Selby (1988) bereits in den 1980er-Jahren, entwickelt in Großbritannien und Kanada (vgl. Richter, 2009, S. 26). In einer Publikation aus dem Jahre 2003 betont Selby in dem Konzept den ganzheitlichen Ansatz und die Interdependenzen von Gesellschaften, Ländern und Völkern auf sozialer, kultureller und ökologischer Ebene. Er sieht einen Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie der kognitiven, affektiven, physischen und spirituellen Dimension menschlichen Seins. Das Globale Lernen berühre demnach Themen wie Fragen nach Entwicklung, Frieden, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit sowie Nachhaltigkeit. (Vgl. Selby, 2003, S. 145). Das Konzept des Globalen Lernens soll an dieser nicht weiter ausgeführt werden, detailliertere Erläuterungen werden im Verlauf dieser Arbeit folgen.

Globales Lernen findet sich auch in den Umsetzungsrichtlinien des welt­wärts-Programms sowie in der Konzeption der Rückkehrarbeit wieder. Es kristal­lisiert sich als ein zentraler Inhalt des Freiwilligendienstes heraus. Inwiefern aber kann im entwicklungspolitischen FWD global gelernt werden bzw. globale Lern­prozesse angestoßen werden? Dieser Frage geht die vorliegende Arbeit anhand von Forschungsergebnissen, die in den letzten Jahren publiziert wurden, und Er­kenntnissen zu verwandten Themen nach.

Vor dem Einstieg ins Thema stellt sich nun noch die Frage, wie diese Arbeit in die Soziale Arbeit einzuordnen ist. In der Definition Sozialer Arbeit der International Federation of Social Workers (IFSW) und der International Association of Schools of Social Work (IASSW) werden als Ziele „[…] die Förderung des sozialen Wan­dels, der sozialen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts sowie die Stär­kung und Befreiung der Menschen […]“ (DBSH e. V., 2014, S. 1) benannt. Eines der Prinzipien um „[…] existenzielle Herausforderungen zu bewältigen […]“ (ebd.) sei dabei die „gemeinsame Verantwortung“ (ebd.). Betrachtet man diese Aspekte nun aus der Perspektive globaler Herausforderungen, die v. a. im Globa­len Süden negative Folgen verursachen, wird deutlich, dass diese Herausforderun­gen in das Aufgabenfeld der Sozialen Arbeit fallen. Denn in Anlehnung an die Theorie der Weltgesellschaft[3] kann „sozialer Zusammenhalt“ (ebd.) nicht (mehr) nur auf nationalstaatlicher oder gar regionaler Ebene betrachtet werden. Daraus resultiert also eine „gemeinsame Verantwortung“ (ebd.), die es für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu übernehmen gilt.

Heiner (2007) betrachtet den Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit dif­ferenzierter. Demnach „[...] sind manifeste individuelle Probleme der Lebensbe­wältigung und damit verbundene kollektive soziale Probleme ihrer Klientel“ (Hei­ner, 2007, S. 190) Gegenstand der Sozialen Arbeit. Heiner betont, dass nicht alle kollektiven sozialen Probleme zu individuellen sozialen Problemen würden. Erst wenn ein kollektives soziales Problem auch ein individuelles verursache, werde es zum Gegenstand Sozialer Arbeit. (Vgl. ebd.). Allerdings ergibt sich auf globaler Ebene nun die Schwierigkeit der räumlichen Trennung von Verursachung und Auswirkungen sozialer Probleme. Weiterhin ist von unserer Position im Globalen Norden aus wohl schwer zu beurteilen, ob die Menschen im Globalen Süden, z. B. aufgrund der Folgen der Globalisierung, auch individuelle soziale Probleme aus­bilden. Es könnte also z. B. das Streben nach immer mehr wirtschaftlichem Wachstum und Konsum als kollektives soziales Problem im Globalen Norden ver­ortet werden. Die Auswirkungen im Globalen Süden auf individueller Ebene las­sen sich wohl nur schwer messen bzw. zuordnen. Ein Zusammenhang zwischen kollektiven und individuellen sozialen Problemen kann hier jedoch angenommen werden: Betrachtet man z. B. den Klimawandel als Folge des hohen CO2-Aussto­ßes im Globalen Norden, woraufhin wiederum Regionen im Globalen Süden un­fruchtbar bzw. unbewohnbar werden und Menschen ihre Heimat verlassen müs­sen, ist ein individuelles soziales Problem wohl kaum von der Hand zu weisen. Und damit fallen globale Zukunftsfragen also auch angelehnt an Heiners Ausfüh­rungen in den Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit. An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Begriff des „Problems“, sei es nun kollektiv oder in­dividuell, ein Konstrukt ist, das schnell zu einer Zuschreibung werden kann.

Aus diesem Grund markieren in dieser Arbeit Anführungszeichen neben direkten Zitaten auch einen reflektierten Umgang mit Begriffen, die im allgemeinen Sprachgebrauch üblich sind, deren Inhalt bzw. Interpretation jedoch infrage ge­stellt werden kann, wie beispielsweise „Entwicklungsland“. Damit wird ausge­drückt, dass der Status „Entwicklungsland“ nicht als gegeben angenommen wer­den darf, sondern verschiedene Konstruktionen damit verbunden sind, welche erst im gemeinsamen Herstellungsprozess hervorgebracht werden.[4] In wörtlichen Zita­ten wird die originale Schreibweise beibehalten, um das Urheberrecht nicht zu verletzen. Es sei an dieser Stelle aber darauf hingewiesen, dass für einen reflek­tierten Umgang mit statischen Ausdrücken plädiert wird. Im Bemühen um eine gendergerechte Sprache findet der sog. Gendergap Verwendung. Auch in diesem Fall wird bei wörtlichen Zitaten die in den Quellen verwendete Schreibweise bei­behalten. Hervorhebungen sind kursiv gedruckt.

Der Einleitung dieser Arbeit folgen zunächst in Kapitel 2 Begriffsbestimmungen für entwicklungspolitische Freiwilligendienste und Länder des Globalen Südens. Kapitel 3 bildet den ersten großen Teil der vorliegenden Arbeit. Es führt zunächst in die Hintergründe des Konzeptes des Globalen Lernens sowohl auf theoretischer Ebene als auch auf der Ebene globaler, weltpolitischer Entwicklungen ein. In die­sem Zusammenhang werden Weltgesellschaft (Kap. 3.1.1), Globalisierung (Kap. 3.1.2), weltpolitische Entwicklungen (Kap. 3.1.3) und das informelle Lernen aus der Bildungs- und Lerntheorie thematisiert. Darauf folgt eine Einführung in Kon­zeptionen Globalen Lernens (Kap. 3.2). Kapitel 4 soll als zweiter Teil der Arbeit die Brücke zwischen Globalem Lernen und entwicklungspolitischen FWD schlagen. Dazu wird zunächst das weltwärts-Programm in seiner Entstehung und Entwicklung (Kap. 4.1.1) sowie dessen Zielgruppe (Kap. 4.1.2), dessen Pro­grammziele (Kap. 4.1.3) und dessen Konzept der Rückkehrarbeit (Kap. 4.1.4) er­läutert. In Kapitel 4.2 werden schließlich die Auswirkungen des weltwärts-Frei­willigendienstes auf das Globale Lernen analysiert. Nach einer kurzen Einführung in das Verständnis von Wirkung, das dieser Arbeit zugrunde liegt (Kap. 4.2.1), werden die Auswirkungen auf vier Ebenen dargelegt: Engagement nach dem FWD (Kap. 4.2.2), Kompetenzerwerb durch freiwilliges Engagement (Kap. 4.2.3), Auswirkungen des Auslandsaufenthalts auf die Persönlichkeitsentwicklung (Kap. 4.2.4) sowie übergeordnete und gesamtgesellschaftliche Auswirkungen (Kap. 4.2.5). Die gewonnenen Erkenntnisse aus dieser Arbeit werden in einer Diskussion nochmals kritisch betrachtet (Kap. 5), woraus dann ein abschließendes Fazit gezogen wird (Kap. 6).

2. Begriffsbestimmungen

Die folgenden Begriffsbestimmungen sind nicht als abgeschlossene Definitionen zu verstehen, sondern sollen das Begriffsverständnis, das dieser Arbeit zugrunde liegt, widerspiegeln. Die Erläuterung soll außerdem einen Beitrag zu einem re­flektierten Umgang mit statischen Ausdrücken leisten, wie in der Einleitung be­reits erwähnt.

2.1. Entwicklungspolitische Freiwilligendienste

Auslöser für die Entstehung der ersten FWD in Europa waren der Erste und Zwei­te Weltkrieg: „Internationale Friedensorganisationen und christliche Vereine orga­nisierten diese Freiwilligendienste, die in der Regel Kurzzeiteinsätze waren, um Kriegsschäden zu beseitigen“ (Walther, 2013, S. 10). Heute sind Freiwilligen­dienste nach Stemmer (2009)

„[…] Dienstverhältnisse innerhalb gemeinnütziger Organisationen, die im Zwischenbereich von Ehrenamt und (formalen) Bildungsange­boten angeboten werden. Sie sind mit obligatorischen Bildungsele­menten verknüpft und werden in Form freiwilliger Selbstverpflichtung von zumeist von (sic!) jungen (sic!) aber auch von älteren Menschen in Anspruch genommen“ (Stemmer, 2009, S. 5).

Dauer, Umfang und (finanzielle) Zuwendungen würden vertraglich zwischen Or­ganisation und Freiwilligen festgehalten und seien ggf. gesetzlich geregelt. Grundsätzlich werde die Tätigkeit im Rahmen eines FWD nicht vergütet, und die Dauer sei zeitlich begrenzt. (Vgl. ebd.).

Stemmer weist jedoch darauf hin, dass der Begriff des Freiwilligendienstes in den letzten zehn Jahren einen Wandel durchlief. Der Begriff werde heute weiter gefasst, was allerdings auch weniger Trennschärfe impliziere. Während der Be­griff bis Ende der 1990er-Jahre i. d. R. einen einjährigen Vollzeitdienst für junge Menschen beschrieben hätte, umfasse er heute Konzepte für verschiedene Alters­gruppen und von unterschiedlicher Dauer. Eine klare Unterscheidung von Freiwil­ligendiensten und anderen Formen Bürgerschaftlichen Engagements sei damit nur noch schwer möglich. (Vgl. Stemmer, 2009, S. 4 f.).

Fischer (2011) hingegen definiert Freiwilligendienste als „eine besondere Form des bürgerschaftlichen Engagements“ (Fischer, 2011, S. 54), die durch eini­ge spezifische Charakteristika gekennzeichnet ist. Dazu werden u. a. „[...] ver­bindliche, formal geregelte Rahmenbedingungen, eine Dienstdauer von mindes­tens drei Monaten, ein wöchentlicher Arbeitsumfang von mindestens 50 Prozent der tariflichen Wochenarbeitszeit, eine pädagogische Begleitung der Freiwilligen [...]“ (ebd.) gezählt.

Der inhaltliche Schwerpunkt einer Einsatzstelle ist häufig namensgebend für den FWD (vgl. ebd.). Ein Freiwilligendienst mit dem weltwärts-Programm[5] kann i. d. R. in allen Ländern absolviert werden, welche die OECD als „Entwick­lungsland“ einstuft (vgl. Stemmer, 2009, S. 22). Unter entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten wird demnach in dieser Arbeit ein FWD verstanden, der in einem solchen Land absolviert wird. Eine entwicklungspolitische Wirkung, ent­wicklungspolitisches Handeln o. Ä. sind diesem Ausdruck nicht per se inhärent.

Mit dem weltwärts-Programm wird derzeit die größte Anzahl von Freiwil­ligen pro Jahr entsendet[6], was für wissenschaftliche Studien eine große Stichpro­be bedeutet. Außerdem liegen allen Entsendungen – im Gegensatz zu privatrecht­lich geregelten FWD – einheitliche Konzepte und inhaltliche sowie strukturelle Rahmenbedingungen zugrunde. Der weltwärts-Freiwilligendienst bietet also eine einheitliche Basis auf konzeptioneller Ebene und gleichzeitig auch eine große Stichprobe, was für Studien mitunter eine größere Repräsentativität bedeutet. Aus diesem Grund wird der weltwärts-Freiwilligendienst als Beispiel für die Ausführungen der vorliegenden Arbeit gewählt. Wenn also von entwicklungspolitischen FWD die Sprache ist, sind darunter stets Entsendungen im Rahmen von weltwärts zu verstehen.

2.2 Länder des Globalen Südens

Mit dem weltwärts-Programm werden also Freiwillige in sog. „Entwicklungslän­der“ entsendet. In der einschlägigen Literatur finden sich viele unterschiedliche Bezeichnungen, um diese spezifischen Länder zu beschreiben, darunter „Entwick­lungsländer“ sowie „Länder des Globalen Südens“ oder die „Dritte Welt“.

Laut BMZ (o. J.) gibt es für den Begriff „Entwicklungsland“ keine einheit­liche Definition. Alle Länder, die unter diese Kategorie fielen, würden jedoch ge­meinsame Merkmale aufweisen. Darunter eine schlechte Versorgung mit Nah­rungsmitteln großer Teile der Bevölkerung, ein geringes Pro-Kopf-Einkommen, mangelnde Gesundheitsversorgung und damit einhergehend eine hohe Kinders­terblichkeitsrate sowie geringe Lebenserwartung, geringe Alphabetisierungsquote und hohe Arbeitslosigkeit. Der Lebensstandard insgesamt sei niedriger und Güter oftmals extrem ungleich verteilt. Eine hohe Verschuldung dieser Länder äußere sich in Kapitalmangel und außenwirtschaftlichen Problematiken. Der Entwick­lungshilfeausschuss der OECD (DAC) unterteilt die entsprechenden Länder nach Pro-Kopf-Einkommen in vier Kategorien. Mittel der Entwicklungszusammenar­beit von Geberländern können direkt oder indirekt durch Organisationen an die Länder der DAC-Liste[7] fließen. (Vgl. BMZ, o. J.). Aufgenommen in die Liste werden diejenigen Länder, die nach Kriterien der Weltbank ein niedriges oder mittleres Bruttonationaleinkommen haben (vgl. Walther, 2013, S. 8).

Die Bezeichnung „Dritte Welt“ wurde zwar weitgehend aus den fachlichen Diskursen verbannt, hält sich aber dennoch im Sprachgebrauch. Die Bedeutung des Begriffs „Dritte Welt“, der bereits in den 1950er-Jahren auftauchte, war ur­sprünglich eine politische: Die Staaten, die im Rahmen der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig wurden,

„[…] wollten sich nicht als Operationsfelder ideologischer und poten­ziell militärischer Konflikte [des Kalten Krieges] hineinziehen lassen. Die Vision einer Dritten Welt zwischen der westlich-kapitalistischen Ersten Welt und östlich-sozialistischen Zweiten Welt diente ihnen als politischer Kompass auf der Suche nach einer eigenständigen Rolle in der Weltpolitik“ (Nuscheler, 2012, S. 71).

Im Laufe der Zeit wurde der Begriff der „Dritten Welt“ nicht mehr trennscharf im Sinne von Blockfreiheit verwendet und „[…] mit der kolonisierten und unterent­wickelten Welt gleichgesetzt und damit […] mit der doppelten Bedeutung ange­füllt, die er bis heute behielt“ (ebd., S. 61).

Nuscheler (2012) merkt kritisch an, die Vielfalt der Begrifflichkeiten brin­ge keine Klarheit, sondern stifte eher Verwirrung. Die Bezeichnungen „Süden“ und „Norden“ bedeuteten nicht, dass sich die meisten der zugehörigen Länder auch tatsächlich hauptsächlich auf der Süd- oder Nordhalbkugel befänden. Die blockpolitische Einteilung in die drei Welten bestünde nicht mehr, dennoch habe sich die Bezeichnung der „Dritten Welt“ aus unterschiedlichen Gründen gehalten. Verschiedene internationale Organisationen würden immer wieder versuchen, den Stand der „Entwicklung“ der Länder zu messen. Dabei würden jeweils unter­schiedliche Faktoren herangezogen. Dennoch würden die verschiedenen Bezeich­nungen der Heterogenität der betreffenden Länder nicht gerecht werden, und eine negative bis abwertende Konnotation von „Entwicklungsland“ oder „Dritter Welt“ sei nicht von der Hand zu weisen. (Vgl. ebd., S. 71 ff.).

Um die negativen Konnotationen dieser Ausdrücke zu vermeiden, werden in dieser Arbeit also die Begriffe des „Globalen Südens“ und „Globalen Nordens“ verwendet, wie sie der Verein glokal e. V. (2013) definiert:

„Mit dem Begriff GLOBALER SÜDEN wird eine im globalen Sys­tem benachteiligte gesellschaftliche, politische und ökonomische Po­sition beschrieben. GLOBALER NORDEN hingegen bestimmt eine mit Vorteilen bedachte Position“ (glokal e. V., 2013, S. 8; Hervorh. i. Orig.).

Damit sollen unterschiedliche Erfahrungen bzgl. Kolonisation und Exploitation zum Ausdruck gebracht werden: Profitierende und Ausgebeutete. Im Gegensatz zu der hierarchischen und eurozentrischen Konnotation von „Entwicklungsland“ werde mit der Bezeichnung Globaler Süden und Norden der Fokus auf „[...] unter­schiedliche politische, ökonomische und kulturelle Positionen im globalen Kon­text [...]“ (ebd.) gerichtet. Eine geographische Lage sei aus den Begrifflichkeiten nur bedingt abzuleiten. (Vgl. ebd.).[8]

In der vorliegenden Arbeit geht es um entwicklungspolitische Freiwilligen­dienste im Rahmen des weltwärts-Programms. Unter Ländern des Globalen Sü­dens werden demnach die Länder der DAC-Liste gefasst, da weltwärts-Freiwillige nur in diese Länder entsendet werden. Dennoch wird die Bezeichnung „Entwick­lungsland“ des BMZ nicht übernommen, um die in diesem Kapitel angesproche­nen negativen Konnotationen und hierarchischen Abstufungen zu umgehen.

3. Globales Lernen

Bevor darauf eingegangen wird, was genau unter Globalem Lernen zu verstehen ist, werden in diesem Kapitel die wesentlichen Hintergründe des Konzeptes erläu­tert. Dazu gehören einerseits theoretische Überlegungen wie das soziologische Theorem der Weltgesellschaft (Kap. 3.1.1) und Erkenntnisse aus der Bildungs- und Lerntheorie zu informellem Lernen (Kap. 3.1.4), andererseits aber auch welt­weite politische, gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Entwicklungen der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte (Kap. 3.1.2 und 3.1.3). Ausgehend von diesem Hintergrundwissen werden schließlich in Kapitel 3.2 unterschiedliche Konzepte Globalen Lernens vorgestellt.

3.1 Hintergrund: Theorien und weltweite Entwicklungen

3.1.1 Theorie der Weltgesellschaft

Der Begriff der Weltgesellschaft wird in mehreren Schulen als „umfassendes Sys­tem menschlichen Zusammenlebens“ (Bornschier, 2008, S. 120) beschrieben (vgl. ebd.). Wobbe (2000) stellt in ihrer Einführung in den Diskurs um den Begriff der Weltgesellschaft unterschiedliche Ansätze vor und bezieht diese aufeinander. Ihr zufolge ist die Basis des Konzeptes, dass „[...] die Weltgesellschaft als ein umfas­sendes soziales System aufgefaßt (sic!) wird, das Nationalstaaten transzendiert und sich als eigenes Koordinatensystem über diese spannt“ (Wobbe, 2000, S. 6). Das System ließe sich daher nicht auf Nationalstaaten reduzieren (vgl. ebd.). Welt­gesellschaft impliziere die Existenz einer eigenen Dynamik,

„[...] die den Bezugshorizont für Interaktionen und Kommunikation darstellt. […] Die Vorstellung von der Weltgesellschaft beinhaltet also, daß (sic!) eine globale Ebene der Sozialorganisation existiert, die für individuelle und kollektive Akteure einen Erwartungshorizont bildet“ (ebd., S. 7).

Eine wichtige Gemeinsamkeit der in Wobbes Einführung vorgestellten Ansätze ist, dass sie die Weltgesellschaft als im Entstehen begreifen, als soziales System, um die moderne Gesellschaft angemessen erklären und beschreiben zu können (vgl. ebd., S. 8). Weltgesellschaft sei mehr als die Summe von Nationalstaaten: Sie bildet die Basis für „Strukturmuster, Normen und Regeln in einer globalen Di­mension“ (ebd., S. 13).

Nach Bornschier (2008) kann die Weltgesellschaft als ein besonderer Ty­pus angesehen werden, da sie nicht von einem Staat zusammengehalten wird. Sie sei eine „komplexe Gesellschaft auf globalem Niveau“ (Bornschier, 2008, S. 115). Neben sozialen Schichten wie sie auch in nationalen Gesellschaften auszumachen seien, kämen bei der Weltgesellschaft starke Machtunterschiede der einzelnen Staaten hinzu (vgl. ebd.).

Im Wandel des Völkerrechts mit Gründung der UN 1945 und der Ersten Erklärung der Menschenrechte sieht Bornschier eine entscheidende historische Veränderung im Hinblick auf die Entwicklung hin zu einer Weltgesellschaft. Mit der Menschenrechtserklärung werde „[…] der einzelne Mensch direkt zum Träger von Rechten und damit zum Rechtssubjekt in einer universalen Wertegemein­schaft […]“ (ebd.). (Vgl. ebd.). Bei der Weltgesellschaft könne jedoch nicht von einem administrativ-politisch konstituierten Gefüge gesprochen werden, da die einzelnen Staaten souverän seien und diese Souveränität auch behalten möchten. Dennoch seien „zunehmende Beziehungen zwischen Einzelnen und Gruppen“ (ebd., S. 119) auf globaler Ebene zu verzeichnen. (Vgl. ebd., S. 118 f.).

Seitz (2002) betont,

„[d]ie Leistungsfähigkeit der weltgesellschaftlichen Perspektive muss sich gerade darin erweisen, die Gleichzeitigkeit von integrierenden und fragmentierenden Prozessen, den Widerspruch zwischen der welt­weiten Diffusion kultureller Muster und fundamentalistischen Gegen­tendenzen, wie auch die Vertiefung der Entwicklungsdisparitäten als strukturelle Effekte der Weltgesellschaft analysieren zu können“ (Seitz, 2002, S. 106).

Unter Bezugnahme auf die Systemtheorie nach Luhmann[9] geht er davon aus, dass wir bereits in einer Weltgesellschaft leben. Sie sei kein Projekt, das erst noch rea­lisiert werden müsse. (Vgl. ebd., S. 102 f.).

[...]


[1] Die Zahl 10.000 wurde aufgrund des Regierungswechsels nach der Bundestagswahl 2009 und der damit einhergehenden (Um-)Verteilung der finanziellen Ressourcen nicht erreicht (vgl. Walther, 2013, S. 18).

[2] Als zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts wird im Bericht des Club of Rome von 1972 die Endlichkeit der Ressourcen und die Tendenz zu einem beschleunigten Wachstum for­muliert. Die Verantwortung für das Wachstumssyndorm läge v. a. im Globalen Norden, die ne­gativen Effekte jedoch im Süden. Die Studie untersucht „[…] die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsdichte, Nahrungsmittelressourcen, Energie, Material und Kapital, Umweltzerstö­rung, Landnutzung und so weiter“ (ebd.) anhand verschiedener Szenarien. Das Ergebnis aller Szenarien waren fatale Entwicklungen der Weltbevölkerung sowie des Lebensstandards. (Vgl. Meadows, 2009, o. S.).

[3] Die Theorie der Weltgesellschaft wird in Kapitel 3.1.1 näher erläutert.

[4] Im Falle der Bezeichnung „Entwicklungsland“ liegt außerdem eine Implikation von „Unter-“ bzw. „Fehlentwicklung“ nahe, die so nicht in dieser Arbeit übernommen werden soll. Nähere Ausführungen zur Verwendung dieses Begriffes finden sich in Kapitel 2.2. Der Entwicklungs­diskurs als solcher kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht ausgeführt werden. S. hierzu z. B. Ziai, A. (2010). Zur Kritik des Entwicklungsdiskurses. Aus Politik und Zeitgeschichte (10), 23-29.

[5] Das weltwärts-Programm wird in Kapitel 4.1 näher erläutert.

[6] Jährlich werden über 3.300 Freiwillige mit welwärts entsendet (vgl. uzbonn, 2016, S. 1).

[7] Für eine Übersicht über die DAC-Liste s. http://www.oecd.org/dac/stats/documentupload/DAC%20List%20of%20ODA%20Recipients%202014%20final.pdf (Zugriff am 22.08.2016).

[8] Dennoch ist bei der Verwendung der Begrifflichkeiten des Globalen Südens und Nordens zu bedenken, dass Assoziationen zur geographischen Lage nahe liegen.

[9] Für eine Vertiefung von Luhmanns systemtheoretischem Ansatz der Weltgesellschaft s. z. B. Luhmann, N. (2015). Die Gesellschaft der Gesellschaft (9. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhr­kamp.

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Globales Lernen in entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten als Antwort auf globale Zukunftsfragen?
Untertitel
Chancen und Grenzen des Globalen Lernens am Beispiel von weltwärts
Hochschule
Evangelische Fachhochschule Freiburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
59
Katalognummer
V358359
ISBN (eBook)
9783668435254
ISBN (Buch)
9783668435261
Dateigröße
787 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Globales Lernen, Entwicklnugspolitische Freiwilligendienste, Länder des Globalen Süden, globale Zukunftsfragen, weltwärts
Arbeit zitieren
Nora Schroeder (Autor:in), 2016, Globales Lernen in entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten als Antwort auf globale Zukunftsfragen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/358359

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