Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1.Das Volksmärchen – Aufbau und Struktur
2.Die Arten des Wolfes
2.1. Der große böse Wolf
2.2. Der dumme gierige Wolf
2.3. Der neutrale Wolf
3.Rotkäppchen und die Interpretationsmöglichkeiten des Wolfes
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der Wolf kommt in vielen Märchen der Welt vor und nimmt bei den meisten, in denen er eine Erwähnung findet, eine zentrale Rolle ein. Auch in den deutschen Märchen und besonders bei den Brüdern Grimm tritt der Wolf oft in Erscheinung. Dennoch hat er in der Forschung wie die meisten Tiere in Märchen noch keine große Beachtung gefunden. Zwar wird er bei Interpretationen von Märchen, wie Rotkäppchen mit einbezogen, wird dabei aber nur als Nebenrolle betrachtet und rückt nicht in den Mittelpunkt. Er wird als unterstützendes Interpretationsmittel verwendet, um andere Aspekte in den Märchen besser zu verstehen. Dabei wird der Wolf oft als das Böse angesehen, dass den Protagonisten Schaden zufügen will.
Diese Arbeit wird sich gezielt mit dem Wolf in den Märchen der Gebrüder Grimm befassen, um zu zeigen, dass es in den Märchen nicht nur den bösen Wolf gibt, sondern das der Wolf auch anders dargestellt wird. Das Augenmerk soll dabei auf den Kinder.- und Hausmärchen (im Folgenden mit KHM abgekürzt) liegen, in denen der Wolf eine größere Rolle einnimmt und das Geschehen mit beeinflusst. Märchen, in denen der Wolf nur eine kurze Erwähnung findet und Lügenmärchen werden nicht mit einbezogen.
Diese Arbeit ist wie folgt gegliedert: Im ersten Teil wird auf die Volksmärchen eingegangen und ein kurzer Blick darauf geworfen, wie diese aufgebaut sind. Da sich diese Arbeit auf die Darstellung des Wolfes in den Märchen der Gebrüder Grimm beschränkt wird sich die Betrachtung auf den Aufbau ebenfalls auf diese beschränken.
Im darauf folgenden Teil wird der Wolf in Mythologie und historischen Kontext betrachtet, um mögliche Grundlagen für die Darstellung des Wolfes im Märchen näher zu beleuchten. Danach wird der Wolf in ausgewählten Märchen genauer analysiert. Bei der Betrachtung des Wolfes wird dieser in drei Unterarten unterteilt: Der große böse Wolf, der dumme gierige Wolf und der neutrale Wolf.
Der letzte Punkt widmet sich dem Märchen Rotkäppchen und dessen Interpretationsmöglichkeiten des Wolfes um zu zeigen welche vielschichtige Bedeutung diese Darstellung mit sich bringt.
Mit dem Anspruch der Gestaltungsart des Wolfes auf den Grund zu gehen werden folgende Fragen geklärt: Welche Funktion nimmt der Wolf ein und in welcher Beziehung steht er zu den anderen Figuren? Wie wird er von den anderen Figuren gesehen und wie sieht er sich selber? Welche Interpretationsmöglichkeiten bietet der Wolf durch seine Darstellung in den Volksmärchen?
1. Das Volksmärchen – Aufbau und Struktur
Im Jahre 1807 begannen Jacob und Wilhelm Grimm, für Brentano die Märchen zu erforschen und aufzuschreiben. Als Brentano sich nach Erhalt der Unterlagen nicht wieder meldete und die Aufzeichnungen nicht zurück schickte, machten sich die Brüder Grimm, die sich zur Vorsicht eine Abschrift angefertigt hatten, selber daran an einem Märchenbuch zu arbeiten.[1] Die erste Ausgabe dieser Märchen erschien 1812 mit insgesamt 86 Märchen.[2] Danach folgten weitere Märchenbücher von den Brüdern Grimm. Noch zu Lebezeiten wurden die Ausgaben der Märchen mehrmals überarbeitet.
Das Wort Märchen stammt von dem mittelhochdeutschen Wort maere ab und bezeichnete eine kurze Erzählung.[3] „Wie andere Diminutive [Verkleinerungsformen] unterlagen sie früh einer Bedeutungsverschlechterung und wurden auf erfundene, auf unwahre Geschichten angewendet.“[4]
Die Märchen der Brüder Grimm werden als Volksmärchen bezeichnet, da die Vorstellung bestand, dass diese Geschichten mündlich von Genration zu Generation weitergegeben worden seien.
Die Handlung des Volksmärchens besteht aus einer Haupthandlung und weist keine Nebenstränge auf, dabei ist die Erzählung durchgehend im Präsens gehalten. Am Ende findet sich meist ein glückliches Ende für den guten Protagonisten und das Böse wird besiegt und findet meist den Tod. Genaue Ort und Zeitangaben gibt es in den Märchen nicht. Sie lassen sich damit auf keinen festen geografischen oder historischen Raum beziehen. Es finden in den Märchen keine Rückblicke oder Vorausdeutungen statt. Figuren in Volksmärchen sind wie die Handlung eindimensional gestaltet. Es gibt keine komplexen Figuren, die mehrere Charakterzüge in sich vereinen, sondern nur extreme. Entweder eine Figur ist rein gut oder sie ist rein böse. Selten haben die Figuren richtige Namen. Meist werden die Figuren nach einem äußerlichen Merkmal oder nach ihrem Beruf benannt.
Die Sprache, in der die Märchen gestaltet sind, ist ebenso einfach gestaltet, wie der Rest des Märchens. Es besteht fast nur aus Hauptsätzen und es kommt häufig zu Wort- oder Satzwiederholungen.
Während der Geschichte trifft der Protagonist meist auf magische Gegenstände, sprechende Tiere und mystische Wesen. Dabei werden diese übernatürlichen Mächte als selbstverständlich hingenommen und nie in Frage gestellt. „Diese Art der Normalität zwischen diesseitiger/alltäglicher und jenseitiger/überschreitender Welt ist ein typisches Merkmal der Märchengattung“[5] und findet sich auch in den Kunstmärchen wieder.
Die sprechenden Tiere können dem Protagonisten als Helfer, aber auch als Bedrohung gegenüber stehen. So helfen die Tauben in Aschenputtel dem Mädchen, indem sie ihr bei der Arbeit helfen und den Prinzen vor dem Betrug der Schwestern warnen. Der Wolf jedoch, der in „Rotkäppchen“ (KHM 26) und in „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ (KHM 5) erscheint, verkörpert das pure Böse, das den Protagonisten schaden will.
2. Die Arten des Wolfes
Der Wolf, der damals noch weit verbreitet war, fand bereits früh einen Weg in die Erzählungen der Menschen. „Für die Griechen war er das hl. Tier des Lichtgottes Apollon“[6] und in der römischen Mythologie säugte eine Wölfin die späteren Gründer Roms, Romulus und Remus.[7] Jedoch wird dem Wolf bereits in der Mythologie ein dunkler Charakter beigeschrieben. Er ist der Begleiter des römischen und des griechischen Kriegsgottes und in der persischen Mythologie ist er das Tier des Ahrimans.[8] In der germanischen Mythologie ist der Fenriswolf am Weltuntergang beteiligt und verschlingt den Göttervater Odin.[9] Desweiteren jagt der Fenriswolf oder eines seiner Kinder während des Ragnarök Sonne und Mond und verschlingt die Sonne. „Zwar wird Fenris von Odins Sohn Vidar erschlagen, aber seine wölfischen Nachkommen geben der Göttergemeinde den Rest. Auf der kalten und dunklen Erde bricht die Wolfszeit, das Ende der Welt, an.“[10]
Doch nicht nur in der Mythologie finden sich Geschichten über den Wolf.
„In diesem 30. Jahr sind Wölfe umgeloffen am Comer See; die hand die Lüt angefallen und Schaden tuon und in etlichen Dörfern die Kind erbissen und hinweg tragen[…]“[11]
Solche und ähnliche Ereignisse lassen sich in den Chroniken des 15. bis 18 Jahrhunderts lesen.[12] Der Wolf wurde zu Recht von den Menschen gefürchtet, denn er riss die Schafe und einige andere Tiere, die für den Menschen selber als Nahrungs- oder Ressourcenquelle dienten. Wenn zu viele Tiere von den Wölfen gerissen wurden, konnte dies den Hungertod für den Menschen bedeuten. Das der Wolf jedoch eine Bestie ist, die Menschen zerreißt, ist selbst für diese Zeit eher unwahrscheinlich. Dennoch finden sich genügend Erzählungen, in denen Wölfe Menschen anfallen, und nicht selten handelten die Geschichten im 18 Jahrhundert um kleine Mädchen, die von Wölfen verschleppt worden sind.[13]
Die Märchen konnten somit auf eine große Anzahl von Vorlagen zurück greifen, in denen es um den Wolf ging. In den meisten Vorlagen handelte es sich um böse Wölfe, die Menschen anfallen und somit ist es nicht verwunderlich, dass wenn man bei Märchen an den Wolf denkt, meist an den großen bösen Wolf denkt, so wie er bei KHM 26 in Erscheinung tritt. Doch gibt es nicht nur den bösen Wolf in den Volksmärchen der Gebrüder Grimm. Bei der Betrachtung der Kinder- und Hausmärchen lassen sich drei Arten des Wolfes herausstellen, die jedoch keine klaren Grenzen aufweisen, sondern auch in gemischter Form auftreten können.
2.1. Der große böse Wolf
Der große böse Wolf, der meist in heuchlerischer Liebenswürdigkeit auftritt, um kleine Kinder zu verführen, ist oft die erste Bekanntschaft von Kindern mit dem Bösen. Er tritt in Verkleidung auf, um seine Opfer zu täuschen, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie dann gierig zu verschlingen.
In KHM 5 treffen wir auf so einen Wolf. Die sieben Geißlein werden von ihrer Mutter in dem Wissen erzogen, dass draußen die Gefahr in der Gestalt des Wolfes lauert, und sie warnt sie davor nicht die Tür zu öffnen. Auch warnt sie davor, dass er sich verstellen könnte, um in das Haus zu gelangen.
„[…] ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut vor dem Wolf, wenn er herein kommt, so frisst er Euch alle mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an seiner rauhen Stimme und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn gleich erkennen.“[14]
Der Wolf wird von der Mutter klar als Bösewicht charakterisiert. Die raue Stimme steht im Kontrast zu der lieblichen Stimme der Mutter, die ihre Kinder behütet. Sie ist ein Zeichen für den wahren Charakter des Wolfes und verleiht ihm bereits ohne seine äußerliche Erscheinung etwas Furchteinflößendes. Die schwarzen Füße des Wolfes symbolisieren dessen Bösartigkeit und Schuld. Das Erkennen des Wolfes durch den schwarzen Fuß erinnert an den Teufel, der in Sagen oft in Verkleidung auftritt und an seinem Pferdefuß erkannt wird. Erst als er seine Füße durch Mehl unschuldig weiß färbt, gelangt der Wolf in das sichere Heim der Geißlein. Trotz aller Warnungen der besorgten Mutter und des Gehorsams der Geißlein gelingt es dem Wolf, das personifizierte Böse, ins Haus zu gelangen, um dort alle Geißlein, bis auf das Jüngste zu verschlingen.
„[…] denn das Ungetüm hatte sie in der Gier ganz hinunter geschluckt.“[15] Die Bezeichnung als Ungetüm weist daraufhin, dass der Wolf sehr groß und furchteinflößend sein muss. In den meisten Ausgaben der Grimm Märchen wird der Wolf auf den Bildern auch in einer ungeheuerlichen Größe gezeigt, die einem realistischen Wolf nicht entspricht.[16] Mit der Gier wird zum einem begründet, warum die sechs Geißlein noch in einem Stück sind, aber der Wolf wird damit auch klar charakterisiert. „Der Wolf symbolisiert die dunkle Macht des Materialismus nach Gehard Szonn die personifizierte Gier, dessen triebhaftes Verlangen so lange währe, bis er sein Ziel erreicht hat.“[17] Zum Schluss wird der Wolf von der Mutter noch als „gottloses Tier“[18] bezeichnet und wird damit deutlich als ein sündiges Wesen definiert, dass durch den Sturz in den Brunnen, für seine Vergehen bestraft wird.
Ein zweites Märchen, in dem der Wolf als der böse und listige Verführer Auftritt, ist Rotkäppchen (KHM 26). In dieser Geschichte wird das Kind nicht von der Mutter vor dem Bösen oder vor dem Wolf gewarnt. Es wird nur darauf hingewiesen den Weg nicht zu verlassen, damit es nicht fällt und das Glas zerbricht.[19] Diese Warnung gilt in erster Linie nicht Rotkäppchens Sicherheit, sondern der Sorge um die Großmutter, die krank im Bett liegt.
„Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht was das für ein böses Tier war und fürchtete sich nicht vor ihm.“[20] Der Wolf wird hier bei seinem ersten Erscheinen, von dem Erzähler als böse definiert. Rotkäppchen hingegen sieht das Böse in dem Wolf noch nicht. Es ist naiv und glaubt nicht daran, dass ihr Jemand etwas Böses will. Ohne einen Hintergedanken zu erwarten, liefert Rotkäppchen dem Wolf alle nötigen Informationen, um ihm die Möglichkeit zu verschaffen, sie und ihre Großmutter zu verschlingen. „Die größte Gefahr dem Bösen gegenüber besteht in der Naivität, die es nicht erkennt.“[21]
Die meisten bildlichen Darstellungen bis 1893 stellten das Mädchen mit dem Wolf im Wald dar.[22] „Grundsätzlich mimt der Wolf den >Vertrauenswürdigen< und erinnert deshalb zumeist eher an einen braven Hund, denn an ein gefährliches Raubtier.“[23] Das Bedrohliche des Wolfes kommt auf den Bildern erst durch seine Größe zustande, indem er auf Augenhöhe mit dem Kind ist oder es überragt.[24] Damit wird er genau wie der Wolf in den KHM 5 zu einem riesigen Ungetüm.
„Der Wolf dachte bei sich >> das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte: du musst es listig anfangen, damit du beide erschnappst<<“[25]
Der Wolf selber gibt hier einen Einblick in seinen Charakter. Listig will er sein, um sich Beide einzuverleiben. Listig ist nicht unbedingt eine schlechte Eigenschaft. Der Fuchs wird meist als ein listiges Tier bezeichnet, weil er klug handelt und weiß wie er Situationen zu seinem Vorteil nutzen kann.
[...]
[1] Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. 4 Aufl. Stuttgart: Reclam 2004. S. 80.
[2] Geister, Oliver: Kleine Pädagogik des Märchens. Begriff-Geschichte-Ideen für Erziehung und Unterricht. Mit 19 Märchen und zwei Beiträgen von Christian Peitz. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010. S. 28.
[3] Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2005. S. 1.
[4] Ebd. S. 1.
[5] Vgl. Elser, Bianca: Und wenn sie nicht gestorben sind… . Die Darstellung von Tieren in der Romantik anhand der Brüder Grimm und E.T.A. Hoffmann. Hamburg: Bachelor + Master Publishing 2013. S. 7.
[6] [Art.] Wolf. In: Wörterbuch der Symbolik. Hrsg. von Manfred Lurker. 5. Aufl. Stuttgart: Kröner 1991. S. 837.
[7] Vgl. Ebd. S. 837.
[8] Vgl. Ebd. S. 837.
[9] Vgl. Rudolf, Simek: Fenrir. In: Lexikon der germanischen Mythologie. 3. Aufl. Stuttgart. Kröner 2006. S. 92.
[10] Duve, Karen. Thies, Völker: Fenriswolf. In: Lexikon Berühmter Tiere. Frankfurt am Main: Eichborn 1997. S. 206.
[11] Schenda, Rudolf: Das ABC der Tiere. Märchen, Mythen und Geschichten. München: Beck 1995. S. 391.
[12] Vgl. Ebd. S. 392.
[13] Vgl. Ebd. S.392-393.
[14] Brüder Grimm Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 2009.S 50-51.
[15] Ebd. S 52.
[16] Z.B. die Illustration von Karl Fahringer (1874–1952)
[17] Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den <<Kinder- und Hausmärchen>> der Brüder Grimm. Entstehung - Wirkung - Interpretation. Berlin: de Gruyter 2008. S. 14.
[18] Brüder Grimm Kinder- und Hausmärchen. S. 53.
[19] Vgl. Ebd. S. 150.
[20] Ebd. S. 150.
[21] Lenz, Friedel: Bildsprache der Märchen. 7. Aufl. Stuttgart: Urachhaus 1992. S. 46.
[22] Freyberger, Regina: Märchenbilder - Bildermärchen. Illustrationen zu Grimms Märchen 1819-1945. Über einen vergessenen Bereich deutscher Kunst. Oberhausen: Athena 2009.S. 163.
[23] Ebd. S. 165.
[24] Vgl. Ebd. S. 165
[25] Brüder Grimm Kinder- und Hausmärchen. S. 151.