Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Andersens Kunstmärchen „Die kleine Seejungfrau“
2.1 Das Frauenbild im frühen 19. Jahrhundert
2.2 Die kleine Meerjungfrau als Weiblichkeitsideal
3. Die Verfilmung von
3.2 Die Figur Undine als moderne Variante der kleinen Seejungfrau
4. Fazit und didaktischer Ausblick
5. Literatur
1. Einleitung
Seit jeher scheint das Wasser und besonders das Meer eine ganz besondere Faszination auf die Menschen auszuüben: Schon seit Jahrtausenden erzählen sie sich Geschichten über Wesen die dieses Element bevölkern. Eins der ältesten schriftlichen Zeugnisse dieser Erzählungen ist die Odyssee, im 8. Jahrhundert v.Chr. vom griechischen Dichter Homer verfasst, die von singenden Sirenen berichtet. Das Kunstmärchen „Die kleine Meerjungfrau“ ist eine der bekanntesten Geschichten über die Welt der Wasserwesen. In meiner Ausarbeitung möchte ich mich mit diesem Märchen und ganz besonders mit dem Weiblichkeitsideal, welches darin vermittelt wird beschäftigen. Zunächst gehe ich kurz auf das vorherrschende Frauenbild in der Entstehungszeit des Märchens ein und zeige auf, wie sich dieses Ideal im Märchen und besonders in der Hauptfigur der kleinen Meerjungfrau widerspiegelt. Anschießend vergleiche ich die ARD- Verfilmung aus dem Jahr 2013 im Hinblick auf die Darstellung der Hauptfigur und ihre Vorbildfunktion mit der Märchenvorlage, bevor ich zum Schluss ein Fazit ziehe, in dem es auch um didaktische Möglichkeiten des Märchens und des Films gehen soll.
2. Andersens Kunstmärchen „Die kleine Seejungfrau“
Das Kunstmärchen „Die kleine Meerjungfrau“ wurde vom dänischen Schriftsteller Hans
Christian Andersen verfasst und 1837 zum ersten Mal veröffentlicht.[1] Das Märchen erzählt die Geschichte der jüngsten Tochter des Meerkönigs, die einem Prinzen das Leben rettet und sich in ihn verliebt. Um bei ihm zu sein und eine menschliche Seele zu bekommen, gibt sie ihr Leben unter Wasser auf und lässt ihren Fischschwanz durch einen Zaubertrank, den sie von der Meerhexe bekommt, zu Beinen werden. Als Preis dafür muss sie an Land große Schmerzen leiden und ohne ihre Stimme auskommen. Als der Prinz letztlich jedoch eine andere Frau heiratet, die er fälschlicherweise für seine Retterin hält, löst sich die Seejungfrau zur Meeresschaum auf und wird in einen Luftgeist verwandelt, sodass sie sich durch gute Taten vielleicht doch noch eine Seele erarbeiten kann.[2]
2.1 Das Frauenbild im frühen 19. Jahrhundert
Andersens Märchen ist stark von den bürgerlichen Wertvorstellungen seiner Zeit geprägt. Das eher gleichberechtigte Frauenbild, das mit den Bestrebungen der Frühaufklärung einherging, wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts wieder von einem ganz anderen Weiblichkeitsbild verdrängt.[3] Die Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen wurde verstärkt betont und die Frauen wurden ausschließlich auf das Emotionale beschränkt. Diese Einstellung nimmt also die „Denk-und Sprecherlaubnis [der Frauen][...] weitgehend zurück“[4]. Ein zentrales Argument der Vertreter dieses Verständnisses war es, dass die Unterschiedlichkeit der Geschlechter in der Natur begründet liegt.[5] Dadurch wurde die Arbeitsteilung, die den Frauen den reproduktiven, häuslichen und gesellschaftlich nicht anerkannten Bereich zuschreibt, als natürlich und dementsprechend nicht zu hinterfragen gerechtfertigt. Als wichtige Unterscheidungskriterien der Geschlechter werden „beim Manne die Aktivität und Rationalität, bei der Frau die Passivität und Emotionalität“[6] genannt. Die Frauen wurden also als oder sogar überhaupt nicht rational denkend eingestuft und ihnen wurde eine grundsätzliche „Unfähigkeit zu ‚hohen Wissenschaften‘“[7] zugeschrieben. Stattdessen wurde die Mutterrolle und die Aufgabe des Reproduzierens besonders betont, was gleichzeitig auch eine Hervorhebung der körperlichen Weiblichkeit mit sich zog. Unterlegt wurden diese Theorien durch die biologischen und anatomischen Erkenntnisse dieser Zeit. Beispielsweise wurde die geringere Muskelmasse der Frauen als Zeichen geringerer Willenskraft und geistiger Stärke interpretiert[8] und so die Unterordnung der eingeschränkten, schwachen Frau unter den autonomen, starken Mann gerechtfertigt. Rousseau sagt beispielsweise, dass schon kleine Mädchen sich an Zwang und Unterdrückung gewöhnen sollten. Das folgende Zitat fasst seine Einstellung treffend zusammen:
"Aus diesem gewohnheitsmäßigen Zwang entsteht eine Gefügigkeit, deren die Frauen ihr ganzes Leben bedürfen, da sie niemals aufhören, unterworfen zu sein, sei es einem Mann oder dem Urteil der Männer, und es ihnen nie erlaubt ist, sich über dieses Urteil zu erheben. Die erste und wichtigste Qualität einer Frau ist die Sanftmut"[9]
Als weibliche Ideale wurden Tugendhaftigkeit, Sanftmut, Passivität und die Beschränkung auf das häusliche Umfeld vermittelt.
2.2 Die kleine Meerjungfrau als Weiblichkeitsideal
Die Figur der kleinen Meerjungfrau wird von Andersen in vollkommener Übereinstimmung mit dem Weiblichkeitsideal seiner Zeit konstruiert.
Sie gibt sich ihrer Liebe zu dem jungen Prinzen uneingeschränkt hin und gibt alles für ein Leben an seiner Seite auf und stellt damit ihre Emotionen an allererste Stelle. Schon ganz am Anfang wird die äußerliche Schönheit der Meerjungfrau detailliert beschrieben: Sie hat „Haut [...] so fein und klar wie ein Rosenblatt, [...] Augen so blau die tiefste See“[10] und ist die schönste der sechs Töchter des Meerkönigs. Diese Betonung ihrer äußerlichen Merkmale entspricht dem oben beschriebenen Frauenbild. Die kleine Meerjungfrau wird als „sonderbares Kind, still und nachdenklich“[11] beschrieben. Bereits als Kind ist in ihr die Liebe zu den Menschen bzw. zu einem ganz konkreten Menschenmann angelegt: Sie verehrt das Mamorbild eines Jungen, der dem Prinzen ähnlich ist.[12] Ihre ganze Kindheit ist geprägt von der unstillbaren Sehnsucht nach der Menschenwelt und nach diesem unbekannten Mann.[13] Diese Darstellung passt zu der Argumentation, die Emotionalität von Frauen entspräche einem Naturgesetz, sind ihre Vorläufer doch schon bei der kindlichen Meerjungfrau deutlich zu erkennen.
Bei der Rettung des Prinzen, der nach einem Schiffsunglück zu ertrinken droht, begibt sich die Meerjungfrau selbstlos in Gefahr, um sein Leben zu retten. Sie schwimmt „zwischen Balken und die Planken, die auf der See tr[eiben], und verg[isst] völlig, daß diese sie [...] zerquetschen könn[ten]“.[14] Sie stellt das Leben des Prinzen über ihres und entspricht damit dem Bild der sich unterordnenden Frau. Um die Chance auf ein menschliches Leben an der Seite des Prinzen zu haben, gibt sie nicht nur ihre Familie und ihre Heimat sondern auch ihre Stimme auf. Dieses schmerzhafte Opfer könnte man als Verzicht auf ihr Recht auf Meinungsäußerung interpretieren. Sie tut, interessanterweise ohne von irgendjemandem dazu gezwungen zu werden, genau das, was die gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit von ihr erwarten: Sie gibt die oben erwähnte Denk- und Sprecherlaubnis freiwillig auf und nimmt sich selbst jede Möglichkeit zur Äußerung von Kritik, welche ihr ja nach Rousseau als Frau ohnehin nicht zusteht.[15]
Die Meerhexe schneidet der kleinen Meerjungfrau die Zunge ab, um ihr die Stimme zu nehmen, was sicherlich ein äußerst schmerzhafter Prozess ist. Als sie mithilfe des „brennenden, scharfen [Zauber]trank[es]“[16] ihren Fischschwanz in Beine verwandelt, wird der damit verbundene Schmerz sogar unmittelbar beschrieben: „Es war, als ginge ein zweischneidiges Schwert durch ihren feinen Körper; sie fiel dabei in Ohnmacht und lag wie todt da“.[17] Auch nach der Verwandlung hören die Schmerzen nicht auf; „jeder Schritt, den sie that, war [...] als trete sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer“.[18] All diese Schmerzen nimmt kleine Meerjungfrau klaglos hin, nur um an der Seite des Prinzen zu sein, auch wenn sie nicht einmal wissen kann, ob er ihre Gefühle erwidert.
Als sie dem Prinzen in Menschengestalt wiederbegegnet schlägt sie die Augen nieder, sobald er sie anschaut[19] und entspricht damit abermals der gesellschaftlichen Vorschrift, sich als Frau dem Mann unterordnen zu müssen. Diese Unterordnung wird auch vom Prinzen bald wahrgenommen und als Grund bzw. Voraussetzung seiner Zuneigung benannt. Er sagt, sie habe „das beste Herz und [...][sei ihm] am meisten ergeben“[20] und sei ihm deshalb am liebsten. Dass sie aber trotz seiner Vorliebe keineswegs mit ihm auf Augenhöhe ist wird dadurch deutlich, dass es einer besonderen Erlaubnis bedarf, damit sie „vor seiner Türe auf einem Samtkissen [...] schlafen“[21] darf. Sie wird von ihm nicht als gleichwertiges Gegenüber sondern eher wie ein liebes Haustier wahrgenommen. Doch diese demütigende Behandlung scheint sie nicht abzuhalten, sich weiterhin vollkommen für den Prinzen aufzuopfern, sagt sie doch wenig später selber: „Ich will ihn pflegen, lieben, ihm mein Leben opfern!“[22]
Und genau diese Ankündigung macht sie in der Nacht nach seiner Hochzeit wahr: Obwohl der Prinz eine andere Frau heiratet und ihr damit das Herz bricht, bleibt sie ihm gegenüber bis zum Schluss in Liebe ergeben und erträgt weiter in ungeteilter Sanftmut den körperlichen und nun auch seelischen Schmerz. Auch als ihre Schwestern ihr einen Dolch bringen und ihr damit die Möglichkeit geben, durch den Tod des Prinzen, der sie doch nur verletzt und enttäuscht hat, ihr eigenes Leben zu retten, gerät sie nicht ins Schwanken und wirft den Dolch ins Meer. Sie gibt freiwillig ihr Leben für seines, obwohl er ihr - wenn auch unwissentlich - nur Schmerzen zugefügt hat und ihre Liebe nicht erwidert. Sie geht in ihrer Liebe und Selbstaufgabe für ihn bis in den Tod und wird für diese völlige Hingabe mit der Aussicht belohnt, durch ihr Wirken als Luftgeist letztlich doch noch eine Seele erlangen zu können.
Versucht man die Intention des Märchens in Bezug auf das Frauenbild herauszuarbeiten, so könnte man zu folgendem Ergebnis gelangen: Die kleine Meerjungfrau ist klar als Vorbild konstruiert, als eine Frau die sich dem Weiblichkeitsideal völlig freiwillig unterwirft. Sie konzentriert sich einzig auf ihre Liebe zu einem Mann und ist ihm uneingeschränkt unterworfen. Sie hat keine Stimme, keine Möglichkeit zur Meinungsäußerung und geht trotz körperlicher Schmerzen, Demütigungen und Abweisung in ihrer aufopferungsvollen Hingabe klaglos bis zum Tod, wofür sie dann letztlich auch in gewisser Weise belohnt wird. Wichtig ist, dass sie zu alldem von niemandem gezwungen wird sondern aus freiem Willen ihr Leben unter Wasser und alle damit verbundenen Freiheiten aufgibt. Gerade im Hinblick auf die Erarbeitung des Märchens mit Grundschulkindern - insbesondere Mädchen, die sich leicht mit der Meerjungfrau identifizieren könnten - ist die Gesamtaussage des Märchens in jedem Fall kritisch zu hinterfragen, dazu aber im Fazit mehr.
3. Die Verfilmung von 2013
Im Rahmen der ARD-Märchenfilmreihe „Sechs auf einen Streich“ wurde das Märchen von der kleinen Meerjungfrau 2013 - interessanterweise unter Regie einer Frau - neu verfilmt und im Weihnachtsprogramm 2013 erstmals ausgestrahlt. Anders als die Disney-Version, in der die Meerjungfrau am Ende doch den Prinz heiratet, bleibt die Handlung des ARD-Films weitgehend nah an der Märchenvorlage. Der Prinz heiratet seine vermeintliche Retterin und die kleine Meerjungfrau Undine bringt es nicht übers Herz ihn zu töten. Sie wirft den Dolch, den ihre Schwestern ihr gebracht haben, ins Meer und geht gefasst dem Tod entgegen. An dieser Stelle weicht die Handlung nun doch vom Märchen ab: Undine löst sich nicht zu Schaum auf, sondern die Meerhexe verrät ihr, dass alles nur eine Prüfung war, die sie durch ihren Mut und ihre Liebe erfolgreich bestanden hat. „Eine Seele hat, wer wahrhaft liebt.“ Und mit ihrer menschlichen Seele, die sie sich durch ihr mutiges Handeln erarbeitet hat, darf Undine weiter als Mensch an Land leben und die Welt erkunden.
3.2 Die Figur Undine als moderne Variante der kleinen Seejungfrau
Auch wenn der Film, wenn man von den letzten Minuten absieht, auf den ersten Blick in seiner Handlung genau dem Märchen zu entsprechen scheint, gibt es doch einen ganz entscheidenden Unterschied: Die Figur der Undine ist eine ganz andere als die der kleinen Meerjungfrau in Andersens Märchen und dadurch wird auch die Aussage des Films eine völlig neue. Aus dem Vorbild für selbstgewählte Unterordnung wird ein Vorbild fürs Anders-Sein, ein Aufruf, den eigenen Weg zu gehen. Die Geschichte von weiblicher Hingabe wird zu einer Geschichte vom Erwachsenwerden.
[...]
[1] vgl. Lippert (2017) Z.1f.
[2] vgl. Wunderlich (2005)ohne Zeile
[3] vgl. Schößler (2008) S.23, Z.1-17
[4] ebd. S.23, Z.20f.
[5] vgl. ebd. S.22, Z. 23f. vgl. ebd. S.24 Z. 16ff.
[6] ebd. S.27, Z.32ff.
[7] ebd. S.32 Z.32f.
[8] vgl. ebd. S.32 Z.33ff.
[9] ebd. S. 27 Z.8ff.
[10] ebd. S.167. Z. 11ff.
[11] ebd. S.168, Z.8f.
[12] vgl. Andersen (1850) S. 168, Z.9ff.
[13] vgl. ebd. S.169, Z.14ff
[14] ebd. S.175, Z.10ff.
[15] siehe Zitat Kapitel 2.1
[16] Andersen (1850) S.185, Z.14f
[17] ebd. Z. 15f.
[18] ebd. Z.26ff.
[19] vgl. ebd. Z.18ff.
[20] ebd. S.187 Z.23f.
[21] ebd. S.186, Z.22f.
[22] ebd. S.188, Z.11f.