Eine raumbezogene Figurenanalyse von Schillers "Die Räuber" mit besonderer Berücksichtigung der Figur Spiegelberg


Dossier / Travail, 2015

22 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Bewegung im Raum
2.1. Bewegungsinszenierung im Nebentext
2.1.1. Raumbezogene Figurenanalyse anhand des ersten Positiogramms
2.1.2. Raumbezogene Figurenanalyse anhand des zweiten Positiogramms
2.2. Bewegungsinszenierung im Haupttext

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

5. Anhang

1. Einleitung

Schillers Drama „Die Räuber“ hat mich bereits in meiner Schulzeit fasziniert, sodass ich dieses mit Spannung schon mehrfach gelesen habe. Die Faszination wurde dabei vor allem dadurch bestärkt, dass man durch das erneute Lesen immer wieder auf neue bis dahin überlesene Details aufmerksam wurde. Diese eröffneten wiederum eine weitere ebenfalls bedeutungsvolle Ebene des Dramas, die bis dahin, wenn auch unbewusst, vernachlässig wurde. Eine meiner letzten Entdeckungen in diesem Zusammenhang, die meine Aufmerksamkeit auf die Räume dieses Dramas sensibilisiert hat, ist der offensichtliche Drang Schillers zu Symmetrie. Dieser erstreckt sich auf alle möglichen Ebenen des Dramas: Einmal sind es die Figuren, die als Spiegelbilder des jeweils anderen agieren.[1] Das andere Mal sind es die Räume[2], dessen symmetrische Abfolge die Konflikte und die Dynamik des Dramas verdeutlichen. Und manchmal sind es nicht nur die Figuren, die sich in den jeweils anderen wiederspiegeln, sondern auch die Räume, in denen sich diese Figuren bewegen[3]. Unweigerlich drängt sich also eine Reihe von Fragen auf: Werden die Figuren durch die Räume charakterisiert, in denen sie sich bewegen? Oder werden die Figuren schon durch einzelne Bewegungen, unabhängig von dem Raum, in welchem sie sich befinden, charakterisiert? Entsteht eine Diskrepanz zwischen den einzelnen Bewegungen der jeweiligen Figur und der Replik dieser? Oder unterstützen die Bewegungen das Gesagte und somit die Fremd- und/oder Eigenwahrnehmung der jeweiligen Figur?

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass, trotzt der von mir aufgezählten Fragen, die Problematik des Raumes in den verschiedenen Interpretationshilfen zu Schillers Drama „Die Räuber“ nicht thematisiert wird.[4] Diese Tatsache und die damit verbundene Möglichkeit unvoreingenommen in eine Analyse einzusteigen, hat mich im Endeffekt dazu motiviert eine raumbezogene Figurenanalyse zu schreiben. Alle diesen Fragen können aber im Rahmen solch einer Hausarbeit nur unter bestimmten Einschränkungen angemessen beantwortet werden. In erster Linie wird sich diese Untersuchung nur auf eine Figur des Dramas beziehen. Da Spiegelberg von der älteren Forschung eher vernachlässigt wurde und in dem Dreiergespann „die am wenigsten dramaturgisch ausgeführte Figur“[5] ist, lohnt es sich diese näher in Betracht zu ziehen. Darüber hinaus taucht Spiegelberg insgesamt nur dreimal im Drama auf, wobei nur der erste Auftritt für den Verlauf dieses von Bedeutung ist. Demnach wird sich die nachfolgende Untersuchung auf die, für die Entwicklung des Dramas ausschlaggebende, zweite Szene des ersten Aktes begrenzen. Um diese Szene aber raumbezogen untersuchen zu können, muss zunächst ein Beschreibungsmodus gefunden werden, der in der Lage ist, alle im Text vorkommenden Raumbewegungen zu erfassen. Mit anderen Worten muss man sich für eine der gängigen Modelle zur Dramenanalyse entscheiden. Eine der neusten Modelle, die sich vor allem durch textnahe und systematische Analyse von den anderen abhebt, ist das Modell von Hans Lösener[6]. Lösener ist außerdem einer der wenigen, der den Raum in dem Maße zur Beschreibung von Beziehungen und Konflikten einbezieht. Im Vordergrund stehen dabei die Szenenanweisungen, die Abfolge der Handlungsorte und die Bewegungen im Raum. Da aber die Szenenanweisung in diesem Drama eher eine untergeordnete Rolle spielt und die Abfolge der Handlungsorte durch die oben getroffenen Eingrenzungen auch irrelevant wurde, sind für diese Untersuchung nur die Bewegungen im Raum ausschlaggebend.

Ein letzter aber für mich nicht weniger wichtiger Punkt sollte nochmals hervorgehoben werden. Zentral für diese Untersuchung ist allein der Text, der unabhängig von der Sekundärliteratur und anderen Texten Schillers unvoreingenommen untersucht wird. Daher ist es nur selbstverständlich, dass ich mich, soweit es mir möglich war, von der gängigen Sekundärliteratur zu distanzieren versucht habe. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es genügend Autoren gibt, die sich vor mir die gleichen Fragen gestellt und möglicherweise sogar die gleichen Antworten darauf bekommen haben. Genau von diesen Autoren möchte ich mich umso mehr distanzieren, damit ich die Antworten eigenständig anhand des Textes und nicht anhand der Hinweise in der Sekundärliteratur ermittle. Das eher knapp ausgefallene Literaturverzeichnis soll einen daher nicht wundern.

2. Die Bewegung im Raum

Wie in der Einleitung geklärt, übernehme ich bei der Analyse der zweiten Szene die Vorgehensweise von Lösener, der die Bewegungsinszenierung von „Kabale und Liebe“ auf zwei Ebenen untersucht: die Bewegungsinszenierung im Neben- und Haupttext.[7] Doch bevor ich ausführlich auf diese beiden Ebenen eingehen kann, müssen zwei weitere für die Analyse wichtige Faktoren hervorgehoben werden.

Erstens werden der Raum und die Bewegung im Raum durch den Text inszeniert. Hieraus folgt auch die Unterteilung in den Nebentext (Regieanweisungen) und den Haupttext (Zusammenspiel der Repliken). Dabei geht es aber nicht allein darum, „wie oder wohin sich eine Person bewegt, sondern vor allem darum, wie sich durch diese Bewegung die Beziehungen zu den anderen Personen verändert und welche Auswirkungen die Veränderungen auf die Wirkungsweise der einzelnen Repliken, der Dialogsequenzen oder der Szenen haben“[8]. Dementsprechend darf, zweitens, eine Bewegung nicht isoliert betrachtet werden, d.h. sie muss „im Zusammenhang mit den Bewegungen der anderen Akteure, aber auch in Bezug auf die anderen Inszenierungsgrößen, also vor allem in Bezug auf Körper- und Sprachhandlung, die die begleiten, gesehen werden“[9]. Nicht nur die Bewegung, sondern auch die Körpersprache und das Gesagte werden also bei dieser Analyse herangezogen und auf eine mögliche Diskrepanz untersucht.

2.1. Bewegungsinszenierung im Nebentext

Die Zahl der sich auf der Bühne befindenden Personen steigert sich im Laufe der Szene enorm[10]. Durch die hohe Anzahl an Menschen ist die Szene auch durch eine hohe Dichte an Bewegungen geprägt. Um in dieser hohen Anzahl an Bewegungen die Übersicht zu behalten, habe ich die Szene mit Hilfe des Positiogramms, wie es Lösener bezeichnet[11], in zwei Bewegungssequenzen geteilt. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es der Szene nach viel logischer wäre, diese in drei Bewegungssequenzen zu teilen. Die erste Bewegungssequenz würde dann das Verhalten von Spiegelberg und den Anderen während der Anwesenheit Karls darstellen. Die zweite Bewegungssequenz würde demzufolge das Verhalten der besagten Figuren während Karls Abwesenheit wiedergeben. Die dritte Bewegungssequenz würde schlussendlich das Verhalten der Gleichen nach dem erneuten Auftreten Karls charakterisieren. Um aber die Entwicklung des sich im Laufe der Szene verändernden Verhaltens von Spiegelberg und den Anderen genauer, im Ganzen, zu sehen, wurde die erste und die zweite Bewegungssequenz im ersten Positiogramm[12] zusammengefasst. Dabei wurden einige wenige Bewegungen zugunsten der Übersichtlichkeit nicht in das jeweilige Positiogramm übernommen. Diese werden aber im Laufe der Analyse im Zusammenhang mit anderen Bewegungen erwähnt und somit nicht unbeachtet gelassen.

2.1.1. Raumbezogene Figurenanalyse anhand des ersten Positiogramms

Die erste für die Figurenanalyse wichtige Bewegung dieser Szene, die deswegen auch in das Positiogramm übernommen wurde, ist das Aufspringen Spiegelbergs (1). Diese ist vor allem deshalb bedeutender als die davorliegenden, weil sie das von Spiegelberg mehrfach artikulierte Streben nach Aktivität erstmals durch eine aktive Bewegung, das Aufspringen, stützt. Natürlich darf diese erste für die Figurenanalyse wichtige Bewegung, wie auch schon in der Einleitung des zweiten Kapitels hervorgehoben wurde, nicht isoliert, sondern muss im Kontext des ganzen Dramas betrachtet werden. So ist auch der auf den ersten Blick offensichtliche Kontrast zwischen Karl und Spiegelberg, der gleich am Anfang der Szene thematisiert wird und den Tatendrang Spiegelbergs durch den Kontrast zu Karl hervorhebt, erwähnenswert: Während Karl ein Buch weglegt, stellt Spiegelberg „ihm ein Glas hin und trinkt“[13]. Die Orientierung Spiegelbergs auf einfache, gegenwärtige Facetten des Lebens wird zusätzlich durch seine spöttische Reaktion[14] auf philosophische Gedankengänge Karls und seine Lektüreempfehlung unterstrichen. Die Lektüreempfehlung der Schriften des Flavius Josephus, „die vor allem wegen der detaillierten Schlachtschilderungen Berühmtheit erlangte“[15], hebt den schon mehrfach erwähnten Drang Spiegelbergs nach Taten und Abenteuer erneut hervor. Diese Seite hat auch Karl an sich:

Nein, ich mag nicht daran denken! Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust und meinen Willen schnüren in Gesetzt. […] Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. […] – Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. (Er wirft den Degen auf den Tisch und steht auf.) (DR 17)

Mehr noch das impulsive Aufstehen und Werfen des Degens stimmt mit der beinahe melancholischen Stimmung Karls am Anfang der Szene nicht überein. Viel interessanter im Zusammenhang dieser Arbeit ist aber, dass, obwohl Karl doch mehr gemeinsam mit Spiegelberg hat als anfangs gedacht, da er ihn die ganze Szene über nicht nur nicht ernst-, sondern teilweise nicht einmal wahrnimmt.

Bereits die nächste Bewegung Karl unterstützt diese These mehr als alle seine spöttischen Bemerkungen und gibt einen tieferen Einblick in die Beziehung der beiden. Als Karl Spiegelberg nämlich lächelnd bei der Hand nimmt (2) und sie anscheinend ein paar Schritte gehen, ist Karl so in seine Gedanken vertieft, dass er weiter zu gehen scheint, als Spiegelberg stutzig stehen bleibt.[16] Dass Karl den kompletten darauffolgenden Dialog mit dem Rücken zu Spiegelberg führt, wird durch zwei weitere Aussagen im Text belegt. Einmal ist es Spiegelberg, der das weitere Gehen Karls direkt anspricht: „Geh, geh! Du bist nicht mehr Moor.“ (DR 18). Das andere Mal ist es das erneute hitzige Aufstehen Spiegelbergs (Ebd.), das zumindest darauf hinweist, dass Spiegelberg sich, der mangelnden Gesprächsinteraktion wegen,[17] zwischendurch hingesetzt haben muss. Dass das Nichternstnehmen teilweise aber in das Nichtwahrnehmen übergeht, wird erst am Ende des Dialogs deutlich. Egal wie stark Spiegelberg es versucht, die Aufmerksamkeit Karls auf sich zu ziehen, sei es durch das Schütteln des Kopfes, durch das hitzige Aufstehen oder durch das sich vor dem Kopfschlagen, bleibt Karl die ganze Zeit über in seinen Gedanken vertieft. Sein Gemütszustand kann an dieser Stelle mit der melancholischen Stimmung am Anfang der Szene gleichgestellt werden. Aber ist die innerliche Angst Karls, von dem Vater verstoßen zu werden, wirklich der einzige Grund für das Nichternstnehmen Spiegelbergs? Oder hat Spiegelberg etwas an sich, was es Karl nicht erlaubt ihn ernst zu nehmen?

Die Antwort auf diese beiden Fragen bekommt der Leser erst, nachdem die anderen Mitglieder der zukünftigen Räuberbande auf die Bühne treten (3) und Spiegelberg ohne jegliche Vorwarnung wild aufspringt und Schweizer an der Gurgel packt (7). Dieser wirft ihn aber, trotzt des Überraschungseffekts, gelassen an die Wand (8). Die körperliche Überlegenheit, die direkte physische Präsenz, die einen Hauptmann solch einer Räuberbande ausmachen, sind die Attribute, die Karl aber nicht Spiegelberg besitzt. Dessen ist sich Spiegelberg durchaus bewusst.[18] Nicht ohne Grund bewegt er sich gleich nach dem Eintreten der anderen Mitglieder der Räuberbande in die Ecke des Zimmers (4).[19] Einerseits überlässt er somit Karl den kompletten Bühnenraum, sodass dieser zum ‚alleinigen Herrscher‘ der Bühne wird. Dieses Verhalten kann natürlich als feige betrachtet werden, denn anstatt sich gegen Karl zu behaupten oder es wenigstens zu versuchen und seinen Anspruch auf die Bühne zu erheben, überlässt Spiegelberg, im vollen Bewusstsein Karl körperlich unterlegen zu sein, ihm die Bühne. Andererseits kann dieses Verhalten als taktisch klug angesehen werden. Spiegelberg ist sich, wie schon erwähnt, seinen Stärken und Schwächen bewusst und weiß auch mit diesen umzugehen. Es ist nicht zu übersehen, dass er ein guter Rhetor ist, der einen Hang zur Theatralik hat. Er ist vielleicht nicht so ein guter Schauspieler und Verstellungskünstler wie Franz, da er, wenn man es genau nimmt, es nicht schafft Karl zu überreden. Aber immerhin ist er so gut, dass er es schafft die anderen Mitglieder der zukünftigen Räuberbande von seiner Idee zu überzeugen.

Wenn man sich aber am Ende, zum Beispiel im Falle einer Inszenierung, für eine der beiden Charakterneigungen Spiegelbergs entscheiden müsste, so wird durch mehreren Stellen im Text eher die Feigheit Spiegelbergs zum Vorschein gebracht. Am deutlichsten zeichnet sich diese in der dritten Szene des zweiten Aktes ab:

SPIEGELBERG: Oh! warum bin ich nicht geblieben in Jerusalem!

SCHWEIZER: So wollt ich doch, dass du im Kloak ersticktest, Dreckseele du! Bei nackten Nonnen hast du ein großes Maul, aber wenn du zwei Fäuste siehst, – Memme, zeige dich itzt, oder man soll dich in eine Sauhaut nähen und durch Hunde verhetzen lassen. (DR 57)

Außerdem kann auch seine ‚geistige Überlegenheit‘ in Frage gestellt werden: Ist er wirklich der Gründer der Räuberbande, wie er selbst von sich behauptet? Oder ist alles nur eine glückliche Fügung des Zufalls? Denn, wenn man es genau nimmt, wird Karl von der Idee, der Gründung einer Räuberbande, nicht durch Spiegelberg überzeugt. Seine schlussendliche Zustimmung, der Hauptmann der Räuberbande zu werden, ist nur auf seine verbitterte Reaktion über den vermeidlichen Ausschluss aus der Familie zurück zu führen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass selbst die Überzeugung der anderen Mitglieder der Räuberbande erst nach Karls Verlassen der Bühne gelingt (10). Dabei wird die Bühne von Spiegelberg aber nicht gleich beansprucht. Er schleicht sich sachte, gleich einem Raubtier, entlang der Wand (11)[20] und wartet auf den richtigen Augenblick, um mitten ins Herz der Truppe zu treffen. Der richtige Augenblick ergibt sich, und das spielt Spiegelberg erneut in die Hände, gleich nach dem lauten Vorlesen des Briefes. Die aufgebrachten Kameraden sind ebenfalls über die Nachricht entsetzt und fühlen mit Karl mit. Diese Stimmung nutzt Spiegelberg gekonnt aus, indem er am Anfang seiner Überzeugungsrede sich auf das Gesagte im Brief bezieht: „Von Wasser und Brot ist die Rede? Ein schönes Leben! Da hab ich anders für euch gesorgt!“ (DR 22). Im Vergleich zu Karls melancholischer Stimmung verschafft die gemeinsame Betroffenheit der Gruppe Spiegelberg das gewünschte Gehör: „ROLLER: Nun, das wären wir freilich, du hast recht! – aber wird es uns auch aus dieser vermaledeiten Lage reißen, was du wagen wirst? wird es? –„ (Ebd.). Erst also als Spiegelberg sich in Sicherheit zu fühlen und von den Anderen gehört zu werden scheint, tritt er aus dem Hintergrund hervor und stellt sich mit beschwörendem Ton mitten unter sie (12). Das Entscheidende dabei ist, das er sich bis dahin am Rande der Bühne, im Hintergrund, bewegt und mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Schatten oder dem Halbschatten zu den Anderen gesprochen hat. Unweigerlich kommt deshalb ein Bild des Teufels auf, der es durch seine Überredungskunst schafft die Anderen auf seine ‚dunkle Seite‘ zu ziehen. Zusätzlich wird die ‚teuflische Seite‘ Spiegelbergs aber auch durch das mehrfache direkte Einsetzen des Wortes „Teufel“ verstärkt. Insgesamt greifen die auf der Bühne befindlichen Figuren ganze vier Mal auf das Wort zurück.[21] Bis Roller schlussendlich den Nagel auf den Kopf trifft und direkt, ohne nur darauf anzudeuten, Spiegelberg mit dem Teufel vergleicht: „(Gibt Spiegelberg die rechte Hand.) Also verpfänd ich meine Seele dem Teufel.“ (DR 25).

Die besagte Überredungskunst darf im Zusammenhang mit Spiegelberg nicht unbeachtet werden. Diese zeichnet sich vor allem an folgender entscheidenden Stelle ab, die als ein Wendepunkt der zu untersuchenden Szene angesehen werden kann, da sie die Gemüter der Anderen vollends zugunsten Spiegelbergs wendet:

SPIEGELBERG: Also denn! (Er stellt sich mitten unter sie mit beschwörendem Ton.) Wenn noch ein Tropfen deutschen Heldenbluts in euren Adern rinnt – kommt! Wir wollen uns in den böhmischen Wäldern niederlassen, dort eine Räuberbande zusammenziehen und – Was gafft ihr mich an? – ist euer bisschen Mut schon verdampft? (DR 23)

Bewundernswert an diesem Zitat ist, dass Spiegelberg mittels einfacher rhetorischer Mittel „ein Tropfen deutschen Heldenbluts“ ein Gefühl der Zusammengehörigkeit herstellt. Gleichzeitig erlauben ihm diese, die zukünftige Räuberbande in einen patriotischen Rahmen zu setzen, der „gleichsam auf eine gemeinsame Herkunft, darüber hinaus jedoch auch auf eine Eignung zum Heldentum, die der Räuberbande als Definitionsgrundlage dienen soll“[22], verweist. Damit spricht Spiegelberg die Tugenden seiner Kameraden an, die schlussendlich deren Meinung bezüglich der Gründung einer Räuberbande ändern, aber die er selbst, wie die Untersuchung gezeigt hat, nicht besitzt.

Obendrein ist diese Stelle also auch für das Verhalten Spiegelbergs im gesamten ersten Teil der Szene charakteristisch. Es gelingt Spiegelberg zwar seine Feigheit und körperliche Unterlegenheit gegenüber den Anderen mit Hilfe von seinem „schöpfrischen Schädel“ (DR 20) zu kompensieren. Diese Tatsache ist aber nur auf eine glückliche Fügung von den aufeinander folgenden Umständen und die Abwesenheit Karls, aber nicht auf ihn selbst, wie Spiegelberg fälschlicherweise glaubt, zurückzuführen. Wie schnell und stark sich die Position Spiegelbergs durch Karls Betreten der Bühne ändert und somit die obige These bestätigt, wird nun in dem nachfolgenden Abschnitt dargestellt.

2.1.2. Raumbezogene Figurenanalyse anhand des zweiten Positiogramms

Obwohl die erste Bewegung im zweiten Positiogramm[23] die Spiegelbergs ist (1), betritt Karl parallel zu diesem die Bühne (2). Die Reihenfolge ist zwar dem Text entnommen, da aber zwischen den beiden Bewegungen keine Replik oder Gesprächsinteraktion stattfindet, müssen sie parallel erfolgen. Darüber hinaus stimmt die Geschwindigkeit der beiden Bewegungen überein. Sowohl Spiegelberg, als auch Karl sind wütend, sodass beide sich schnell fortbewegen müssten.[24]

Viel interessanter dabei ist aber, dass Karl es schafft innerhalb von Sekunden durch das heftige Auf- und Niederlaufen (3) die ganze Bühne für sich allein zu beanspruchen. Zur Erinnerung: Spiegelberg wartet auf den richtigen Moment, schleicht sich langsam herbei und tritt erst selbstsicher den Anderen gegenüber, als er sich in Sicherheit zu wiegen scheint. Dieses Verhalten deutete zwar schon im ersten Teil der Szene die Angst Spiegelbergs, sich der direkten Konfrontation zu stellen, an. Gleichzeitig konnte dieses Verhalten aber im Zusammenhang mit Spiegelbergs Einschätzung der eigenen Schwächen und Stärken, wie schon im vorhergehenden Abschnitt diskutiert, durchaus als taktisch geachtet werden. Erst in diesem zweiten Teil der Szene, als Spiegelberg, anstatt gegen die Kandidatur Karls zu argumentieren, sich umgehend wieder in die Ecke des Zimmers ‚verkriecht‘, kann dieses Verhalten uneingeschränkt als Angst vor einer direkten Konfrontation gewertet werden. Dass der Konkurrenzkampf für Spiegelberg, ohne wirklich angefangen zu haben, verloren ist, wird durch das wilde sich in einen Sessel Hineinwerfen (4) Spiegelbergs abseits seiner Kameraden verdeutlicht. Dabei wird nicht nur gezeigt, dass Spiegelberg erneut ins Abseits rückt, sondern auch seine Hilflosigkeit gegenüber Karl wird thematisiert.

[...]


[1] Es können Parallelen zwischen Spiegelberg und Franz gezogen werden: Beide fühlen sich von dem Schicksal ungerecht behandelt; beide nehmen das Schicksal in die eigene Hand; beide sind eifersüchtig auf Karl usw.

[2] Siehe dazu Anhang: Abb. 1, S. 18.

[3] Ebd., Abb. 2, S. 19.

[4] Die Interpretationshilfen beschränken sich meistens nur auf Figuren- und Handlungsanalysen, Figurenkonstellation oder Handlungskomposition. Vgl. dazu: Wilhelm Große: Friedrich Schiller: Die Räuber. Grundlagen und Gedanken zum Verhältnis des Dramas. Frankfurt am Main 1991, Michael Hofmann: Friedrich Schiller: Die Räuber. Interpretation. 2., überarb. Aufl. München 1999.

[5] Wilhelm Große: Friedrich Schiller: Die Räuber. Grundlagen und Gedanken zum Verhältnis des Dramas. Frankfurt am Main 1991

[6] Hans Lösener: Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. München 2006.

[7] Vgl. dazu das Kapitel „Die Bewegung im Raum“ in: Lösener (wie Anm. 6), S. 229-237.

[8] Ebd., S. 230.

[9] Ebd.

[10] Am Anfang der zweiten Szene befinden sich nur zwei Personen (Spiegelberg und Karl) auf der Bühne. Kurz vor dem Ende dieser Szene befinden sich schon acht Personen auf der Bühne. Die Anzahl der Personen ist also um das Vierfache gestiegen.

[11] Siehe dazu: Lösener (wie Anm. 6), S. 231.

[12] Sieh Anhang: Abb. 4, S. 21.

[13] Friedrich von Schiller: Die Räuber. Hamburger Lesehefte Nr.48. Husum/Nordsee 2013. S. 16. (fortan zitiert: DR und Seitennummer).

[14] „Das ist ja recht alexandrinisch geflennt.“ (Ebd.).

[15] Martin Blawid: Von Kraftmenschen und Schwächlingen. Literarische Männlichkeitsentwürfe bei Lessing, Goethe, Schiller und Mozart. Berlin 2011. S. 265.

[16] „MOOR (nimmt ihn lächelnd bei der Hand). Kamerad! Mit den Narrenstreichen ist’s nun am Ende/ SPIEGELBERG (stutzig) Pfui, du wirst doch nicht gar den verlorenen Sohn spielen wollen?“ (DR 17).

[17] Karls Aussagen begrenzen sich ab den Moment, als er Spiegelberg bei der Hand nimmt, auf zwei höchstens drei Sätze.

[18] Karls körperliche Überlegenheit wird in der folgenden Aussage von Spiegelberg selbst deutlich zum Ausdruck gebracht: „Ein Kerl wie du, der mit dem Degen mehr auf die Gesichter gekritzelt hat, als drei Substituten in einem Schaltjahr ins Befehlbuch schreiben!“ (DR17).

[19] Aus folgender Regieanweisung wird klar, dass Spiegelberg sich in die Ecke des Zimmers bewegt haben muss: „SPIEGELBERG (der sich die ganze Zeit über mit Pantomimen eines Projektmachers im Stubeneck abgearbeitet hat, […]).“ (DR 21).

[20] Da Spiegelberg von Schweizer an die Wand geworfen wird, muss er sich, nachdem er sich wieder aufgerafft hat, entlang dieser Wand hereingeschlichen haben.

[21] Unter den besagten Figuren sind: Schufterle (DR 22), Razmann (Ebd.), Schweizer (DR 25) und Roller (Ebd.)

[22] Vgl. dazu: Blawid (wie Anm. 18 ), S. 267.

[23] Vgl. Anhang: Abb. 5, S. 22.

[24] Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass vor dem Betreten Karls der Bühne Spiegelberg zweimal von Roller zurückgehalten wird: „Sachte nur! Sachte! Wohin? […] Gemach, sag ich.“ (DR 25). Sobald aber Karl die Bühne betritt, gilt die ganze Aufmerksamkeit ihm und nicht mehr Spiegelberg.

Fin de l'extrait de 22 pages

Résumé des informations

Titre
Eine raumbezogene Figurenanalyse von Schillers "Die Räuber" mit besonderer Berücksichtigung der Figur Spiegelberg
Université
Humboldt-University of Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Cours
Modul: Literaturwissenschaftliche Vertiefung
Note
1,7
Auteur
Année
2015
Pages
22
N° de catalogue
V359075
ISBN (ebook)
9783668437425
ISBN (Livre)
9783668437432
Taille d'un fichier
619 KB
Langue
allemand
Mots clés
die Räuber, Friedrich Schiller, Bewegung im Raum, Analyse durch den Haupttext, Analysedurch den Nebentext, Regieanweisungen, Bewegungen auf der Bühne
Citation du texte
Sofia Gutjahr (Auteur), 2015, Eine raumbezogene Figurenanalyse von Schillers "Die Räuber" mit besonderer Berücksichtigung der Figur Spiegelberg, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/359075

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