Erfüllt die moderne Sozialdemokratie ihren Anspruch der sozialen Gerechtigkeit? Eine Betrachtung an Hand der Gesundheitspolitik


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2004

18 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

Einleitung

I. Zielsetzungen der modernen Sozialdemokratie in Sozial- und Gesundheitspolitik

II. Probleme der Gesundheitspolitik – Lösungsansätze der Sozialdemokraten
II.1 Grundproblematik
II.2 Lösungsansätze der rot-grünen Regierung 1998-2003

III. Rot-grüne Gesundheitspolitik – sozial gerecht?
III.1 Gerechte Finanzierungsbasis?
III.2 Reformen – gerechte Kostenverteilung?
III.3 Der eigenverantwortliche Patient – realistisches Leitbild?

IV. Fazit und Ausblick
IV.1 Die sozialdemokratische Gesundheitspolitik – sozial Ungerecht
IV.2 Die moderne Sozialdemokratie – unversehens unsozial

Einleitung

Die Politik der SPD-geführten Bundesregierung gerät in letzter Zeit immer schärfer in die öffentliche Kritik. Von allen Seiten wird bezweifelt, dass es der Schröder-SPD durch die vor gut einem Jahr in der Agenda 2010 formulierten Reformpläne gelingen wird, einen Ausweg aus Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit zu finden. Immer mehr steht dabei auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit zur Diskussion. Erst am 03. April 2004 demonstrierten hunderttausende Menschen gegen die ihrer Meinung nach ungerechte Politik der Bundesregierung.[1] Dabei heißt es in einer kürzlich herausgegebenen Broschüre der Regierung zur Agenda 2010 ausdrücklich: „Soziale Gerechtigkeit ist und bleibt das Fundament für eine moderne, leistungsfähige und solidarische Gesellschaft.“[2] Überhaupt wird von fast allen bedeutenden Vertretern der Regierungspolitik immer wieder betont, dass am Prinzip der sozialen Gerechtigkeit auch und gerade im Zuge der angestrebten Reformen festgehalten werden soll. Aber ist es tatsächlich möglich, die Einhaltung dieses Prinzips angesichts der geplanten oder bereits durchgeführten, massiven Kürzungen im Bereich der staatlichen Sozialleistungen weiterhin zu gewährleisten? Lassen sich die Politik der SPD-Regierung, insbesondere die Reformen der Agenda 2010 überhaupt noch mit der Vorstellung einer „solidarischen Gesellschaft“ vereinbaren?

Bei dem Versuch diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, das Augenmerk auf das Feld der Gesundheitspolitik zu richten. Dort ist das Problem der (fehlenden) sozialen Gerechtigkeit besonders greifbar. Gerade durch die zum Jahresbeginn wirksam gewordenen Gesetzesänderungen bekommt jedes Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung – also fast jeder Bürger - die Folgen der Politik zu spüren. In dem angestrebten Übergang zu einem stärker auf privater Finanzierung basierenden Krankenversicherungssystem befürchten immer mehr Kritiker einen Verlust an sozialer Gerechtigkeit bis hin zu der Entstehung einer ‚Zweiklassenmedizin’. Aber auch in diesem Zusammenhang versichert die zuständige sozialdemokratische Ministerin Ulla Schmidt: „{...} auch in Zukunft können Sie in Deutschland bei Krankheit sicher sein, dass Sie die medizinische Versorgung bekommen, die Sie brauchen. Das gilt für jedes Alter und unabhängig vom Einkommen.“[3] Am Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit wird trotz aller scheinbar gegensätzlichen Handlungsweisen festgehalten.

Um also einen Eindruck davon zu gewinnen, ob die Politik der modernen Sozialdemokratie tatsächlich den Spagat zwischen weit gehender Erhaltung einer solidarischen Gesellschaft und gleichzeitigen, massiven finanziellen Kürzungen im gesamten Sozialbereich leisten kann, soll im Folgenden der Bereich der Gesundheitspolitik unter die Lupe genommen werden. Nach einer kurzen Darstellung der Zielsetzungen der SPD-Politik im Bereich der Sozial- und speziell der Gesundheitspolitik wird in einem zweiten Teil auf die spezifischen Probleme der Gesundheitspolitik und die angestrebten Lösungen der SPD-Regierung eingegangen. Im dritten Teil der Arbeit steht einen Einschätzung der Konsequenzen dieser Politik in Bezug auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Abschließend soll geklärt werden, ob also das Ziel der Erhaltung sozialer Gerechtigkeit im System der Gesundheitsversorgung durch die SPD-Politik erreicht werden kann und welche Rückschlüsse sich dadurch auf die gesamte Sozialpolitik der Regierung im Kontext der Agenda 2010 ziehen lassen.

I. Zielsetzungen der modernen Sozialdemokratie in Sozial- und Gesundheitspolitik

Im Folgenden soll ein Überblick dazu gegeben werden, wie die politischen Ziele der Sozialdemokraten in Bezug auf soziale Gerechtigkeit aussehen, wie also dieser Aspekt zukünftig in die SPD-Politik integriert werden soll. Schließlich besteht die SPD auch nach Verkündigung der Agenda 2010 im letzten Frühjahr auf eine zentrale Rolle des Begriffs Gerechtigkeit. Zunächst in einem größeren Kontext und im Anschluss bezogen auf die entsprechenden Zielsetzungen in der Gesundheitspolitik wird dies nun dargestellt:

Dass sich in der SPD mittlerweile ein im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich verändertes Verständnis von Gerechtigkeit durchgesetzt hat, ist in der Diskussion der letzten Jahre überdeutlich geworden. Stellvertretend für diesen Orientierungswandel kann Wolfgang Clement zitiert werden, der als Symbolfigur für diesen Wandel gelten mag. In einer Rede anlässlich des „Forums Grundwerte: Gerechtigkeit“ der SPD im April 2000 wird die zukünftige Orientierung der Sozialdemokraten deutlich. Zum einen nennt Clement Gerechtigkeit eine „lebendige Verpflichtung für heute und morgen“[4], will also den Anspruch der sozialen Gerechtigkeit auch für die moderne Sozialdemokratie nicht aufgeben. Gleichzeitig hält er aber alte Vorstellungen von Gerechtigkeit, die auf die Herstellung von „Gleichheit der Ergebnisse“[5] abzielen, nicht mehr für tragbar. Die Politik, so Clement, müsse sich weit gehend dem Primat der Wirtschaft beugen, das unter den Bedingungen des globalisierten Wettbewerbs die Erhaltung sozialer Gerechtigkeit mit traditionellen Mitteln, wie Tarifpolitik und anderen staatlichen Eingriffen, letztlich unmöglich mache. Clement plädiert für eine den neuen Bedingungen angepasste Politik, die nun auf eine „Gleichheit der Chancen“[6] setzen soll. Der heutige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit redet also einer zurückhaltenderen Sozialpolitik das Wort, die den Marktkräften recht viel Spielraum lässt, nach wie vor aber sicherstellen will, dass niemand „allein- oder zurückgelassen“[7] wird, ein „Mindestmaß an materieller und sozialer Sicherheit“[8] gewährleisten soll.[9]

Diese Vorstellung von den Zielsetzungen zukünftiger Sozialpolitik dürfte im Wesentlichen auch bei dem Entwurf der vor einem Jahr von Bundeskanzler Schröder vorgestellten Agenda 2010 Pate gestanden haben. Noch entschlossener als zuvor setzt man nun auf einen ‚aktivierenden Sozialstaat’ der unter den Bedingungen der wirschaftlichen Krise und des damit verbundenen Einnahmerückgangs öffentlicher Kassen sich auf wesentliche Bereiche beschränkt, Risiken in Teilen privatisiert und damit auf die viel zitierte ‚Eigenverantwortung’ der Bürger setzt. Durch Ausgabenkürzungen sollen „die sozialen Sicherungssysteme leistungsfähig bleiben“[10]. Auch die Agenda 2010 verkündet: „Gerecht ist, Chancengleichheit für alle herzustellen {...}.“[11] Letztlich bedeutet die Agenda also einen deutlichen Rückzug des Staates aus den sozialen Sicherungssystemen, Wohlstand und Gerechtigkeit sollen vorrangig nicht mehr durch staatliche Intervention, sondern durch eine weitere Freisetzung von Marktkräften und einen daraus resultierenden wirtschaftlichen Aufschwung erreicht werden. Trotzdem hält Bundeskanzler Schröder in seiner Agenda-Rede an dem Konzept einer „sozialen{n} Marktwirtschaft“[12] fest und begründet die Notwendigkeit der Reformen gerade mit der Bedrohung durch die „ungebremsten Kräfte des Marktes“[13]. ‚Eigenverantwortung’ ist zwar zentraler Aspekt der Agenda 2010, dennoch setzt man noch immer auf einen gewissen Grad an staatlicher Intervention, um soziale Härten abzumildern.

Was bedeutet dieser Orientierungswandel für das Feld der Gesundheitspolitik? Hier hat sich das gleiche Modell, also die Reduzierung staatlicher Ausgaben durch Streichung von Leistungen und die Privatisierung von Kosten, mithin das Setzen auf die ‚Eigenverantwortung’ der Patienten, durchgesetzt. Ebenso legt aber auch hier die SPD-Regierung wert darauf, dass soziale Härten vermieden werden. Gerhard Schröder stellt die Gesundheitsreform in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 unter das Motto „Niveau der medizinischen Versorgung sichern“[14] und betont: „Für uns bleibt der Grundsatz: Jede und jeder erhalten die notwendige medizinische Versorgung, und zwar unabhängig von Alter und Einkommen.“[15] Diese Haltung scheint freilich nicht ganz widerspruchslos. Die fortschreitende Übertragung von Kosten auf die Versicherten, wie etwa beim Zahnersatz oder der Praxisgebühr dürfte zu wachsender sozialer Ungleichheit führen. Trotzdem besteht die SPD-Regierung darauf, auch die Reformen im Gesundheitsbereich seien sozial gerecht. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird im Folgenden zu klären sein.

II. Probleme der Gesundheitspolitik – Lösungsansätze der Sozialdemokraten

Um dies beurteilen zu können, soll in diesem Abschnitt zunächst auf die generellen Probleme bundesdeutscher Gesundheitspolitik eingegangen werden, um danach die Lösungsansätze und Reformschritte der rot-grünen Bundesregierung in diesem Bereich seit 1998 darzustellen.

II.1 Grundproblematik

Bei Betrachtung des deutschen Gesundheitssystems würde wohl jeder Beobachter angesichts der heute so zahlreich sichtbaren Mängel der Einschätzung zustimmen, dass dieses System reformbedürftig ist. Drei zentrale Problemkomplexe fallen dabei ins Auge: ein Rückgang der Einnahmen bei gleichzeitig ansteigenden Kosten, systembedingte Tendenzen zur Vergeudung von Ressourcen durch ineffiziente Organisation, sowie die Präsenz stabiler Machtstrukturen verschiedener Interessengruppen, die ihrerseits zur Ressourcenverschwendung beitragen und eine Reorganisation des Systems stark erschweren.

Als Ursache der heutigen Krise des deutschen Gesundheitswesens kann die gemeinhin als ‚Kostenexplosion’ bezeichnete Problematik der Einnahme- und Ausgabenentwicklung gesehen werden. Seit Mitte der 70er Jahre – darüber sind sich die Kritiker einig – herrscht zusehends finanzielle Knappheit im System der staatlichen Gesundheitsversorgung, die sich in einem stetigen Anstieg der Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung niederschlägt. Die Mehrheit der Beobachter konstatiert in diesem Zusammenhang einen überdurchschnittlichen Anstieg der Ausgaben auf Grund äußerer Faktoren wie dem medizinischen Fortschritt und systeminterner Fehlanreize, die Patienten, Ärzte und Krankenkassen zur Verschwendung finanzieller Ressourcen trieben.[16] Andere Einschätzungen lehnen die Vorstellung einer solchen ‚Kostenexplosion’ ab und machen für die desolate Finanzsituation primär einen Einnahmerückgang verantwortlich. Dessen Ursache sieht man in der an Löhne und Gehälter gekoppelten Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, die das Gesundheitssystem in starke Abhängigkeit zur Entwicklung von Einkommens- und Beschäftigungssituation setzt[17], wovon im dritten Teil der Arbeit noch die Rede sein wird.

Einigkeit herrscht darüber, dass – unabhängig von dieser Problematik – das bundesdeutsche Gesundheitssystem enorme Wirtschaftlichkeitsreserven beherbergt, bis zum heutigen Tag also große Geldsummen auf Grund ineffizienter Strukturen verschwendet werden. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schätzt die Höhe möglicher Einsparungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Zusammenhang auf 20 Mrd. Euro jährlich.[18] Auch wenn die Bedeutung dieses Faktors unterschiedlich beurteilt wird, würde wohl kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass Mängel wie unzureichende Kooperation zwischen Ärzten und Krankenhäusern, Falschabrechnungen, Überkapazitäten und überflüssige oder unnötig teure therapeutische Leistungen ein bedeutendes Problem darstellen.

Solche Mängel zu beseitigen, zeigt sich aber wenig Bereitschaft bei den Akteuren innerhalb des Gesundheitssystems. Denn dort haben sich stabile Machtstrukturen etabliert, die das System „zur Erstarrung tendieren {lassen}“[19]. Die seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in Verbänden organisierte Ärzteschaft handelt mit den Vertretern der Krankenkassen die Höhe ihrer Vergütungen aus, ohne dabei einer Kontrolle zu unterliegen. Es ist wenig überraschend, dass die Beteiligten dabei vorwiegend an eigene Profitinteressen denn an die Wirtschaftlichkeit des Gesamtsystems oder gar an die Interessen der Patienten denken. In der Konsequenz scheint eine Politik, die auf fundamentale Veränderungen in der Verteilung finanzieller Ressourcen setzt, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zusätzlich zu dieser Problematik ist schließlich noch an die Vertreter der Pharmaindustrie zu denken, die – ebenso unbeirrt ihren Profitinteressen folgend – wenig Interesse an der Einschränkung von Ausgaben zeigen und durch ihre finanzielle Macht sowie mit dem Hinweis auf den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen enormen Druck gegen Einsparungen ausüben können.

[...]


[1] vgl. o.A.: Hunderttausende demonstrieren gegen Sozialabbau, in: ftd.de – Financial Times Deutschland, 03.04.2004

[2] o.A.: Antworten zur agenda 2010, Aktualisierte Neuauflage 2004, Berlin, Febraur 2004, S. 10

[3] o.A: Die Gesundheitsreform – eine gesunde Entscheidung für alle, Berlin, Januar 2004, Seite 3

[4] Clement, Wolfgang: Durch Innovative Politik zu gerechter Teilhabe, Berlin, 26.04.2000, S. 8

[5] Clement, S. 10

[6] Clement, S. 10

[7] Clement, S. 10

[8] Clement, S. 10

[9] vgl. Clement, S. 7-10

[10] o.A.: Antworten zur agenda 2010, Aktualisierte Neuauflage 2004, Berlin, Februar 2004, S. 8

[11] o.A., S. 10

[12] Schröder, Gerhard: Mut zum Frieden und zur Veränderung – Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Berlin, 14.03.2003, S. 12

[13] Schröder, S. 12

[14] Schröder, S. 37

[15] Schröder, S. 38

[16] vgl. Oberender, Peter / Fleischmann, Jochen: Gesundheitspolitik in der sozialen Marktwirtschaft – Analyse von Schwachstellen und Perspektiven einer Reform, Stuttgart 2002, S. 27ff

[17] vgl. Braun, Bernhard / Kühn, Hagen / Reiners, Hartmut: Das Märchen von der Kostenexplosion – Populäre Irrtümer zur Gesundheitspolitik, Frankfurt am Main 1998, S. 21-58

[18] vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Gesundheitspolitik - Solidarität statt Privatisierung und Marktorientierung – Sondermemorandum – Langfassung, Juni 2002, S. 7

[19] Oberender / Fleischmann, S. 67

Fin de l'extrait de 18 pages

Résumé des informations

Titre
Erfüllt die moderne Sozialdemokratie ihren Anspruch der sozialen Gerechtigkeit? Eine Betrachtung an Hand der Gesundheitspolitik
Université
Free University of Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Cours
Ende des "Dritten Weges"? Zur Politik der modernen Sozialdemokratie seit 1998
Note
1,3
Auteur
Année
2004
Pages
18
N° de catalogue
V36156
ISBN (ebook)
9783638358613
Taille d'un fichier
551 KB
Langue
allemand
Mots clés
Erfüllt, Sozialdemokratie, Anspruch, Gerechtigkeit, Eine, Betrachtung, Hand, Gesundheitspolitik, Ende, Dritten, Weges, Politik, Sozialdemokratie
Citation du texte
Andreas Schiel (Auteur), 2004, Erfüllt die moderne Sozialdemokratie ihren Anspruch der sozialen Gerechtigkeit? Eine Betrachtung an Hand der Gesundheitspolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36156

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