Sport und Bewegung bei depressiver Erkrankung


Epreuve d'examen, 2000

95 Pages, Note: 1


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Depression
1.1 Terminologie
1.2 Historischer Hintergrund der Depression
1.3 Klassifikation/ diagnostische Einordnung
1.4 Epidemiologie
1.5 Ätiologie: verschiedene Ansätze
1.5.1 Psychologische Ansätze
1.5.1.1 Lerntheoretische Ansätze
1.5.1.2 Kognitive Ansätze
1.5.1.3 Psychoanalytische Ansätze
1.5.1.4 Psychosoziale/Psychogenetische Ansätze
1.5.2 Somatische Ansätze
1.5.2.1 Hereditäre (erbbiologische) Ansätze
1.5.2.2 Psychophysiologische Ansätze
1.5.3 Integrative Ansätze
1.6 Symptomatik
1.6.1 Onset
1.6.2 Verlauf
1.6.3 Heilungschancen
1.6.4 Sterblichkeitsrate
1.7 Probleme der Diagnostik
1.8 Therapieansätze
1.8.1 Pharmakotherapie
1.8.2 Psychotherapeutische Ansätze
1.8.3 Körpertherapien
1.8.3.1 Leib – Seele – Problematik
1.8.3.2 Psychosomatik
1.8.3.3 Körperorientierte Psychotherapien

II. Sporttherapie
2.1 Begriffliche Eingrenzung
2.2 Sporttherapie als integrierter Teil eines Behandlungskonzeptes für Depressionen
2.2.1 Physiologische Veränderungen durch Sport
2.2.2 Psychische Wirkung des Sports
2.2.3 Psychophysiologische Veränderungen
2.3 Inhalte
2.4 Der Sporttherapeut
2.5 Probleme
2.6 Konzeptentwurf
2.6.1 Ziel
2.6.2 Gruppenzusammensetzung
2.6.3 Umfang und Dauer
2.6.4 Aufbau
2.6.5 Inhalt

Diskussion/Ausblick

Literaturverzeichnis

Einleitung

Eine 38-Jährige Patientin, von Beruf Hausfrau, leidet seit 8 Jahren an depressiven Verstimmungszuständen und war wegen dieser Beschwerden bereits mehrfach in stationärer Behandlung. Zuletzt wurde sie zur Elektrokonvulsionsbehandlung „wegen einer therapieresistenten Depression“ eingewiesen. Seit einigen Monaten litt sie unter einer beständigen Verschlechterung ihres Befindens mit Antriebslosigkeit, starken Zukunftsängsten, Freudlosigkeit, niedergedrückter Stimmung, Konzentrationsstörung und suizidalen Gedanken. Frau H. begann 32 Tage nach ihrer Aufnahme mit einem Sporttherapieprogramm, das sich aus Gymnastik, Spielen, Stretching, Körperwahrnehmung und einem Ausdauerprogramm zusammensetzte. Die Patientin kam beim ersten Mal mit weinerlicher Stimmung in die Sporthalle, äußerte, sie hätte nie Sport getrieben und hätte davor auch besondere Angst. Ihr wurde vom Sporttherapeuten erklärt, sie hätte nichts zu tun, was sie nicht möchte, sie könne auch am Rand sitzen und zuschauen. Daraufhin nahm sie teil und setzte sich nach der Hälfte der Stunde zu einer kurzen Pause auf die Bank. Im Ausdauerbereich hatte sie aufgrund ihres starken Übergewichtes Schwierigkeiten, so daß es niedriger dosiert wurde, um das Erreichern der Pulsgrenze herauszuzögern. Bereits in der zweiten Woche berichtete die Patientin, daß sie keine Angst mehr vor dem Sport habe, daß ihre Kopfschmerzen viel weniger wurden und sie zudem besser schlafe. Nach dreieinhalb Wochen Sporttherapie ging es ihr so gut, daß sie nach Hause drängte. Sie konnte nach 4 Wochen in „gut gebessertem Zustand“ entlassen werden. Auch 24 Monate nach der Aufnahme äußerte sie, daß sie sich „sehr wohl und ausgeglichen“ fühle.

(Daten aus HUBER 1988, S. 227)

Ungefähr 5% der Weltbevölkerung, ca. 340 Millionen Menschen, leiden an Depressionen (WEISSMAN et al. 1988). Diese Zahl gibt jedoch nur den Bruchteil der erkrankten Personen wieder, die im Gesundheitswesen erfaßt wurden. Die im Rahmen des „Global Burden of Disease“-Projektes durchgeführten Erhebungen ergaben für Depressionen eine schwerere Belastung der Betroffenen in bezug auf die Erkrankungsjahre als für andere psychiatrische Erkrankungen wie auch für sogenannte „Volkskrankheiten“ wie Diabetes mellitus und cardio- oder zerebrovaskuläre Erkrankungen (MURRAY/LOPEZ 1997). Die große Bedeutung depressiver Störungen ergibt sich zum einen aus ihrer Häufigkeit: Depressive Störungen sind mit Abstand die häufigsten psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung (HEGERL 1999). Bei Verwendung der modernen operationalisierten Diagnose-Systeme ICD-10 und DSM-IV liegt die Punktprävalenz depressiver Störungen in der Gesamtbevölkerung bei 5-10%, die Lebenszeitsprävalenz bei 17% (HOLSBOER 1999). Dennoch besteht im Hinblick auf die Versorgung depressiver Patienten ein großer Optimierungsspielraum, der sich aus diagnostischen und therapeutischen Defiziten sowie den realistischen Möglichkeiten, diese zu beseitigen, ergibt (LEPINE 1997). So wird in der Primärversorgung bei über 50% der Patienten die depressive Erkrankung nicht erkannt und mehr als der Hälfte der Patienten nicht suffizient behandelt (HEGERL 1999). Diagnostische und therapeutische Defizite haben persönliches und familiäres Leid, die Gefahr einer Chronifizierung und Krankheitsprogression sowie eine erhebliche Suizidgefährdung zur Folge: Es ist davon auszugehen, daß 40-50% aller Suizide von unerkannten oder inadäquat behandelten depressiven Patienten verübt werden (RHIMER et al. 1990, PAYKEL 1991). Der unzureichende Einsatz therapeutischer Interventionen ist auch mit großen zusätzlichen Gesundheitskosten verbunden: An Arbeitsunfähigkeit wurden laut Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit 1993 fast 11 Millionen Tage durch über 300.000 depressive Erkrankungsfälle verursacht. Weitere Kosten entstehen dadurch, daß sich die Mehrzahl der depressiven Patienten im Bereich der Primärversorgung mit körperlichen Beschwerden vorstellen und zunächst zahlreiche somatische Untersuchungen durchlaufen, bevor sie angemessen diagnostiziert und therapiert werden (KATON et al. 1990). Die Tatsache, daß diese Krankheit mit großen persönlichen, sozialen und auch ökonomischen Belastungen sowie einem erhöhten Risiko für körperliche Krankheiten einhergeht (THOMPSON et al. 1996) und außerdem bei 15% der Betroffenen zum Tod führt (LEE/MURRAY 1988), erfordert kosteneffiziente und weitgreifend effektive Behandlungsmethoden besonders auch im Hinblick auf die Tatsache, daß nach Schätzung der Weltbank unter den psychischen Störungen depressive Erkrankungen die höchsten Gesundheitskosten verursachen (HEGERL 1999, BERNDT et al. 1996). 80-90% der an Major Depressive Disorder (MDD) Erkrankten haben gute Heilungschancen (REGIER et al. 1988). Dennoch ergab die Zurich Cohort Study (ANGST 1984), daß sich nur 25% der an Depressionen leidenden Frauen und nur 9% der Männer bis zu ihrem 30. Lebensjahr in psychiatrische Behandlung begaben. Die Behandlung von Depressionen gestaltet sich seit jeher schwierig nicht zuletzt aufgrund der multikausalen Ätiologie der Erkrankung, ihrer zyklischen Natur und der hohen Rückfallwahrscheinlichkeit. Die Vielschichtigkeit der Faktoren, die zur Genese von Depressionen beiträgt, hat zu einer großen Anzahl von Therapieansätzen geführt (PAFFENBARGER et al. 1994). Da psychotherapeutische Maßnahmen die Komplexität von Depressionen allein nicht auffangen und Pharmakotherapien unter zum Teil erheblichen Nebenwirkungen bei nur etwa 50-60% der Patienten zu einem langfristigen Erfolg geführt haben (ANGST 1999), ist die Zuhilfenahme neuer, kostengünstiger und selbstzuverwaltender Behandlungsmethoden angebracht (BERNDT et al. 1996). Eine solche stellt die Sporttherapie dar, durch die man über die positiven Auswirkungen des Sporttreibens depressiven Menschen, die nur in den seltensten Fällen physisch nicht in der Lage sind, Sport zu treiben (MARTINSEN 1989), zu mehr Lebensqualität verhelfen will. Sie wird in der Regel als adjuvante Behandlungsmethode in Kombination mit anderen, „herkömmlichen“ Therapieformen (meist Psycho- und/oder Pharmakotherapie) eingesetzt (HILYER et al. 1982). Ergänzende oder alternative Behandlungsmethoden werden oft geringschätzig und ungerechtfertigterweise als „Gesundheitswesen außerhalb der konventionellen Medizin“(DOWNER et al. 1994) oder positiver als „Zusatzmethode, die zu einer Ganzheitlichkeit beiträgt und damit die Grenzen orthodoxer medizinischer Methoden erweitert“ (ERNST et al. 1995) bezeichnet. Neue Methoden wie die Sporttherapie erfreuen sich zunehmender Popularität (EISENBERG et al. 1993), weil sie keine oder kaum Nebenwirkungen haben und unautoritärer und selbstbestimmter sind als die herkömmlichen Therapieformen (ERNST et al. 1998). Es liegen zahlreiche Untersuchungen vor, die sich mit den Auswirkungen sportlicher Betätigung auf die menschliche Psyche beschäftigen. Im Zusatz dazu entwickelte sich daraus ein Forschungszweig, der beleuchtet, inwieweit man sich positive Wirkmechanismen sportlicher Aktivität auch zur Behandlung krankhafter Erscheinungen zunutze machen kann. Infolgedessen existieren unzählige Studien zum Thema Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hypertension, Übergewicht und Diabetes, sowie weit weniger, die untersuchen, wie man sich Sport zur Behandlung psychischer Erkrankungen zunutze machen kann. Studien, die sportliche Aktivität zur Behandlung von Depressionen zum Thema haben, weisen oft nicht unbeträchtliche methodologische Mängel auf, die eine stichfeste Interpretation und Aussagen über eine Quantifizierung der Sporttherapie nicht zulassen (ERNST et al. 1998). Um eine langanhaltende, sekundärpräventive Wirkung zu erreichen, erfordert dies insbesondere angesichts der vielfältigen Entstehungs- und Wirkmechanismen der Krankheit eine möglichst multifaktorielle Herangehensweise, was Ziele, Inhalte und Methoden betrifft. Nur wenige Untersuchungen präsentieren Ergebnisse, die über physiologische Parameter hinausgehen – meist aus dem Grund, da psychologische Faktoren schwerer meß- und evaluierbar sind. Das Defizit der Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Psychiatrie liegt weiter auch am eingeschränkten Einblick in die Wirkmechanismen der Psyche und die Möglichkeiten der Einflußnahem über physiologische wie auch psychologische Parameter. Trotz der Vielfalt der Untersuchungen zum Thema Depressionen und Sport mangelt es an aussagekräftigen Ergebnissen, die Rückschlüsse auf genaue Wirkmechanismen zulassen, bzw. die Art, Dauer, Frequenz und Intensität der Betätigung so eindeutig in Zusammenhang mit einer positiven Wirkweise bringen, daß eine für alle Depressionspatienten erfolgversprechende Sporttherapie daraus entwickelt werden könnte. Über die Wirkmechanismen liegt eine Reihe teilweise nicht wissenschaftlich belegter Vorschläge vor, die physiologische (Veränderungen der Monoamin-/Endorphinkonzentration), psychologische (Selbstwertsteigerung durch Erfolg und „mastery“, Zuwendung durch den Anleiter und die Gruppe, Ablenkung) und soziale (soziale Interaktion, Feedback, Nische für das Einüben alterantiver Handlungsweisen) Faktoren umfassen. Auch wenn die theoretische Grundlage noch Lücken aufweisen mag, stufen Depressionspatienten die Sporttherapie in der Behandlung ihrer Krankheit höher ein als Pharmako- und Psychotherapie, so daß die Wichtigkeit der Sporttherapie zumindest durch subjektive empirische Werte herausgestellt wird (WEYERER/KUPFER 1994). Ziel der Arbeit ist es, auf der Grundlage einer breiten theoretischen Basis die Möglichkeiten und Grenzen einer sporttherapeutischen Behandlung depressiver Erkrankungen zu untersuchen. Gerade weil die Depression eine Krankheit mit unterschiedlichsten Erscheinungsformen ist, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zur Diagnostik und zu Therapieansätzen. In den letzten Jahren scheint sich ein Konsens abzuzeichnen, nämlich die Forderung nach einem integrativen Konzept, das neben den Symptomen auch auf Verarbeitungsmechanismen, depressive Persönlichkeitsstrukturanteile und das Bewältigen konflikthafter Situationen abzielt. Dazu muß der Betroffene in seiner ganz individuellen Situation ganzheitlich erfaßt werden. Es gibt daher seit einigen Jahren in bisher nur wenigen psychiatrischen Krankenhäusern Modelle, die sportliche Aktivitäten in dieses gesamttherapeutische Konzept einbetten (HUBER 1988, S. 2, KLEINE/HAUTZINGER 1996, S. 12). Daß der Zugang so zaghaft scheint, mag daran liegen, daß ein problemorientierter Zugang zu depressiven Störungen diziplinübergreifend gestaltet werden muß, das heißt, daß zu einer ganzheitlichen Behandlung eine Kooperation zwischen Psychologie, Psychiatrie und Sportwissenschaft notwendig wird. Auch ist der kausale Zusammenhang zwischen dem Sporttreiben und seiner Auswirkung auf das Krankheitsbild nicht so eindeutig nachzuweisen wie beispielsweise die morphologischen Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems. Es fehlt trotz zahlreicher theoretischer Ansätze noch eine übergreifende theoretische Konzeption (HUBER 1988, S. 313), die die Auswirkungen des Sporttreibens auf psychische Faktoren belegt (SCULLY et al. 1998, ERNST 1998, DUNN/DISHMAN 1991). Dies liegt zum einen an der Schwierigkeit, depressive Patienten, die zum großen Teil eine starke Antriebsschwäche aufweisen über einen längeren Zeitraum zum Sporttreiben zu motivieren und grundsätzlich an der Vielfältigkeit ätiologischer Erklärungsansätze der Depression und ihrer Manifestation bei den Betroffenen.

I. Depression

1.1 Terminologie

Bevor der Begriff Depression als Bezeichnung für einen Ausnahmezustand der Seele, eine Gemütskrankheit, verwendet wurde, faßte man im alten Griechenland Geisteskrankheiten allgemein unter dem Begriff Melancholie zusammen, der lateinischen Übertragung des griechischen melagcolia (JACKSON 1986, S. 4). Dieser Begriff (ins Deutsche übertragen „schwarze Galle“) beruht auf Hippokrates` Viersäfte-Theorie, die die schwarze Galle als Auslöser für melancholische Gemütszustände versteht. Erst im 18. Jahrhundert trat der Begriff Depression als Derivat des lateinischen de (runter-, nieder-) und premere (drücken) als Bezeichnung niedergeschlagener Stimmungslagen auf und erhielt Zugang zu den gängigen Melancholie-Diskussionen, in denen Samuel Johnson eine entscheidende Position innehatte (JACKSON 1986, ebenda). Medizinische Bedeutung erhielt der Begriff in Beschreibungen von Richard Blackmoore (1725) oder Robert Whytt (1776), die die Depression als Zustand niederer Stimmung, Hypochondrie und Melancholie (JACKSON 1986, S. 5) definierten. Im 19. Jahrhundert wurde der Depressionsbegriff zunehmend verwendet, jedoch nicht vorwiegend als medizinische Kategorie, sondern eher als erste Zuschreibung. Wilhelm Griesinger führte Mitte des 19. Jahrhunderts offiziell den Depressionsbegriff („Die psychischen Depressionszustände“) als Synonym für den Melancholiebegriff ein. 1880 verwendete Emil Kraepelin den Begriff depressiver Wahnsinn, um eine Kategorie des Wahnsinns genauer zu kennzeichnen und ordnete die depressive Form der Verrücktheit unter. In seinen Zuordnungen findet sich Melancholie als diagnostischer Begriff als Form einer psychischen Depression. 1899 stellte er den diagnostischen Begriff manisch-depressiver Wahnsinn vor. Damit erhielt der Begriff Depression mit seinen Variationen einen hervorstehenden Platz in den nosologischen Schemata psychischer Störungen. Das Verdrängen des Melancholie-Begriffes wurde unter anderem auch von Adolf Meyer vorangetrieben:

„I am desirous of eliminating the term melancholia, which implied a knowledge of something we did not possess [...]. If, instead of melancholia, we applied the term depression to the whole class, it would designate in an assuming way exactly what was meant by the common use of the term melancholia.“

(MEYER 1904)

Heute tritt der Melancholie -Begriff wieder in neueren Klassifikationssystemen auf und bezeichnet eine schwerere, oft auch als endogen klassifizierte Form der Depression.

Der Begriff „Depression“ ist deshalb so schwer eingrenzbar, weil er auf verschiedenen Ebenen verwendet wird (BAUMANN 1986, S. 5ff). Er beschreibt zum einen das Symptom der depressiven Stimmung, zum anderen bezeichnet er auf der syndromatischen Ebene die Kombination psychischer und somatischer Symptome und auf der nosologischen Ebene eine Krankheit mit Ursache, Verlauf und Therapie (SCHULZE 1990, HAUTZINGER 1998).

1.2 Historischer Hintergrund der Depression

“As too much and violent exercise offends on the one side, so doth idle life on the other... Opposite to exercise is idleness or want of exercise, the bane of body and minde,...the chiefe author of all mischiefe, one of the seven deadly sins, and a sole cause of melancholy.“

(BURTON 1632)

Eine der frühesten Schriften, die die Niedergeschlagenheit und Suizidgedanken eines Mannes dokumentieren, reicht in die Zeit der ägyptischen Hochkultur um 2100 v. Chr. zurück (FRITZE 1987, S. 7). Auch im Alten Testament (Sam. 16, 18) finden sich Darstellungen klinischer Zustandsbilder depressiver Störungen, die auf übernatürliche, göttliche Ursachen zurückgeführt werden („ [...] jetzt quälte ihn ein böser Geist, der vom Herrn kam“). Die dort beschriebenen Symptome umfassen „Unruhe, Getriebenheit, vegetative Störungen, vitale Mißgefühle, hypochondrische Beschwerden, paranoide Gedanken, Schlaflosigkeit und Angstträume“ (FRITZE 1987, ebenda). Eine natürliche Erklärung dieser Zustände gab es erstmals im antiken Griechenland mit der klassischen Krankheitstheorie: Homers Erkenntnis „Mens sana in corpore sano“ (865 v. Chr.) deutet bereits auf einen Zusammenhang zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit hin. Es gab neben der volkstümlichen Auffassung, daß Krankheiten Heimsuchungen von Dämonen als Strafe für Sündigungen seien, auch medizinische Erklärungsansätze wie die Viersäftetheorie von Hippokrates, die auf der Annahme basierte, daß psychische Störungen dem Gehirn entspringen, oder von Aristoteles, der den Ursprung seelischen Leides im Bereich des Herzens ansiedelte. Nach der Humoral des Hippokrates (430-377 v. Chr., „Nature of Man“), gibt es vier Elemente im Körper eines Menschen, die sich in einem mehr oder weniger ausgewogenen Verhältnis zueinander befinden: Phlegma, Blut, gelbe und schwarze Galle. Menschen, die an großer Niedergeschlagenheit und Antriebsschwäche leiden, wurden demgemäß als Melancholiker (lat. mélas: „schwarz“ und cholera: „Galle“) bezeichnet - man nahm an, daß in ihnen die schwarze Galle die Vorherrschaft über die anderen Körpersäfte hatte. Platos (428-347 v.Chr.) Auffassung bestand darin, daß die schwarze Galle ein Abfallprodukt von Verwesungsvorgängen im Körper sei, das in die Blutbahn gerate, „keinen Ausgang finde“ und so die Grundlage diverser Krankheiten bilde. Da der psychische Zustand auf eine physische Ursache zurückgeführt wurde, stand der Krankheitsstatus der Depression bzw. Melancholie außer Zweifel und wurde zunächst von Schamanen, Priestern und Medizinmännern, später von Ärzten behandelt, die sich unter anderem die heilende Kraft des Gespräches zunutze machten: Der Begriff „Psychotherapie“ wurde so bereits von Plato eingeführt (HUBER 1988, S. 19). Weiterhin gibt es Beweise dafür, daß neben Aderlass, Diät und Alraune auch bewegungstherapeutische Maßnahmen wie Gymnastik ergriffen wurden, um Körper und Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen (FRITZE, S. 42). Diese Behandlungsmaßnahmen entsprangen dem Bewußtsein um die gesundheitliche Wirkung gezielter körperlicher Betätigung vor dem Hintergrund einer engen Verknüpfung von Leib und Seele (HUBER 1988, S. 19). Neben der Auffassung der Depression als behandlungsbedürftiger Krankheit steht die dialektische Betrachtungsweise (Krankheit versus göttliche Begabung) von Plato und Aristoteles (384-322 v. Chr.), die die Melancholie ebenso als „göttliche Manie“, als Ausweis größter geistiger Kapazität und Genialität sowie eine Voraussetzung für künstlerische und staatsmännische Betätigung ansieht.

„Why is it that all those who have become eminent in philosophy or politics or poetry or the arts are clearly of an atrabilious temperament, and some of them to such an extent as to be affected by diseases caused by black bile?“

(Aristoteles 348 v. Chr.)

Galenus (129-199 n.Chr.) übernahm das griechische Depressionskonzept für die Römer. Das Übermaß an schwarzer Galle führte er wiederum auf die Einnahme bestimmter Nahrungsmittel (Rotwein, Fleisch, alter Käse), die Jahreszeit (Herbst), den Lebensabschnitt, die geographische Lage und die Beschäftigungen der betroffenen Person zurück. Neben dem „Ausbluten“, dem Einhalten einer Diät und Massagen hielt er Bewegung und Ertüchtigung für gute Mittel zur Linderung der Beschwerden. Im Mittelalter und der Renaissance wurden psychische Krankheiten zum Teil wieder auf übernatürliche Mächte zurückgeführt. Den Hexen wurden depressive Symptome zugesprochen, was von einigen Autoren in Zusammenhang mit den Hexenverbrennungen gestellt wird (FRITZE 1987, S. 59). Das Mittelalter war generell jedoch gekennzeichnet durch das Festhalten an den alten hippokratischen und aristotelischen Traditionen, die sie an Klosterschulen lehrten, so daß das medizinische Wissen mit religiösen Auffassungen verknüpft wurde und man verstärkt auf spirituelle denn medizinische Heilung setzte. Constantinus Africanus (1020-1087) machte durch seine Übertragung der medizinischen Literatur aus dem Arabischen ins Lateinische die medizinischen Erkenntnisse auch der westlichen Welt verfügbar. Seine Übersetzung De Melancholia beeinflußte die Auffassung der westlichen Welt von Melancholie bis in die Renaissance hinein. In seiner Abhandlung betont er Symptome wie Angst und Traurigkeit, Schlaflosigkeit sowie das Vorherrschen düsterer Gedanken, zum Teil verbunden mit Wahnvorstellungen. Neben Personen mit genetischer Prädisposition seien Menschen besonders anfällig, die sich dem exzessiven Genuß bestimmter, blutverdickender Lebensmittel oder dem Studium von Philosophie und Wissenschaften zu sehr hingaben, sowie solche, die sich zu wenig bewegten oder durch ihren Glauben in ständiger Angst vor der Strafe Gottes lebten (JACKSON 1986, S. 61). Zur Zeit Martin Luthers wurde die „Melancholia“ einerseits als Werk des Teufels, andererseits als ein Zeichen göttlicher Zuwendung betrachtet: Christus wäre somit der einzige „medicus“, der den Menschen von der Schwermut, der „Abstraktion der Gedanken des Herzens von den Sinnen“, befreien kann (LUTHER, zit. nach STEIGER 1995, S. 28). Zum einen wird die Melancholie positiv als Phase der Meditation verstanden, andererseits als Krankheit des Geistes, die den Leib in Mitleidenschaft zieht und schließlich zum Tod führen kann (2.Kor1. 7, 10). Als Therapie schlagen Luther und seine Zeitgenossen den Genuß leiblicher und geistlicher Freuden vor, empfohlen werden Ausritte, die Jagd und die Gesellschaft anderer Leute (STEIGER 1995, ebenda). All diese lebenspraktisch-diätischen Ratschläge können ihre Wirkung jedoch nur in Kombination mit geistlichen Mitteln (Gebet, Nießung der Sakramente) entfalten. Im Vergleich mit den stark asketisch ausgerichteten Ratschlägen der mittelalterlichen Moraltheorie wird deutlich, „daß ein reformatorisches Proprium darin besteht, die geistlich-meditativen Übungen in Form von Schriftlektüre und Gebet mit den besonders im humanistischen Kontext beliebten Ergötzlichkeiten zu verbinden“ (STEIGER 1995, S. 36). Ende des 16. Jahrhunderts tritt erstmals auch die psychologische Komponente mit der Annahme in den Vordergrund, daß die Melancholie ein angeborener Defekt sei, oder aber sich im Erwachsenenalter infolge traumatischer Kindheitserlebnisse – insbesondere harter und liebloser Erziehung – oder auch körperlicher Leiden entfalte (STEIGER 1995, S. 84). Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen entstand erst vor ca. 150 Jahren aus der Frage der Anstaltsversorgung heraus (FRITZE 1987, S. 12). Emil Kraepelin (1856-1926) entwickelte bis heute bedeutsame Systematisierungen, in denen er psychische Krankheiten nach Erscheinungsform, Verlauf, Ausgang und Ursachen gruppierte. Konform mit der Tradition des medizinischen Krankheitsmodells des 19. Jahrhunderts ging er davon aus, daß eine pathogene Noxe die Krankheiten hervorrufe. Mit der Entwicklung der Psychopharmakologie (Insulin-Koma-Therapie (1933), Elektrokrampftherapie (1938), Imipramin (1957), Lithium (1963)) und Neurobiologie schwand Mitte dieses Jahrhunderts das Interesse an der Sporttherapie und trat erst wieder in den Vordergrund, als die Rolle des Verhaltens bei der Entstehung und Vermeidung von Krankheiten an Bedeutung gewann. Seitdem ist das Bedürfnis nach einer möglichst genauen Klassifikation depressiver Störungen gestiegen, um die Behandlung zu optimieren.

1.3 Klassifikation/ diagnostische Einordnung

Obwohl die Melancholie schon früh als Phänomen beschrieben wurde, stellte Emil Kraepelin sie erst 1896 in Zusammenhang mit anderen ihr verwandt scheinenden Störungen. Seine Klassifikation umfaßte depressive, manisch-depressive und manische Erkrankungen und basierte grundsätzlich auf zwei Beobachtungen: dem klinischen Krankheitsbild einerseits und dem Krankheitsverlauf andererseits – ein Vorgehen, daß bis heute an Gewichtung behalten hat (WINOKUR 1981, S. 28). Während der Begriff „Depression“ in Kraepelins lexikalischer Einordnung noch eindeutig konzeptualisiert war, stellt die Klassifikation depressiver Störungen mit Verbesserung der Meß- und Analysemethoden heute einen umstrittenen Forschungsgegenstand dar. Problematisch sind dabei zum einen die Grenzen zu anderen psychischen Störungen oder den Stimmungsschwankungen Gesunder, wie auch die Abgrenzung von Subklassen innerhalb der depressiven Strömungen. Unklar ist auch, ob innerhalb der Symptomatik, Ätiologie oder Pathogenese klassifiziert werden soll – ein Zustand, der vom Zweck der jeweiligen Klassifikation abhängt (LEVITT et al. 1983).

„Perhaps the greatest problem is that the phenomena lumped together under the term depression are a “mixed bag“ containing some essentially physiological disturbances, some symptom complexes with both physiological and psychic disturbance, and some unconscious, habitual patterns of behaviour that may bring the patient repeatedly to grief. Anyschema of classification attempting to assimilate such an odd assortment is apt to be unsatisfactory as a guide to either or treatment.“

(BLINDER 1969)

Während die traditionellen Unterscheidungen auf klinischen Urteilen basieren, werden seit etwa 30 Jahren zunehmend mathematische Verfahren eingesetzt. Eine Klassifikation ist grundsätzlich von Wichtigkeit, um eine systematische Erforschung der Krankheit zu gewährleisten und die Ergebnisse auch kommunizierbar zu machen. Die Vielschichtigkeit der Depression macht eine unumstrittene Einordnung jedoch nahezu unmöglich. Ein weiteres Problem bei der Klassifikation stellt auch die Reliabilität der Diagnose dar. Man versucht, die Reliabilität und die Validität durch ein System von definierten Symp-tomen (z.B. das AMP- und AMDP-System) zu erhöhen. Da sich kein Klassifikationssystem etablieren konnte, gibt es eine Vielzahl von konkurrierenden Systemen. ANDREASEN (1982) teilt diese in solche ein, die in der klinischen Praxis genutzt und solche, die für Forschungsbelange verwendet werden. Die moderne Depressionsdiagnostik ist bestrebt, auf hypothetische, ursachenorientierte Einteilungsversuche zu verzichten und statt dessen depressive Zustandsbilder rein deskriptiv nach dem Schweregrad und nach dem Verlauf zu charakterisieren (HELL 1995). Klinische Systeme, die sich auf möglichst operationalisierbare, deskriptive Depressionskriterien zubewegen, sind die mittlerweile „10. Internationale Klassifikation der Krankheiten“, das in Deutschland verbindliche kategoriale Diagnosesystem, („10th revision of the International Classification of Diseases of the WHO“: ICD-10) und das „Diagnostic and Statistical Manual 4. Rev.“ (American Psychiatric Association 1990: DMS-IV). Das ICD- Klassifikationssystem der WHO soll international anwendbar sein und daher verschiedenste soziale und ökonomische Verhältnisse berücksichtigen sowie die verschiedenen Konzeptionen psychischer Störungen zusammenfassen. Dabei handelt es sich um ein mehrdimensionales Modell, welches die Krankheit auf fünf Achsen zu erfassen versucht: Die Klassifikation psychiatrischer Syndrome, der Persönlichkeitsstörung, der Bereich der organischen Erkrankungen sowie der Bereich der psychosozialen Anpassung und der sozialen Belastung (HUBER 1988, S. 26). Für Forschungszwecke fehlen den Kategorien „klare, operationale Definitionen“ (FRITZE 1987, S. 50). Sie überlappen sich weiterhin z.T. beträchtlich – ein hohes Maß an Reliabilität ist daher unwahrscheinlich bzw. stark abhängig von der Erfahrung des diagnostizierenden Arztes. Das nordamerikanische Klassifikationssystem DSM-IV wurde nur für die Belange eines einzigen Landes konzipiert. Als Vorteile gegenüber dem ICD werden die multitaxiale Diagnostik und die expliziten diagnostischen Kriterien genannt (FRITZE 1987, S. 51ff). Die Patienten werden je nach An- bzw. Abwesenheit von Symptomen und Begleiterkrankungen, Alter zu Ausbruch der Krankheit sowie Krankheitsschwere in die Kategorien eingestuft (KUPFER et al. 1989). Kategorien, die die Ursache als Hauptunterscheidungsmerkmal hervorheben, wie „endogene“ oder „neurotische“ Depression, werden heute nicht mehr verwendet. In den internationalen Diagnosenschlüsseln wurde die endogene Depression durch „Major Depressive Disorder“ (MDD) ersetzt und beschreibt – unabhängig von Auslöser und Ursache – eine schwere Form der Depression, die mindestens zwei Wochen, meist jedoch ungefähr 6 Monate andauert (POHLMEIER 1995). Ihr gegenüber steht die neurotische Depression oder Dysthymia, die chronisch auftritt und über lange Zeiträume (mindestens zwei Jahre) anhalten kann. Die Symptome sind oft gemäßigter als die der „endogenen Depression“. Reaktive Depressionen, die unmittelbar im Zusammenhang mit einem einschneidenden Ereignis stehen und nach 2-3 Wochen abklingen, werden in den internationalen Diagnoseschlüsseln nicht mehr unter affektiven Störungen, sondern bei Belastungsreaktionen aufgeführt. Dieses stark vereinfachte Schema kann nicht alle Erscheinungsformen der Depression umfassen, sondern nur eine – willkürlich vorgenommene – grobe Orientierung schaffen.

Klassifikation nach DSM-IV:

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Die Fülle von sich zum Teil überschneidenden Subkategorien wird hinsichtlich der möglichen Therapieformen als unangemessen hoch eingeschätzt, daher bieten sich für die Praxis einfachere Kategorisierungen an: Forschungssysteme sind die „Unipolar-Bipolar“- Unterscheidung (LEONHARD 1957, ANDREASEN 1982; je nach An- bzw. Abwesenheit einer manischen Phase), die „Primär-Sekundär“- Unterscheidung (WOODRUFF et al. 1967; je nach Primär- oder Begleitstatus der Depression, wobei nicht eindeutig ist, ob die vorangehenden Krankheiten körperlicher und/oder psychischer Natur sein müssen) und die „Endogen-Reaktiv“- Unterscheidung (PAYKEL et al. 1976; ANDREASEN et al. 1980; je nachdem, ob ein einschneidendes Ereignis die Depression ausgelöst hat). Für eine genauere Klassifikation der Depressionsformen fehlen noch eindeutige wissenschaftliche Grundlagen, die die Beziehung zwischen Ursache, Symptomatik, Verlauf, biologischer Ausgangslage, psychosozialer Situation und Biographie beleuchten (LUNGERSHAUSEN 1992). Zunehmend wächst der Druck auf die Psychiatrie, psychische Krankheiten so exakt und differenziert wie möglich zu erfassen, um aus der vorgenommenen Klassifizierung den größtmöglichen Nutzen für Prävention und Behandlung zu gewinnen. Die angestrebte, stets in Verbesserung inbegriffenen Systematisierung soll Rückschlüsse auf Ursachen, optimale Prognosen über den Verlauf sowie therapeutische Interventionen sowie eine verläßliche Zuordnung von Einzelfällen ermöglichen.

1.4 Epidemiologie

Nach Untersuchungen der WHO leidet jeder Fünfte weltweit einmal in seinem Leben an einer Depression (ÜSTÜN/SARTORIUS 1993, WEISSMAN et al. 1988). Allein in Deutschland leiden mindestens vier, vielleicht sogar acht Millionen Menschen an einer der vielen Formen der Gemütskrankheit (HEGERL 1999). Aufgrund ihrer mannigfaltigen, zum Teil larvierten Erscheinungsformen kann man davon ausgehen, daß diese Angaben nur einen Bruchteil der wirklich Erkrankten wiedergeben: nur bei jedem Zweiten wird die Krankheit auch erkannt und nur bei jedem vierten Depressiven wird sie auch behandelt (HOLSBOER 1999). Damit rangieren in den westlichen Industrienationen die Depressionen hinter den Angsterkrankungen auf Platz zwei auf der Liste der Erkrankungen des Nervensystems und beanspruchen so den überwiegenden Teil der jährlich rund 100 Millionen Mark, die im deutschen Gesundheitswesen für Erkrankungen des Nervensystems aufgebracht werden müssen. Die Lebenszeitprävalenzen, die die Zurich Cohort Study über einen Untersuchungszeitraum von zehn Jahren hervorbrachte, ergaben für Major Depressive Disorder (MDD) 14,4% und 3,3% für bipolare Störungen (ANGST 1992). Da sich Dysthymia zu bestimmten Verlaufszeitpunkten nicht von MDD angrenzen läßt (ANGST/WICKI 1991: sog. „double depression“, KELLER/ SHAPIRO 1982), ist ihre geringe Prävalenzrate (0,9 %) unter Berücksichtigung dieser Tatsache zu interpretieren. Die Inzidenzschätzungen (neue Fälle pro Jahr) für die Diagnose einer depressiven Episode liegen bei 1-2 Neuerkrankungen auf 100 Personen (HAUTZINGER 1998). Die Rückfallrate liegt bei 50% (LEPINE 1997), was unter anderem auch auf Fehldiagnosen und unzureichende Behandlungsmethoden zurückzuführen ist: immerhin haben 47% der Patienten, die wiederholt an einer Depression erkrankt waren, keine präventive Behandlung erhalten (KELLER et al. 1983). Die Rückfallneigung ist für Frauen höher als für Männer (HAUTZINGER 1998). Die steigende psychiatrische Morbiditätsrate (1998: 17%) läßt sich durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren erklären (HUBER 1988, S. 13):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Vorkommen von Depressionen kann mit einer Vielzahl von Faktoren in Verbindung gebracht werden, z.B. soziologischen Faktoren wie Geschlecht, Alter, Wohnsituation, Ernährung, Familienstand, dem sozio-ökonomischen Hintergrund des Betroffenen sowie genetischen Faktoren (WINOKUR 1981, S. 19). Bei der Forschung in diesem Bereich erhofft man sich durch das Herauskristallisieren signifikanter Interdependenzen aussagekräftige Rückschlüsse auf die Ursachen depressiver Störungen. Eine der aufschlußreichsten Untersuchungsmethoden ist die „cohort study“, die Menschen von dem Zeitpunkt ihrer Geburt durch das „age of risk“, die Jahre, in denen sie am anfälligsten für bestimmte Krankheiten sind, begleitet (WINOKUR 1981, ebenda). Aus der Auswertung der so gewonnenen Daten kann die Wahrscheinlichkeit (Inzidenzrate) errechnet werden, wie viele Menschen nach der „Risikophase“ an der betreffenden Krankheit erkranken werden. Die Tatsache, daß die Lebenszeitprävalenz für Männer 8%, für Frauen aber 20% beträgt (REMSCHMIDT 1999), läßt sich sowohl auf biologische (hormonelle Einflüsse, genetische Veranlagung) als auch auf soziologische (Abhängigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen, geschlechtsspezifische Bewältigungsstrategien) Faktoren zurückführen, wie auch darauf, daß Frauen sich eher in Behandlung begeben und somit registriert werden (WOLFERSDORF 1999). Neuere Studien lassen vermuten, daß das Erkrankungsrisiko für Mädchen und junge Frauen früher liegt und im Jugend- bzw. frühen Erwachsenenalter steiler ansteigt als für Jungen und junge Männer. Diese Geschlechtsunterschiede werden im mittleren und höheren Lebensalter geringer (HAUTZINGER 1998). Auch hinsichtlich des Altersfaktoren lassen sich Prognosen ableiten: Depressionen treten oft in Verbindung mit anderen chronischen Krankheiten auf, so daß ihre Prävalenz mit zunehmendem Alter ansteigt. Schwere Depressionen (MDD) treten bei Männern gehäuft um das 60. Lebensjahr auf, bei Frauen etwa zwischen 60 und 65 Jahren. An leichteren Depressionen erkranken dagegen Männer zwischen 25 und 40 Jahren und Frauen gehäuft um das 25. Lebensjahr. Ein weiterer Faktor ist die Wohnsituation: demzufolge erkranken Stadtmenschen häufiger an Depressionen als Landmenschen. Weitläufig untersucht ist auch der sozio-ökonomische Hintergrund. Rein depressive Patienten entstammen häufiger Familien aus der aufstrebenden Mittelschicht (WINOKUR 1981, S. 23, POHLMEIER 1995), manisch-depressive Patienten kommen gehäuft aus gehobenen Schichten. Leichte Depressionen (Neurosen) finden sich bei Städtern der unteren Schichten. Die erhobenen Werte lassen sich jedoch immer relativieren: so haben manisch-depressive Patienten aufgrund ihrer gehoben gesellschaftlichen Position erleichterten Zugriff auf sorgfältige medizinische Versorgung, so daß möglicherweise ihr Krankheitsbild genauer erfaßt wird. Weitere Risikofaktoren sind das Fehlen positiver Sozialbeziehungen und ein niedrigeres Bildungsniveau (HAUTZINGER 1998). Im Hinblick auf die Klassifikation der depressiven Störungen kommt GASTPAR (1984) im ambulanten Bereich auf folgende Verteilung: 70% reaktive Depressionen, 20% endogene Depressionen und 10% somatogene Depressionen, WOLFERSDORF et al. (1983) notieren im stationären Bereich 56% reaktive, 24% endogene und 1,2% somatogene Depressionen (MARSCHALL 1988, S. 13). Die ungenügende Berücksichtigung einzelner Subkategorien wie auch die Tatsache, daß nur ein bestimmter Anteil von Patienten überhaupt hospitalisiert wird (BERNDT et al. 1996), nehmen allerdings nicht unerheblichen Einfluß auf die Ergebnisse.

1.5 Ätiologie: verschiedene Ansätze

Nachdem Versuche, ein Modell zu konstruieren, das alle Depressionsformen repräsentiert, fruchtlos gescheitert sind, stehen sich immer noch eine Vielzahl ätiologischer Erklärungsansätze gegenüber: „Monokausale Betrachtungsweisen sind beim heutigen Wissensstand überholt“ (WOLFERSDORF et al. 1983). Die „multikausale, multifaktorielle Ätiopathogenese depressiver Erkrankungen“ steht außer Zweifel, so daß AKISKAL/McKINNEY (1975) depressive Erkrankungen als Endpunkt einer Vielzahl von Einflußfaktoren physiologischer, genetischer, psychosozialer und entwicklungsbedingter Art verstehen („final common pathway“).

1.5.1 Psychologische Ansätze

In den letzten Jahren wurden neben den somatischen Erklärungsansätzen auch verstärkt psychologische Depressionskonzepte miteinbezogen. Diese waren zunächst auf reaktive Depressionsformen beschränkt, gewannen nach und nach jedoch auch für endogene Depressionen an Bedeutung. Gerade im Hinblick auf die zunehmende Relevanz integrativer Ansätze gewinnt die Auffassung einer Interaktion biochemischer, psychologischer und sozialer Parameter an Gewicht.

1.5.1.1 Lerntheoretische Ansätze

Lewinsohn entwickelt ein systematisches Modell verstärkungstheoretischen Verständnisses depressiver Störungen (LEWINSOHN 1975). Die zentralen Überlegungen lassen sich in 3 Punkten zusammenfassen (nach HAUTZINGER 1998):

1. Eine geringe Rate an verhaltenskontingenter positiver Verstärkung kann eine Depression entstehen lassen sowie sie aufrecht erhalten;
2. Durch langanhaltende Löschungsbedingungen wird auch noch zu verstärkendes Verhalten negativ beeinflußt;
3. Die Gesamtmenge positiver Verstärker ist abhängig von dem Umfang potentiell verstärkender Ereignisse und Aktivitäten, dem Umfang verfügbarer Verstärker unter bestimmten Bedingungen und dem Verhaltensrepertoire des Menschen (seiner Fähigkeit, Verhalten zu zeigen, das verstärkt werden soll).

Verstärkerverlust als Ursache depressiver Krankheitsbilder (HAUTZINGER 1983, S. 192):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Experimentelle Untersuchungen dieses Konzeptes beweisen eine Relevanz nur für Teilbereiche depressiver Erkrankungen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dieses Modell mit anderen (BECK 1961, SELIGMAN 1979) zu verbinden (HAUTZINGER 1981).

1.5.1.2 Kognitive Ansätze

Becks Ansatz beruht auf der Auffassung, daß Kognitionen mit Verhalten und Gefühlen in engem Zusammenhang stehen, das heißt, Verhalten und Erleben kognitiv strukuriert werden (BECK 1961). Eine Depression manifestiert sich demnach in einer Störung der Kognition, die durch eine negative Sichtweise der eigenen Person, der Umwelt und der Zukunft beschrieben werden kann (HAUTZINGER 1990, S. 74). Diese Störung erfolgt durch belastende Erfahrungen während des Sozialisationsprozesses, durch streßreiche oder traumatische Erlebnisse, belastende „life-events“ (z.B. Verlust, Alter, einschneidende soziale Erlebnisse u.ä.), die das Individuum für bestimmte Ereignisse und Situationen sensitivieren, oder auch infolge biologischer Mechanismen. Durch Ähnlichkeiten der Situation oder der Reaktion können neue Erfahrungen bestimmte überdauernde, kognitive Strukturen auslösen und reaktivieren, welche zu einem verselbständigenden Prozeß werden, in dem sich kognitive Bedingungen und affektive Prozesse gegenseitig energisieren und in die Depression führen (JANNING et al. 1993). Die vorliegende, durch biologische, psychische und/oder soziale Stressoren ausgelöste Krise manifestiert sich in der Unfähigkeit des Individuums, mit Hilfe der habituellen Coping-Strategien sein labiles Humansystem in ein neues biopsychosoziales Gleichgewicht zu bringen und damit seine Identität bedroht ist (PETZOLD 1985). Da die Identität den Sinn des Lebens darstellt, gilt es sie über eine Wiederherstellung ihrer 5 Tragsäulen (Körpererleben, Beziehungen, Arbeit und Leistung, materieller Sicherheit und Wertvorstellungen) zu rehabilitieren (PETZOLD 1984). Kognitive Störungen drücken sich in einer verzerrten Wahrnehmung der Realität aus, die sich u.a. aus einer selektiven Wahrnehmung negativer Reize, einer negativen Selbstwahrnehmung, Mißerfolgserwartungen und der Unterschätzung positiver Ereignisse ergibt (HAUTZINGER 1998). Die emotionalen, motivationalen, motorischen, interaktiven und physiologisch-vegetativen Symptome sind Folgeerscheinungen dieser veränderten kognitiven Strukturen. Die kognitive Verzerrung beinhaltet u.a. willkürliche Schlußfolgerungen, selektive Abstraktionen, Übergeneralisierungen, Personalisierungen und absolutistisches Denken. Die veränderte Kausalattributierung bei Depressiven bringt mit sich, Erfolge auf externale Faktoren (Zufall, Leichtigkeit der Aufgabe) , Mißerfolge auf internale Faktoren (Unfähigkeit) zurückzuführen. Nach Abklingen der Depression normalisiert sich die Kausalattribution wieder – sie scheint von symptomatischer Bedeutung zu sein.

Seligmans Modell der gelernten Hilflosigkeit („learned helplessness“, SELIGMAN 1979) steht im Zusammenhang mit einer unkontrollierbaren aversiven Stimulation: Erfährt ein Individuum Nichtkontrolle über aversive, persönlich wichtige Lebens- und Umgebungsbedingungen, dann entwickelt sich Passivität, Apathie, Resignation, Appetit- und Gewichtsverlust, Lernschwierigkeiten, Generalisierung der Nichtkontrollerfahrung auf neue Situationen, endokrine Störungen, immunologische Defekte und vegetative Beschwerden (HAUTZINGER 1998). Seligman konzipiert depressive Störungen als Resultat der objektiven Erfahrung von Nichtkontrolle über subjektiv bedeutungsvolle Ereignisse. Die Hilflosigkeitserfahrungen werden durch Kausalattributierung zu internalen, stabilen und globalen Faktoren verarbeitet (FRITZE 1987, S. 87), wobei die Erwartung der Nichtkontrolle die kognitive Variable ist, die das Verhalten beeinflußt/ausschaltet. In Abhängigkeit von der Wichtigkeit, der Menge und der Ursachenzusschreibung (Kausalattribution) der aversiven, nichtkontrollierbaren Erfahrungen entwickeln Personen schnell hilfloses Verhalten und eine entsprechende Einstellung. Depression wird danach durch eine vorausgehende Erfahrung der Nichtkontrolle über subjektiv bedeutsame Ereignisse und der sich daraus entwickelnden Erwartung, auch zukünftig ohne Kontrolle zu sein, bedingt (HAUTZINGER 1998).

Linden hat bedeutsame Beschreibungsdimensionen verschiedener Ansätze zusammengefaßt, die für Entstehen einer Depression für relevant erachtet werden (LINDEN 1979):

a) nach der Theorie von LEWINSON (1974)
- der Mangel an sozialen Fertigkeiten
- die verminderte Anzahl der verfügbaren Verstärker in der Umwelt
- die verminderte Anzahl der für das Individuum potentiell verstärkenden Ereignisse
- die reduzierte Aktivitätsrate des Individuums,

b) nach der Theorie von BECK (1972)
- Denkstörungen
- arbiträre Inferenz
- selektive Abstraktion
- Übergeneralisierung
- Magnifizierung und Minimierung
- ungenaues Benennen,

c) nach der Theorie von SELIGMAN (1974)
- gelernte Hilflosigkeit durch Erfahrungen von Nichtkontrolle.

Die Frage, welche dieser psychologischen Parameter für bestimmte deskriptive Klassen besonders relevant seien, kann noch nicht befriedigend beantwortet werden (FRITZE 1987, S. 89).

1.5.1.3 Psychoanalytische Ansätze

Während bei normalem Objektverlust eine Trauerphase mit Loslösung der Libido vom geliebten Objekt stattfindet, gelingt diese Loslösung bei Personen, die später an einer Depression erkranken, nicht. Durch die Abziehung der Libido von der Objektbeziehung ins eigene Ich wird eine Identifizierung mit dem aufgegebenen Objekt hergestellt, wobei das Ich Eigenschaften des aufgegebenen Objektes erhält. Die Ambivalenz zu den geliebten und gehaßten Eigenschaften des Objekts führt zu einem intrapsychischen Konflikt: ein Teil des Ichs bewertet den modifizierten Ich-Anteil und klagt ihn an (FREUD 1921). Die Konversion des aggressiven Instinktes in einen depressiven Affekt führt auf lange Sicht zu nach innen gerichteter Aggression. Als wesentliche ätiologische Komponente betrachtet Freud die kulturelle Triebunterdrückung, die sich über die Objektbeziehungen an das Kind heranträgt und sich intrapsychisch als überstarkes Über-Ich auswirkt (FREUD 1924). Der Depression liegt insbesondere der Verlust des Selbstwertgefühls zugrunde, der auf mangelnde Wunschbefriedigung und die darauf folgende Aggression gegen die Selbstimago zurückzuführen ist. „Der sich anschließende Verlust des Selbstwertgefühls bringt einen narzißtischen Konflikt zum Ausdruck [...]“ (JACOBSON 1977, S. 234). Der Konflikt betrifft die wunschbestimmende Selbstimago und die Imago des entwerteten Selbst. Die Art der Stimmung hängt von der Intensität und Dauer der Feindseligkeit ab. Das unzulängliche Ich der präpsychotischen Persönlichkeit sei nicht in der Lage, den infantilen Konflikt mit den elterlichen Liebesobjekten oder deren Ersatzobjekten mit neurotischen Abwehrmechanismen zu meistern. Schließlich kommt es zu einem Zusammenbruch des gesamten psychischen Systems, zu Störungen des Realitätssinnes, der Wahrnehmung, der Einschätzung der Objektwelt und des eigenen Selbst. Im Gegensatz zur Schizophrenie käme es bei der Depression jedoch nicht zu einer vollständigen Desintegration der Persönlichkeit.

[...]

Fin de l'extrait de 95 pages

Résumé des informations

Titre
Sport und Bewegung bei depressiver Erkrankung
Université
University of Hamburg  (Fachbereich Sportwissenschaften)
Note
1
Auteur
Année
2000
Pages
95
N° de catalogue
V36369
ISBN (ebook)
9783638360234
Taille d'un fichier
862 KB
Langue
allemand
Annotations
Welche Auswirkungen hat Sporttreiben auf unsere Psyche? Kann sportliche Betätigung präventiv und therapeutisch gegen psyschiche Erkrankungen, insbesondere Depressionen, eingesetzt werden?
Mots clés
Sport, Bewegung, Erkrankung
Citation du texte
Katrin C. Schiek (Auteur), 2000, Sport und Bewegung bei depressiver Erkrankung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36369

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