Bis 2012 wurden bei Aktienverkäufen über den Dividendenstichtag – den sog. Cum ex-Geschäften – zum Teil mehrere Steuerbescheinigungen ausgestellt, obwohl die bescheinigte Kapitalertragsteuer nur einmal erhoben wurde. Mit Einreichen der Steuerbescheinigungen wurde der einmal erhobene Steuerbetrag sodann mehrfach angerechnet oder erstattet. Dem Fiskus ist dadurch ein Steueraufkommen in Milliardenhöhe entgangen.
Zu den Mehrfachbescheinigungen konnte es kommen, da der Erhebungs- und der Bescheinigungsvorgang der Kapitalertragsteuer bis 2012 auseinander fielen: Die Kapitalertragsteuer war von der emittierenden Aktiengesellschaft abzuführen, die Bescheinigung über die Steuererhebung wurde hingegen erst durch die Depotbank ausgestellt. Die Depotbanken konnten bei girosammelverwahrten Aktien nicht erkennen, ob zuvor ein Leerverkauf stattgefunden hatte und bereits Steuerbescheinigungen ausgestellt wurden. Sie stellten daher Steuerbescheinigungen zu viel aus. Aber auch bei Wertpapierleihen über den Dividendenstichtag wurden mehrfach ausgestellte Steuerbescheinigungen zur Anrechnung genutzt. Der BFH entschied in seinem Urteil vom 16.04.2014, dass auch hier unzulässig angerechnet wurde.
Mit dem Jahressteuergesetz (JStG) zu 2007 löste der Gesetzesgeber das Problem der Mehrfachanrechnungen zumindest teilweise, indem er die Dividendenkompensation der Kapitalertragsteuer unterwarf und inländische Depotbanken zur erneuten Steuerabfuhr verpflichtete. Unter Beteiligung eines ausländischen Kreditinstituts auf Leerverkäuferseite wurden jedoch auch noch nach der Gesetzesänderung ohne erneute Steuererhebung mehrere Steuerbescheinigungen ausgestellt.
Erst mit der Änderung des Erhebungssystems durch das OGAW-IV-Umsetzungsgesetz zu 2012 ist die mehrfache Bescheinigung nicht mehr zu befürchten. Sowohl die Abführung, als auch die Bescheinigung erfolgen nunmehr durch die Depotbanken des Kapitalertragsgläubigers. Für die Fälle vor 2012 sind jedoch entscheidende Rechtsfragen bis heute ungeklärt. Bereits umstritten ist, ob nicht bis zur Gesetzesänderung in 2011 eine „Gesetzeslücke“ bestand, unter der es steuerrechtlich sogar zulässig war, die lediglich einmal einbehaltene Kapitalertragsteuer mehrfach anzurechnen. Die Bundesregierung positionierte sich deutlich dazu. Sie erkenne keine „Gesetzeslücke“ – die Geschäfte seien „illegal“. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Cum ex-Geschäfte – strafbare Steuerhinterziehung?
- A. Einführung
- B. Cum ex-Geschäfte als Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen
- I. Cum ex-Geschäft in Form des Inhaberverkaufs
- II. Cum ex-Geschäft bei „modellhaft auferlegtem Gesamtvertragskonzept“
- III. Cum ex-Geschäft in Form des Leerverkaufs
- IV. Folgerungen für die strafrechtliche Untersuchung
- C. Strafbarkeit des anrechnenden Erwerbers wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO
- I. Objektiver Tatbestand des § 370 AO
- 1. Taterfolg der Steuerhinterziehung
- a) Steuerverkürzung (§ 370 Abs. 1, 1. Alt. AO) oder „anderer nicht gerechtfertigter Steuervorteil“ (§ 370 Abs. 1, 2. Alt. AO)?
- b) Anrechnung als nicht gerechtfertigter Steuervorteil des Erwerbers bei Cum ex-Geschäften mit „modellhaft aufgelegtem Gesamtvertragskonzept“
- c) Anrechnung als nicht gerechtfertigter Steuervorteil des Erwerbers bei Cum ex-Geschäften unter Leerverkauf
- aa) Einkunft nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG
- (1) Seit 2007: Dividendenkompensationszahlung als Einkunft des Leerkäufers gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 4 EStG
- (2) Vor 2007: Einkunft des Leerkäufers gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 EStG?
- (a) Teile der Literatur und Rechtsprechung: Leerkäufer ist nicht wirtschaftlicher Eigentümer gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO
- (b) Gegenauffassung
- (c) Stellungnahme
- (3) Zwischenergebnis
- bb) „Steuererhebung“ im Sinne von § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG beim Leerkäufer?
- (1) Teile der Literatur und Rechtsprechung: Steuer des Leerkäufers ist nicht „erhoben“ im Sinne von § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG
- (2) Gegenauffassung
- (3) Stellungnahme
- d) Im Strafverfahren: Entscheidung In dubio pro reo?
- e) Zwischenergebnis zum Taterfolg
- 2. Tathandlung (§ 370 Abs. 1 Nr. 1-3 AO)
- a) Aussage über Zulässigkeit der Anrechnung keine Tatsachenangabe im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO
- b) Unterlassene Offenlegung des Sachverhalts als unrichtige oder unvollständige Tatsache im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO?
- aa) Grundsätzlicher Meinungsstand im Steuerstrafrecht zu Offenlegungspflichten bei umstrittener Rechtslage
- bb) Offenlegungspflichten des anrechnenden Erwerbers bei Cum ex-Geschäften?
- cc) Zwischenergebnis zu den Offenlegungspflichten
- c) Zwischenergebnis zur Tathandlung
- 3. Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg
- 4. Zwischenergebnis zum objektiven Tatbestand des § 370 AO
- II. Subjektiver Tatbestand des § 370 AO und Irrtumsfragen
- 1. Irrtum über den Leerverkauf
- 2. Rechtsirrtum über die steuerrechtliche Anrechnungszulässigkeit und den „nicht gerechtfertigten Steuervorteil“
- a) Deliktstypus des § 370 AO als Blankett spricht für Beurteilung des Rechtsirrtums als Verbotsirrtum (§ 17 StGB)
- b) Herrschende Steueranspruchstheorie behandelt Rechtsirrtum dennoch als Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB)
- c) Zwischenergebnis zum Rechtsirrtum
- 3. Zwischenergebnis zum subjektiven Tatbestand des § 370 AO
- III. Ergebnis zur Strafbarkeit des anrechnenden Erwerbers wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO
- D. Strafbarkeit der weiteren an dem Cum ex-Geschäft Beteiligten
- I. Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB)
- II. Mittelbare Täterschaft
- III. Anstiftung und Beihilfe
- IV. Bandenmäßige Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO)
- V. Zwischenergebnis
- E. Fazit
- Definition und Funktionsweise von Cum ex-Geschäften
- Strafbarkeit des anrechnenden Erwerbers wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO
- Bedeutung des objektiven und subjektiven Tatbestands
- Strafbarkeit der weiteren am Cum ex-Geschäft Beteiligten
- Bedeutung von Irrtumsfragen und Offenlegungspflichten
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese wissenschaftliche Arbeit befasst sich mit der Frage, ob Cum ex-Geschäfte als strafbare Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 AO einzustufen sind. Ziel ist es, die rechtliche Einordnung dieser Geschäfte vor dem Hintergrund des deutschen Steuerstrafrechts zu untersuchen.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einführung in die Thematik der Cum ex-Geschäfte und erläutert deren unterschiedliche Formen. Anschließend wird die Frage untersucht, ob diese Geschäfte als Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen in Betracht kommen.
Im Fokus des Kapitels C steht die Strafbarkeit des anrechnenden Erwerbers wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO. Es werden die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale sowie mögliche Irrtumsfragen behandelt.
Kapitel D widmet sich der Strafbarkeit der weiteren an dem Cum ex-Geschäft Beteiligten. Hier werden die möglichen Formen der Mittäterschaft, Mittelbaren Täterschaft, Anstiftung, Beihilfe sowie die bandenmäßige Steuerhinterziehung analysiert.
Schlüsselwörter
Cum ex-Geschäfte, Steuerhinterziehung, § 370 AO, Strafbarkeit, Objektiver Tatbestand, Subjektiver Tatbestand, Irrtum, Offenlegungspflicht, Mittäterschaft, Mittelbare Täterschaft, Anstiftung, Beihilfe, Bandenmäßige Steuerhinterziehung.
- Citar trabajo
- Nicola Meier (Autor), 2016, Cum ex-Geschäfte. Strafbare Steuerhinterziehung?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/365328