Das Menschenbild in der französischen Klassik am Beispiel von La Rochefoucauld


Dossier / Travail de Séminaire, 2002

22 Pages, Note: Sehr gut (1.0)


Extrait


1. Inhalt

2. Einleitung

3. Le siècle classique – Die Epoche

4. La Cour et la ville – Die Gesellschaft

5. Les honnêtes gens – Das Menschenbild

6. Les Moralistes – Die „Normenvermittler“

7. La Rochefoucauld – Der Moralist
7.1. Frondeur et Honnête homme – Sein Leben
7.2. Maximes et Réflexions diverses – Sein Werk
7.3. L’amour propre, la passion, l’égoïsme – Sein Menschenbild
7.4. Négation, généralisation, précision – Sein Stil

8. Zusammenfassung

9. Literatur

2. Einleitung

Croire à des sentiments simples

est une façon simple de considérer les sentiments.

André Gide

„Was ist der Mensch?“- Eine Frage, die so alt ist wie die Menschheit selbst. Eine Frage, der im 17. Jahrhundert La Rochefoucauld in seinen Maximen nachging und die auch im 21. Jahrhundert nichts an ihrer Relevanz verloren hat. Eine Frage, auf die es bis heute keine einfache Antwort gibt, weder im zwischenmenschlichen noch im gesamtgesellschaftlichen Bereich.

Dabei gibt es durchaus Parallelen zwischen der Entstehungszeit der Maximen und der aktuellen gesellschaftlichen Situation. Die Gesellschaften befinden sich im Umbruch – damals von der feudalistischen zur absolutistischen, heute von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Mediengesellschaft. Traditionelle Wert- und Moralvorstellungen stehen zur Disposition und werden durch neue Prinzipien ersetzt. Die Fragen aber bleiben die alten. Was bestimmt das Handeln politischer und gesellschaftlicher Akteure? Entspricht die öffentliche Meinung der veröffentlichten (=offizielle) Meinung und gibt diese die tatsächlichen Handlungsintentionen der Akteure wieder? Heute wie damals gilt es Schein(heiligkeit) zu durchschauen und den Dingen auf den Grund zu gehen.

Diese Arbeit befaßt sich im Folgenden zunächst mit der Frage, inwieweit sich Veränderungen im gesellschaftlichen System auf die literarische Produktion im Frankreich des 17. Jahrhunderts auswirkten. Dabei wird herausgearbeitet werden, wer die literarische Produktion der Zeit bestimmte und an welchen Orten in welcher Form Literatur entstand. Am Beispiel von La Rochefoucauld werden abschließend die literarische Kleingattung der Maximen und das ihnen zugrundeliegende Menschenbild näher analysiert.

3. Le siècle classique – Die Epoche

C’étoit un tems digne de l’attention des tems à venir, que celui où les héros de Corneille & de Racine, les personages de Moliére, les symphonies de Lulli toutes nouvelles pour la nation, & (puis qu’il ne s’agit ici que des arts) les voix des Bousset & des Bourdalouë, se fasoient entendre à Louis XIV, à Madame si célébre par son goût, à un Condé, à un Turenne, à un Colbert, & à cette foule d’hommes supérieurs qui parurent en tout genre. Ce tems ne se retrouvera plus, où un Duc de Rochefoucault, l’auteur des Maximes, au sortir de la conversation d’un Pascal & d’un Arnauld, alloit au théatre de Corneille.

Voltaire

Die „unwiederbringliche Zeit“ des 17. Jahrhunderts ließ Voltaire rückblickend in seinem Geschichtsepos „Le siècle Louis XIV.“ wiederaufleben und trug so wesentlich zur Glorifizierung dieser, auch als le grand siècle oder le siècle classique bezeichneten Epoche bei. Daß letztere Bezeichnung eine idealtypische ist und sich die als „klassisch“ charakterisierte Periode keineswegs über genau ein Jahrhundert erstreckt, wird im folgenden ebenso präzisiert wie der Umstand, daß die in dieser Zeit entstandenen literarische Werke nicht so homogen sind, wie die (ver)einheitliche(nde) Bezeichnung vermuten läßt.

Das siècle classique wird von zwei Ereignissen eingegrenzt, die aus historisch-soziologischer Sicht Schlüsselereignisse mit weitreichenden Folgen für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Frankreichs darstellten. Es beginnt am Ende des 16.Jahrhundert mit dem Edikt von Nantes 1598 und endet Anfang des 18.Jahrhunderts mit dem Tod Ludwig XIV. im Jahr 1715.[1]

Im Edikt von Nantes garantierte Heinrich IV. den Hugenotten freie Religionsausübung sowie deren politische und juristische Gleichbehandlung und befriedete endlich das von drei Jahrzehnten Religionskrieg schwer gezeichnete Land.

So tolerant wie Heinrich IV. in religiösen Angelegenheiten war (der ehemalige Hugenottenführer konvertierte als König 1593 zum Katholizismus), so unkonventionell zeigte er sich in Fragen von Wirtschaft und Politik. Durch eine „kreative“ Steuerpolitik (Senkung direkter bei gleichzeitiger Erhöhung indirekter Steuern) suchte er den Wiederaufbau des Landes zu beschleunigen, förderte aktiv Handel und Gewerbe im Land und setzte sich für deren Ausweitung auf die französischen Kolonien in Nordamerika ein. In die Regierungszeit Heinrich IV. fielen denn auch die Gründung der ersten festen Handelsniederlassungen in der Nouvelle-France (1604-Port-Royal, 1608-Quèbec). Als erster „Merkantilist“ Frankreichs schuf Heinrich IV. so die wirtschaftlichen Grundlagen zur Stärkung der Monarchie, auf denen Richelieu und Colbert nach ihm aufbauen konnten. Die erfolgreiche Finanzpolitik seines Oberintendanten Sully führte zudem zum schnellen Abbau der Staatsschuld und einem ausgeglichenen Staatshaushalt. Auch politisch bereitete er den Absolutismus durch die systematische Stärkung der königlichen Autorität gegenüber dem Adel und den Städten vor. Von großer Bedeutung war dabei die Verabschiedung der Paulette (1604), eines Edikts, das die Erblichkeit und freie Verkäuflichkeit von Ämtern erleichterte. Neben zusätzlichen Einnahmen für den Staatshaushalt beförderte die Ausweitung der simonie (=Ämterkauf) die Entstehung eines neuen staatstragenden Standes, der noblesse de robe. Wichtige Positionen in der Finanz- und Justizverwaltung waren bald von Vertretern des neuen Amtsadels, der sich dem König gegenüber loyal verhielt, besetzt. Sehr zum Unwillen des alten Blutadels, der seinen Einfluß auf den König schwinden sah, denn dieser stützte sich immer mehr auf den Rat einer kleinen Zahl von Fachleuten, die er an seinem Hof versammelte, und bezog Vertreter der noblesse de sang in seine Entscheidungen immer seltener ein.[2]

Der Tod Ludwigs XIV. markiert das Ende der zu untersuchenden Epoche. In den 54 Jahren seiner Regentschaft wuchs Frankreich außenpolitisch zu einer Hegemonialmacht heran, der sich die übrigen europäischen Mächte mittels ständig wechselnder Bündnisse erwehren mußten. Innenpolitisch verschmolzen Machtwille und Selbstverständnis des Monarchen zu einer untrennbaren Einheit: «L’état, c’est moi». Mit Ludwig XIV. ging denn auch ein Wandel in der Rolle des französischen Königs einher. Die Anfangszeit seiner Regentschaft war von zahlreichen Reformen in der Regierungspitze (neue Zusammensetzung des königlichen Rates), in Verwaltung (Einführung des Intendantensystems), Justiz (Degradierung der Cours souveraines zu Cours supérieures), Handel (aktive staatliche Wirtschaftsförderung - „Colbertinismus“) und Kunst (staatliches Mäzenatentum) gekennzeichnet, die allesamt dem Ziel dienten, die monarchie absolue gegen die Widerstand des Adels und der Städte zu behaupten. Was Ludwig XIV. auch gelang. Kontinuierlich festigte er seine Alleinherrschaft durch permanente Präsenz königlicher Macht in den Provinzen, durch Konzentration und Repräsentation des Hofes in Versailles und nicht zuletzt durch direkten Einfluß auf die Kunstproduktion. Ludwig XIV. instrumentalisiere wie kein anderer König vor ihm die Künste für seine Zwecke. Über die reine Dokumentation seiner Herrschaft hinausgehend, lies sich der „Sonnenkönig“ durch bildende Kunst, Architektur, Literatur, Musik und höfisches Leben effektvoll präsentieren oder inszenierte sich selbst und prägte damit ganz entscheidend das Bild Frankreichs im 17.Jahrhundert – le siècle Louis XIV. Diese ambitionierte wie aufwendige Staatsführung stärkte einerseits die Position Frankreichs in Europa und gab den Franzosen das Gefühl nationaler Größe – le grand siècle. Andererseits ruinierten die vielen Kriegszüge die Staatsfinanzen und bürdeten der Bevölkerung schwere Lasten auf. So fällt das Fazit der Regierungszeit Ludwig XIV. zwiespältig aus und schwankt zwischen Bewunderung und Kritik.[3]

War das siècle classique aber nun ein rein klassisches Jahrhundert? Die Einteilung in Frühklassik, Klassik und Spätklassik u.a. bei Grimm[4] und Köhler[5] unterstützt diese Annahme und impliziert, daß das Jahrhundert ausschließlich klassisch dominiert war. Die Hochzeit der Klassik wurde demnach von einer langen Vor(bereitenden)-Phase eingeleitet und klang schließlich bis ins nachfolgende Jahrhundert aus.

Welche Bedeutung hat dabei das Attribut „klassisch“? Ursprünglich entstammt das Wort dem lateinischen „classicus“, was zunächst eine soziale Schicht bezeichnete. Im Zuge einer Neuordnung der Institutionen des Staates teilte Servius Tullius (ca.578 v.Chr. – 534 v.Chr.), 6. König von Rom, die Bürger der Stadt entsprechend ihres Einkommens in fünf Klassen ein. Ein „classicus“ gehörte der ersten Steuerklasse an, die „classici ciues“ waren die Bürger erster Klasse, also die wirtschaftliche Elite des Staates.[6] Von Aulus Gellius (um 150 n.Chr.) auf die Literatur übertragen, stellte der „scriptor classicus“ einen Schriftsteller ersten Ranges dar. Als solcher wurde beispielsweise Cicero von seinen Mitbürgern geschätzt.[7]

Ganz im Sinne dieser Wertschätzung stand auch bis ins 18. Jahrhundert die französische Bedeutung des Wortes, als die Werke der Autoren des 17. Jahrhunderts wegen ihrer sprachlichen Reinheit und künstlerischen Vollendung von der folgenden Schriftstellergeneration entdeckt und als vorbildhaft eingeschätzt wurden. Klassisch ist zu dieser Zeit, qui mérite d'être imité.[8]

[...]


[1] Lagarde&Michard legen dessen Beginn 1610 mit dem Tod Heinrich IV. fest.

[2] Vgl. HINRICHS:1994:162-171

[3] Vgl. HINRICHS:1994:187-215

[4] GRIMM unterscheidet in Vorklassik (1598-1630), Hochklassik (1660-1685) und Nachklassik (bis 1715); vgl. GRIMM:1991:136f

[5] KÖHLER unterscheidet in Vorklassik (1610-1652); Hochklassik (1652-1685) und Frühaufklärung (bis 1715); vgl. KÖHLER:1983 :11f

[6] Vgl. Wörterbuch der deutschen Sprache: http://www.wissen.de

[7] Vgl. Lexikon der Westeuropäischen Typographie: http://www.typolexikon.de/k/klassizistische-antiqua.html

[8] Vgl. Le Grand Robert Électronique

Fin de l'extrait de 22 pages

Résumé des informations

Titre
Das Menschenbild in der französischen Klassik am Beispiel von La Rochefoucauld
Université
Dresden Technical University  (Institut für Romanistik)
Cours
Hauptseminar Literarische Gattungsvielfalt im 17.Jahrhundert
Note
Sehr gut (1.0)
Auteur
Année
2002
Pages
22
N° de catalogue
V36603
ISBN (ebook)
9783638361781
ISBN (Livre)
9783638886352
Taille d'un fichier
449 KB
Langue
allemand
Annotations
'Was ist der Mensch?'- Eine Frage, die so alt ist wie die Menschheit selbst. Eine Frage, der im 17. Jahrhundert La Rochefoucauld in seinen Maximen nachging und die auch im 21. Jahrhundert nichts an ihrer Relevanz verloren hat. Eine Frage, auf die es bis heute keine einfache Antwort gibt, weder im zwischenmenschlichen noch im gesamtgesellschaftlichen Bereich. Dabei gibt es durchaus Parallelen zwischen der Entstehungszeit der Maximen und der aktuellen gesellschaftlichen Situation. Die Gesellscha
Mots clés
Menschenbild, Klassik, Beispiel, Rochefoucauld, Hauptseminar, Literarische, Gattungsvielfalt, Jahrhundert
Citation du texte
Thomas Scheufler (Auteur), 2002, Das Menschenbild in der französischen Klassik am Beispiel von La Rochefoucauld, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36603

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