Die Umsetzung der Inklusion zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Am Beispiel des Landes Niedersachsen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

25 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Inklusion ̶ Versuch einer Definition
2.2 Die UN-Behindertenrechtskonvention

3. Die Umsetzung der Inklusion in Niedersachsen
3.1 Die rechtlichen Grundlagen im niedersächsischen Schulsystem
3.2 Die Praktizierung der Inklusion in Niedersachsen

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Pressegespräch Schuljahresbeginn 2016/17

Abbildung 2: Pressegespräch Schuljahresbeginn 2016/17, S. 3.

Abbildung 3: Pressegespräch Schuljahresbeginn 2016/17, S. 5

Abbildung 4: Niedersachsen setzt „Rahmenkonzept Inklusive Schule“ um – Heiligenstadt: „Meilenstein für erfolgreiche Arbeit mit heterogener Schülerschaft“

Abbildung 5: Rahmenkonzept (18.04.2017)

1 Einleitung

Im niedersächsischen Bildungsgesetz über die inklusive Schule ist festgeschrieben

„dass in Niedersachsen Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung an jedem Lernort ihren Bedürfnissen und Ansprüchen entsprechend lernen können, die notwendige Qualität und der erforderliche Umfang an Unterstützung für alle Schülerinnen und Schüler gesichert sind, die Zusammenarbeit aller an der Förderung eines Kindes bzw. Jugendlichen beteiligten Personen und Institutionen gewährleistet ist und sonderpädagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote ein qualitativ hochwertiges gemeinsames Lernen ermöglichen.“ (Kultusministerium Niedersachsen, Einführung der inklusiven Schule – Hinweise für die kommunalen Schulträger, S. 1.)

Dieses Zitat vom Niedersächsischen Kultusministerium in Bezug auf die Inklusion erweckt den Anschein, dass das inklusive Schulsystem in diesem Bundesland eine Normalität sei. Dies stellt jedoch lediglich den Anspruch des niedersächsischen Schulsystems auf offizieller Ebene dar. Demzufolge stellet sich die Frage nach der Umsetzung in der Praxis: Bietet das Land Niedersachsen (ND) die notwendigen Rahmenbedingungen, um die Inklusion dort gerecht umzusetzen?

Der Fokus diese Seminararbeit liegt auf der Umsetzung[1] der Inklusion im Bundesland Niedersachsen.[2] Dabei soll die Divergenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit dieses Bildungsverständnisses dargestellt werden. Von daher lautet der konkrete Untersuchungsschwerpunkt dieser Seminararbeit, inwieweit sich am niedersächsischen Bildungssystem der Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Anspruch in Bezug auf die Umsetzung der Inklusion zeigt.

Seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 ist Deutschland dazu verpflichtet, sein Bildungssystem inklusiv zu gestalten. Mit dem Artikel 24 dieser Konvention wurde festgeschrieben, dass Menschen mit und ohne Förderbedarf[3] denselben Zugang zu Bildung haben.[4] Von diesem Tag an sollte es vom Anspruch her also keine Selektion und Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern (SuS) mit Förderbedarf geben. Durch die Tatsache, dass Deutschland ein föderales Bildungssystem besitzt, ist es notwendig, jedes Bundesland einzeln zu betrachten, denn die jeweiligen Länder betreiben ihre eigene Schulpolitik und formulieren ebenso ihren eigenen Weg in Bezug auf die Umsetzung der Inklusion.[5]

Dieses Thema ist besonders für angehende Lehrkräfte elementar, denn die inklusive Förderung der SuS wird in Zukunft das bedeutendste Element bei der Unterrichtsplanung sein. Es ist wichtig, dass die Lehramtsstudenten sich mit diesem Thema auseinandersetzen, denn die Schule der Zukunft ist inklusiv. Das Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen, die es umzusetzen gilt. Als Lehrkräfte gilt es, dieses inklusive Schulsystem so gut es geht, mitzugestalten und darüber Kenntnisse zu haben. Deshalb ist es fundamental, dass grundlegende Strukturen, aber auch Probleme im Inklusiven Bildungssystem des Landes ND in Betracht gezogen werden. Vor allem ist diese Auseinandersetzung in dieser Seminararbeit aber auch deswegen bedeutend, weil dadurch besser beurteilt werden kann, was das Land ND in diesem Bereich für Unterstützung bietet und was für offizielle Anforderungen an die Schule und an die Lehrerinnen und Lehrer (LuL) gestellt werden.

Der Aufbau dieser Seminararbeit untergliedert sich in vier Kapitel. Nach der Einleitung werden im Kapitel 2 die theoretischen Grundlagen geschaffen, indem der Begriff der Inklusion definiert und die Behindertenrechtskonvention erläutert werden. Diese Konvention bildet, wie bereits erwähnt, die Grundlage für das deutsche föderale Bildungssystem, sodass deren Bestimmungen auch für ND geltend sind. Nachdem wichtige theoretische Aspekte für das bessere Verständnis dargelegt wurden, erfolgt im Kapitel 3 der Blick auf die konkrete Praxis der Umsetzung. Im Abschnitt 3.1 wird auf die rechtlichen Bestimmungen eingegangen, die ND im Bereich der Inklusion normiert hat. Dabei ist der Blick in das niedersächsische Bildungsgesetz aus dem Jahr 2012 unerlässlich. Nachdem der Klärung der rechtlichen Aspekte wird die Umsetzung in der Praxis beleuchtet. Mithilfe von Statistiken und Grafiken wird darauf eingegangen, wie inklusiv das niedersächsische Bildungssystem ist. Die wichtigsten Schlussfolgerungen und einen Ausblick auf die Zukunft und auf die damit verbundenen Herausforderungen für die Umsetzung der Inklusion werden im abschließenden Fazit dieser Seminararbeit dargestellt.

Zu den verwendeten Daten lässt sich kurz anmerken, dass neben der Sekundär- und Forschungsliteratur auch die Veröffentlichungen auf der Seite der Kultusministerkonferenz des Landes ND als Grundlage dienen. Zum einen bieten sich hier die schulstatistischen Kennzahlen an und zum anderen dient die jeweilige nationale Gesetzeslage in den einzelnen Ländern als Basis der Untersuchung. Die veröffentlichen Gesetze geben nämlich Aufschluss über die Rahmenbedingungen und Grundhaltungen zur Inklusion im jeweiligen Bundesland.

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Inklusion ̶ Versuch einer Definition

Bezüglich einer Definition dieses Begriffes ist beim Konsultieren der Literatur auffällig, dass es keine allgemeingültige Begriffsbestimmung gibt.[6] Im Folgenden wird daher versucht, eine eindeutige Definition des Begriffes der Inklusion zu formulieren, da diese theoretische Kenntnis für die spätere Beurteilung von Bedeutung ist. Verschiedene Forscher und auch verschiedene Institutionen beziehen sich auf den Begriff und versuchen ihn, definitorisch zu fassen. Die hier angeführte Definition ist somit nicht umfassend.

Der Begriff Inklusion ist seit der Ratifizierung der BRK in aller Munde.[7] Wocken spricht davon, dass durch die Etablierung der Inklusion eine völlig neue Epoche des Zusammenlebens entstanden ist. Er sieht den Endpunkt der historischen Entwicklung nahen: „Inklusion ist die ultimative Integration, sozusagen der Olymp der Entwicklung, danach kommt nichts mehr.“[8]

Etymologisch betrachtet leitet sich der Begriff Inklusion vom lateinischen Wort „includere“ ab. Dies bedeutet so viel wie „einschließen“, „einsperren“ oder „beinhalten“.[9] Diese Übersetzungen scheinen auf den ersten Blick negativ. Doch in Bezug auf die Pädagogik bezeichnen sie etwas Positives, da die SuS, egal welche verschiedenen Bedingungen und Voraussetzungen sie mitbringen, am Schulsystem teilhaben können. Es gibt somit in der Pädagogik kein Innen und Außen, sondern der Zugang zu Bildung schließt jeden Einzelnen mit ein.[10] Laut Ernst Begemann muss also das Recht auf Bildung für jedes Kind vorhanden sein, indem es alle Möglichkeiten geboten bekommt, Zugang zu Bildung zu erhalten.[11] In diesem Zusammenhang ist auch wichtig zu erwähnen, dass Inklusion ein Menschenrecht ist und bei Nichtbeachtung eingeklagt werden kann.[12]

Auch Annette Textor formulierte eine Definition von Inklusion: „[…] dass alle [Hervorhebung durch den Autor] Schülerinnen und Schüler die Möglichkeiten haben, ihre wohnortnahe Regelschule [Hervorhebung durch den Autor] zu besuchen […] und die dort für sie ggf. notwendige Unterstützung zu erhalten, um ihre individuellen Lernziele [Hervorhebung durch den Autor] erreichen zu können.“[13]

Es werden drei Aspekte an dieser Definition deutlich:

1. Die Inklusion schließt alle Schülerinnen und Schüler mit ein.
2. Sie sollen auf eine Regel- und keine Sonderschule gehen.
3. Bei der Inklusion spielt die Individualität und Verschiedenheit eine enorme Rolle.

Über diese groben Grundannahmen herrscht in der Forschung Konsens, die sich jedoch bei genauerer Beschreibung wieder unterscheiden. Andreas Hinz und Ines Boban sind im Bereich der Inklusionspädagogik wichtige Forscher, sodass sich diese Seminararbeit stark auf deren Ansichten bezieht. Die beiden Autoren stellen wesentliche Komponenten auf, die mit diesem Begriff verbunden sind. Wichtige Geschichtspunkte sind:

a) die gleiche Wertschätzung aller Schülerinnen und Schüler,
b) die Steigerung der Teilhabe aller SuS an […] Kul­tur, Unterrichtsgegenständen und Gemeinschaft ihrer Schule,
c) der Abbau von Barrieren für die Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler,
d) die Sichtweise, dass Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern Chancen für das gemeinsame Lernen sind und nicht Probleme, die es zu überwinden gilt.“[14]

Mit diesen Forderungen ist die Ansicht von Wocken verbunden, dass die Inklusion die Überwindung der Zwei-Klassen-Theorie bedeutet.[15] Es soll demnach in einem Inklusiven Schulsystem keine Selektion und Segregation von SuS nach ihrem Geschlecht, ihrer Ethnie und auch nach ihrer Behinderung geben. Es gibt nur noch – mit den Worten Wockens formuliert – eine gemeinsame Klasse.[16]

Die Grundannahme dieses Begriffes ist die Verschiedenheit der SuS. Die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen stehen im Vordergrund. Jeder Schüler und jede Schülerin ist einzigartig und diese Einzigartigkeit gilt es, zu respektieren und zu fördern. Durch diese spezifischen Merkmale jedes Einzelnen darf es keine Aussonderung mehr geben. Heterogenität ist somit nicht mehr etwas Besonderes, sondern sie ist in einem Inklusiven System Normalität.[17] Die Pädagogik und auch die praktischen Unterrichtsplanungen gehen somit von den Bedürfnissen der SuS aus und versuchen, diesen gerecht zu werden. Die LuL stehen bei der Umsetzung der Inklusion vor großen Herausforderungen sowie vor der Aufgabe, jedem SuS in seiner Verschiedenheit, denselben Zugang zum Lernen zu ermöglichen.[18]

Nach Preuß ist aber nicht nur die Schule inklusiv zu gestalten, sondern auch die Gesellschaft. Laut ihr müsse jegliches gesellschaftliche Miteinander ohne Diskriminierung und Aussonderung stattfinden. Somit müsse nicht nur die Schule, sondern auch die Gesellschaft insgesamt in die Leistungen des gesellschaftlichen Erziehungssystems einbezogen werden.[19] Hinz unterstützt diese Ansicht und erklärt, dass deshalb die Inklusion „als Veränderung und einen nicht enden Prozess zu deuten sei.“[20] Die schulische Inklusion dürfe deswegen kein isoliertes Phänomen bleiben. Sie müsse mit einer grundlegenden Neuorientierung Hand in Hand gehen, sodass Bielefeldt davon spricht, dass die „Architektur der Gesellschaft im Ganzen auf den Prüfstand gestellt werden [solle], denn auch die Gesellschaft müsse nun inklusiv werden. Konkret fordert er, dass „in allen gesellschaftlichen Bereichen Behinderung als Bestandteil normalen menschlichen Zusammenlebens [verstanden und akzeptiert wird].“[21] Somit weisen die Autoren darauf hin, dass mit der Umsetzung von Inklusion enorme Hürden verbunden seien.

Diese Ausführungen in diesem Kapitel sollen für die Definition genügen, wobei noch viele Aspekte angesprochen werden könnten, die aber hier aufgrund des Umfangs nicht erwähnt werden können. Im nächsten Kapitel wird dargelegt, auf welche rechtlichen Grundlagen sich dieses Konzept stützt und wie sich der Begriff im deutschen Bildungssystem entwickelt hat.

2.2 Die UN-Behindertenrechtskonvention

Um das Thema Inklusion in ND besser verstehen zu können, ist es unabdinglich, einen geschichtlichen Bezug zum Thema zu ziehen, da dadurch die rechtlichen Forderungen offengelegt werden können, die mit diesem Konzept verbunden sind.

Die BRK führte dazu auf, dass die Bundesländer gravierende Veränderungen im Bildungssystem umgesetzt haben. Die gemeinsame Beschulung ist für jedes Bundesland als Ziel ausgeschrieben worden. Sie müssen seit dieser Konvention also genau begründen, warum sie spezielle Förderungen anstreben. Sonderschulen sollen demnach in den einzelnen Bundesländern weniger als bisher gefördert werden. Die allgemeine Schule soll für alle gleichermaßen gelten.[22] Hierbei muss angeführt werden, dass in der Konvention keinerlei Rede von der Auflösung der Sonderschulen ist. Hillenbrand äußert sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Der Auftrag zur Etablierung eines Inklusiven Bildungssystems wird nach UN-Konvention und der Begrifflichkeit der UNESCO […] keinesfalls durch die Auflösung der Förderschulen und die Aufnahme aller Schüler mit Behinderung in die Allgemeine Schule erfüllt, sondern durch die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.“[23] Somit würden die Bundesländer beim Erhalt der Förderschulen nicht gegen das geltende Recht verstoßen, aber es kann keine „wirkliche“ Umsetzung der Inklusion erfolgen, wenn nicht ein Bildungssystem entsteht, das keinerlei Aussonderung und Ausschluss vornimmt.[24] Im § 24 der BRK[25], dem wichtigsten dieser Konvention, weil er sich auf die Bildung bezieht[26], wird sogar darauf hingewiesen, dass „besondere Maßnahmen, die zur tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, […] nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens“ angesehen werden können.[27] Ebenso regelt der Artikel, dass die Staaten „an inclusive education system at all levels“ bereitstellen müssen und dass die SuS die disabilitys( so wurde es in der Konvention gekennzeichnet) nicht exkludiert werden dürfen und dass sie einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung haben, wie alle anderen auch. Ina Döttinger und Nicole Hollennbach- Diele erklären hierzu folgendes:

„ persons with disabilities are not excluded from the general education system on the basis of disabilty, and that children with disabilities are not excluded from free and compulsory primary education, or from secondary education, on the basis of disability ; b) Persons with disabilities can acces an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live.“[28]

Als Eckpfeiler für die Beschäftigung mit der Inklusion im deutschen Bildungssystem gilt die Salamanca-Erklärung[29] aus dem Jahre 1994. Der zweite Artikel dieser Erklärung schreibt fest, dass jedes Kind ein Recht auf Bildung hat und dass Kinder mit speziellen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen erhalten müssen.[30] Der Text nennt im Originaldokument oft das Wort „inclusive“. Das Problem war aber, dass dies im deutschen Kontext mit „integrativ“ übersetzt wurde, welches zu gewisse Problemen führte. Diese Erklärung forcierte vor allem die inklusive Beschulung in den Regelschulen. Textor nimmt auf diese Erklärung Bezug und zitiert in diesem Zusammenhang, „dass Regelschulen mit dieser inklusiven Orientierung das beste Mittel sind, um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, um Gemeinschaften zu schaffen, die alle willkommen heißen, um eine integrierende Gesellschaft aufzubauen und um Bildung für alle zu erreichen.“[31] Diese Vorschläge in der Salamanca-Erklärung bildeten die Grundlage für die spätere Rechtsgrundlage im Jahr 2006, die mit dem Beschluss der Behindertenrechtskonvention im Dezember 2006 festgelegt wurde.[32] Dieser Beschluss verankerte die Inklusion als Menschenrecht und erkannte sie als Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens an. Ohne Diskriminierungen soll den Menschen mit Förderbedarf der volle Zugang zu allen Menschenrechten und Grundfreiheiten ermöglicht werden. Laut Schulze sind die Würde, die Barrierefreiheit, die Chancengleichheit, die Selbstbestimmung und die Partizipation die zentralen Leitgedanken des Übereinkommens.[33] Zur Inklusion in dieser Konvention äußern sich Degener und Mogge-Grotjahn wie folgt: „Inklusion ist eines der allgemeinen Prinzipien der Konvention (Art. 3 UN BRK) und steht in direktem Zusammenhang mit der Achtung der Menschenwürde und den Prinzipien von Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit.“[34] Des Weiteren formulierte sie für alle Lebensbereiche Ziele, um den Menschen mit Förderbedarf die Teilhabe am gesellschaftlichen Lernen vereinfachen. Es gab somit die rechtliche Forderung, dass das deutsche Schulsystem inklusiv umgestaltet werden müsse. Seit dieser Konvention gilt die Inklusion in Deutschland als zentraler Grundgedanke und die Bundesländer verpflichten sich dazu, den SuS den bestmöglichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen.[35]

Die BRK sicherte auf internationaler Ebene das Recht, bestmöglich an der Bildung teilhaben zu können. Wie dieses internationale Recht auf der nationalen Ebene Anklang findet und wie dies in der Praxis umgesetzt wird, wird im folgenden Kapitel behandelt.[36]

3 Die Umsetzung der Inklusion in Niedersachsen

3.1 Die rechtlichen Grundlagen im niedersächsischen Schulsystem

Um später bewerten zu können, ob ND ein Inklusives Bildungssystem besitzt, ist es wichtig, einen allgemeinen Blick auf die rechtliche Struktur in Bezug auf die Inklusion in Niedersachsen zu werfen.

Zum Schuljahresbeginn 2013/2014 wurde die inklusive Schule in Niedersachsen verbindlich eingeführt. Der Landtag hat dazu ein entsprechendes Gesetz am 20.03.2012 verabschiedet.[37] Diese inklusive Beschulung wird in einer Übergangszeit bis 2018 umgesetzt.[38] Damit verbunden war das Ziel, einen Zugang zu Bildung und zu den niedersächsischen Schulen für alle SuS zu ermöglichen.[39]

Die Schulträger verpflichten sich dazu, die baulichen und räumlichen, aber auch die personellen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um alle SuS an der Bildung gleichermaßen teilhaben zu lassen. Wachtel und Waje beschreiben, dass ND somit einen „barrierefreien Zugang für alle SuS“ garantieren müsse.[40] In § 4 des Niedersächsischen Schulgesetztes wird in Bezug auf diese Barrierefreiheit Folgendes angeführt: „Die öffentlichen Schulen ermöglichen allen Schülerinnen und Schülern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang und sind damit inklusive Schulen.“[41] Mit dem Gesetz wird demnach verfolgt, dass alle SuS in ND gleichermaßen, nach ihren Bedürfnissen und Voraussetzungen, lernen können und dass diesen SuS die notwendige Qualität und Unterstützung geboten wird.[42] Durch die Möglichkeit einer Teilhabe an schulischer Bildung in den Regelschulen bekommen die Eltern ein Wahlrecht, auf welche Schule ihr Kind unterrichtet werden soll. Es ist deren Entscheidung, ob ihr Kind in der Regelschule besser gefördert wird als auf einer Förderschule.[43]

Die einzelnen Schulformen haben spezifische Bestimmungen in Bezug auf die Inklusion, die hier nun kurz, mithilfe des Niedersächsischen Schulgesetztes, erläutert werden sollen:

a) Die Grundschule

Die inklusive Grundschule ist ab dem Jahr 2013/2014 verbindlich. Diese Schulformen werden nach und nach mit einer sonderpädagogischen Grundausstattung ausgerichtet. Allerdings gibt es hier einige Sonderregelungen:

1. Die Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen müssen an einer Grundschule unterrichtet werden.
2. Die SuS, die einen anderen Förderschwerpunkt [44] als den des Lernens haben, werden weiterhin bis 2022 separat unterrichtet.
3. Die SuS, die den Schwerpunkt Lernen haben und bis zum 31. Juli 2012 an einer Förderschule unterrichtet wurden, weiterhin dort bleiben müssen.[45]

[...]


[1] Mit dem Begriff der Umsetzung ist hier konkret gemeint, dass der Maßstab angelegt wird, dass alle Kinder mit Förderbedarf im allgemeinen Schulsystem unterrichtet werden.

[2] Die Beschränkung auf das Land Niedersachsen liegt daran, dass diese Seminararbeit an der Universität in Osnabrück verfasst wurde und somit der persönliche Bezug zum niedersächsischen Bildungssystem vorhanden ist. Als angehende Lehrkraft sind somit die praktischen Umsetzungen der Inklusion in diesem Bundesland enorm von Bedeutung. Zur bundesweiten Durchsetzung der Inklusion siehe: Döttinger, Ina/Hollenbach-Biele, Nicole (2015): Auf dem Weg zum gemeinsamen Unterricht. Aktuelle Entwicklungen zur Inklusion in Deutschland, Gütersloh, S. 25-43.

[3] Der Zusatz „Mit Förderbedarf“ scheint am sinnvollsten zu sein, da der Terminus „mit Behinderung“ oder „mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ den Anspruch von Inklusion negiert, obwohl die Behindertenrechtskonvention den Zusatz „mit Behinderung“ legitimiert. Die Forschung benutzt aber alle drei Begriffe synonym und hat sich auf keinen wirklich verständigt. Der Begriff „Inklusionskinder“ ist dahingehend problematisch, dass sich dadurch der Blick nur auf die Schule richtet und die gesamtgesellschaftliche Komponente dieses Begriffes außer Acht lässt. Doch jedwede Bezeichnung ist ein wenig stigmatisierend, sodass am besten die Bezeichnung „normale Menschen“ oder gar kein Zusatz vorhanden sein müsste, was in der Forschung aber nicht gegeben ist.

[4] Vgl. Kroworsch, Susann (2014): Rechtliche Grundlagen der Umsetzung von Inklusion im deutschen Schulsystem. In: ders. (Hrsg.): Inklusion im deutschen Schulsystem. Barrieren und Lösungswege, Berlin, S. 27.

[5] Vgl. Isecke, Angelika (2013): Inklusion im Bildungssystem. Situation und Entwicklungstendenzen in Deutschland und ausgewählten EU-Staaten, Hamburg, S. 54.

[6] Vgl. Wocken, Hans (2010): Was ist inklusiver Unterricht? Eine Checkliste zur Zertifizierung schulischer

Inklusion. In: Gemeinsam leben. Zeitschrift für integrative Erziehung , S. 203- 207, hier: S. 204f.

[7] Die Frage der Gerechtigkeit wurde aber bereits in den 1970er Jahren diskutiert, hier aber unter dem Begriff der Chancengleichheit. Durch die PISA-Studien und durch die BRK bekam diese Diskussion erneut Aktualität (Vgl. Lindmeier, Christian (2011): Bildungsgerechtigkeit und Inklusion. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Band 62, Heft 4, S. 124-135, hier: S. 124.

[8] Zitiert nach: Ahrbeck, Bernd (2014): Inklusion. Eine Kritik. 2. Auflage, Stuttgart, S. 61.

[9] http://www.latein-deutsch-woerterbuch.de/verb/includere.html (aufgerufen am 01.04.2017).

[10] Werning, Rolf (2012): Inklusion. In: Horn- Klaus-Peter/Kemnitz, Heidemarie/Morotzki, Winfried/Sandfuchs,Uwe (Hrsg.): Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn, Bd. 2, S. 85.

[11] Begemann, Ernst (2009): Theoretisch und institutionelle Behinderungen der Integration und der „inclusion“. In: Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam, Weinheim und Basel, S. 126-139, hier: S. 129.

[12] Wocken sagt in diesem Zusammenhang: „Das Ethos eines sozialen Humanismus wird nun ersetzt durch die rechtlich kodifizierte Gleichwertigkeit aller Menschen“(Vgl. Wocken, Hans (2011): Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen- Baupläne- Bausteine, Hamburg , S. 74.

[13] Zitiert nach: Textor, Annette (2015): Einführung in die Inklusionspädagogik, Bad Heilbrun , S. 26.

[14] Boban, Ines/Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln, Halle, S. 10.

[15] Vgl. Wocken (2010), S. 220.

[16] Vgl. Wocken (2010), S. 220.

[17] Hinz, Andreas: Von der Integration zur Inklusion- terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, 2002, S. 354-361, hier: S. 359. Hinz sagt zu diesem Verständnis: „ Das Konzept der Inklusion versteht sich als allgemeine Pädagogik, die es mit einer einzigen, untrennbar heterogen Gruppe zu tun hat. In ihr sind unterschiedlichste Dimensionen von Heterogenität vorhanden: Verschiedene Geschlechterrollen, ethnische, sprachliche und kulturelle Hintergründe, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen, Familienstrukturen, soziale Lagen sowie Fähigkeiten und Einschränkungen kommen in ihnen vor.“ (zitiert nach: Döttinger/Hollenbach-Biele (2015), S. 19.)

[18] Reich, Kerstin: Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Standards und Regeln zum Umsetzung einer inklusiven Schule. Weinheim u. a. 2012, S. 35-36.

[19] Vgl. Preuß, Bianca: Hochbegabung, Begabung und Inklusion. Schulische Entwicklung im Mehrebenensystem, Wiesbaden 2012, S. 38.

[20] Vgl. Boban/Hinz (2003), S. 10.

[21] Bielefeldt, Heiner (2010):Menschenrecht auf inklusive Bildung. Der Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, Jg. 79, Heft 1, S. 66-69, hier: S. 67.

[22] Vgl. Ahrbeck (2014), S. 11.

[23] Hillenbrand, Clemens :Inklusive Bildung in der Schule: Probleme und Perspektiven für die Bildungsberichterstattung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 64, Heft 9, S. 359-369, hier: S. 366.

[24] Vgl. Ahrbeck (2014), S. 22.

[25] http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CRPD/GC/RighttoEducation/CRPD-C-GC-4.doc ( aufgerufen am 19.04.2017).

[26] Vgl. Döttinger/Hollenbach-Biele (2015), S. 15.

[27] Zitiert nach: Ahrbeck (2014), S. 23.

[28] Zitiert nach: Döttinger/Hollenbach-Biele (2015), S. 16.

[29] http://www.unesco.at/bildung/basisdokumente/salamanca_erklaerung.pdf (aufgerufen am 13.04.2017).

[30] Begemann (2009), S. 129.

[31] Textor (2015), S. 48.

[32] Vgl. Schulze, Marianne (2009): Die Konvention. Ihre Notwendigkeit und ihre Möglichkeiten. In: Behinderte Menschen, Heft 1, S. 19-25, hier: S. 21.

[33] Vgl. Schulze (2009), S. 23.

[34] Degener, Theresia/Mogge-Grotjahn, Hildegard (2012): „All inclusive“? Annäherungen an ein interdisziplinäres Verständnis von Inklusion. In: Balz, H./J., Benz, B./Kuhlmann, C. (Hrsg.): Soziale Inklusion. Grundlagen, Strategien und Projekte in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden 2012, S. 59-77, hier: S. 65.

[35] Vgl. Reich (2012), S. 36.

[36] ND ist flächenmäßig das zweitgrößte Bundesland Deutschlands und hat mit rund 8 Millionen Einwohnern einen großen Bevölkerungsanteil. Im Schuljahr 2008/09, also im Jahr der Ratifizierung der BRK, lag die Förderquote bei nur 4,7 Prozent. Bundesweit wurde bei 6 % der SuS ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Der Inklusionsanteil lag in diesem Schuljahr bei 6,6 Prozent, welches im bundesdeutschen Durchschnitt sehr wenig darstellte. 2013/14 besuchte gut jeder fünfte Förderschüler eine Regelschule – der Inklusionsanteil lag somit bei 23,3 Prozent. (vgl. Döttinger/Hollenbach-Biele (2015), S. 178,179.)

[37] Einführung der inklusiven Schule Hinweise für die kommunalen Schulträger, Stand 17.11.2011 (19.04.2017). Downloadbar als PDF-Datei. Wird im Folgenden abgekürzt durch Einführung der inklusiven Schule.

[38] Vgl. Döttinger/Hollenbach-Biele (2015), S. 177.

[39] Waje, Marie-Christina/Wachtel, Peter (2013): Zur Realisierung der inklusiven Schule in Niedersachsen. In: Schulverwaltungsblatt, Heft 7, S. 277-285, hier: S. 277. Online abrufbar unter: http://www.ler-nds.de/_downloads/2013_realisierung_inklusive_schule.pdf ( abgerufen am 19.04.2017).

[40] Vgl. Waje/Wachtel (2013), S. 277.

[41] Einführung der inklusiven Schule, S. 1.

[42] Vgl. ebd.

[43] Die inklusive Schule. Abrufbar unter: http://www.mk.niedersachsen.de/startseite/schule/unsere_schulen/inklusive_schule/einfuehrung-der-inklusiven-schule-104666.html ( 18.04.2017).

[44] Siehe Unterpunkt b

[45] Vgl. Einführung der inklusiven Schule, S. 1, 2.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Umsetzung der Inklusion zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Am Beispiel des Landes Niedersachsen
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
25
Katalognummer
V366476
ISBN (eBook)
9783668447837
ISBN (Buch)
9783668447844
Dateigröße
809 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
umsetzung, inklusion, anspruch, wirklichkeit, beispiel, landes, niedersachsen
Arbeit zitieren
Reiner Eilers (Autor:in), 2017, Die Umsetzung der Inklusion zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Am Beispiel des Landes Niedersachsen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/366476

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