Leseprobe
Inhalt
I. Einleitung
II.1. Ausgangslage und Intention der Container-Aktion
II.2. Der politische Aspekt
III. Verschiedene Ebenen von Realität
III.1. Wenn die Grenzen aufgehoben werden: Zwischen Kunst und Leben
III. 2. Der Unterschied zwischen Skandal und Skandalisierung
VI. Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Greift man die Beuys‘sche Definition des erweiterten Kunstbegriffs und der Sozialen Plastik auf, ist jeder Mensch ein Künstler, weil in seinem Inneren ein Potenzial von Kreativität und individueller Gestaltungskraft schlummert, über das er verfügen kann und somit die Fähigkeit besitzt, Ungewöhnliches zu kreieren. Die Soziale Plastik ist folglich ein Kunstkonzept, welches menschliches Handeln miteinschließt und das die Strukturierung und Formung der Gesellschaft zum Ziel hat. Jedes kreative Handeln, das dahingehend wirkt, wird – heutzutage insbesondere unter Einbeziehung der Medien – zur künstlerischen Praxis.[1]
Nach Beuys sei es die Aufgabe der Kunst, diesen Prozess in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und damit auch zu zeigen, dass jeder einzelne durch sein Sprechen und Denken zur Veränderung der Welt beitragen oder dem Bestehenden zustimmen könne. Auch Christoph Schlingensiefs Filme, Happenings und Objekte erheben sich über den unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand hinaus. Er arbeitete stets am „Puls der politischen, gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen“, wodurch seine Projekte und Aktionen häufig politisch motiviert, teils provokativ zum Einsatz kamen.[2]
Die Hinterfragung von konventionellen Wahrnehmungsmustern, dem Spiel mit dem Verhältnis von Kunst und Leben, Fiktion und Realität, sowie Bühne und öffentlichem Raum spiegelt sich auch in seiner Container-Aktion Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche im Rahmen der Wiener Festwochen wieder. Auch dort verschob er bewusst und unbewusst die Grenzen oder hob sie gänzlich auf, was die zufälligen oder durch die Medien aufmerksam gewordenen Menschen zum Teil in große Verwirrung versetzte.
Die folgende Arbeit setzt sich mit dieser vom 9.-16. 06.2000 durchgeführten Aktion und der daraus entstandenen Dokumentation Ausländer raus! Schlingensiefs Container von Paul Poet, die im Jahr 2002 veröffentlicht wurde, auseinander. Sie wird vor allem unter dem Aspekt des Politischen analysiert und es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sie die Betroffenen in ein „Realitätsdilemma“ stürzte und ob die Aktion an sich einen politischen Effekt erzielte, demnach, in Bezug auf die Beuys´sche Definition, „die Welt veränderte“.
II. Schlingensiefs Container – als politische Aktion erfolgreich?
II.1. Ausgangslage und Intention der Container-Aktion
Nachdem Adolf Hitler als Führer der NSDAP von 1933-1945 ursprünglich aus Österreich stammte, waren die Reaktionen innerhalb und außerhalb der österreichischen Bevölkerung geteilt, als die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) im Jahr 2000 mit einer Stimmenmehrheit in den Bundestag gewählt und mit ihrem „Ausländer raus“-Wahlkampf zur zweitstärksten Partei wurde. Sie bildete mit der konservativen österreichischen Volkspartei (ÖVP) eine blauschwarze Koalition.
Es handelte sich somit um ein Wahlergebnis bedenklicher Natur, das deutlich aufzeigt, wie rasch sich geschichtliche Vergesslichkeit einstellen kann und wie wenig Protest es damals zur Folge hatte. Schließlich geschah all dies kaum 55 Jahre nach dem Ende des „Dritten Reichs.“ Wieder einmal wurde Österreich - das ohnehin, wie sich später in der Erörterung der Dokumentation von Schlingensief zeigen wird, einen hohen Bevölkerungsanteil von Menschen rechtsradikaler, politischer Ansichten bzw. Tendenzen aufweist, unter dem Aspekt des „österreichischen Führers“ - zu einem Vorreiter rassistischen Gedankenguts.[3]
Christoph Schlingensief, ein schon durch seine provozierenden, ungewöhnlichen und kaum fassbaren Filme, Theaterhappenings und Kunstaktionen bekannt gewordener Regisseur und Künstler, war bereits mit seiner Aktion Chance 2000 in politische Gegebenheiten eines Wahlkampfs verwickelt gewesen, als er sich im Jahr 2000 dazu entschloss, einmal „real werden lassen“, was Politiker propagieren.[4]
„Was würde eigentlich passieren, wenn die Parteien ihren Dreck mal als Realität präsentiert bekämen, wenn einfach mal nachgespielt würde, was die uns als Lösungen vorschlagen?“[5]
Einige Zeit zuvor hatte die Süddeutsche Zeitung ihm das Angebot unterbreitet, eine Kolumne über das derzeit aktuelle Big Brother-Menschenversteigerungsästhetik-Eventfernsehen zu schreiben, was ihn dazu veranlasste diese Idee unter einem neuen Aspekt wiederaufleben zu lassen. Dabei entschloss er sich, das Big-Brother-TV-Format mit der fremdenfeindlichen FPÖ-Plakatkampagne zu verbinden. Es entstand eine Form von an Big-Brother angelehnten medialen „Eliminationsspielchen.“ Diese wurden angespitzt durch die Kunstaktion sowie die politische und soziale Realität. Ziel der Aktion war es, die österreichische Fremdenfeindlichkeit aufzudecken. Das Bild der ÖVP-FPÖ-Regierung störte Schlingensief, was ihn dazu veranlasste, dieses Bild, das sich selbst als „sauber“ darstellte, stören zu wollen. Er wollte eine „Bilderstörungsmaschine“ konzipieren. Dazu wurden Fernsehteams, welche ein politisches Statement abgeben wollten, als Restposten der Wiener Festwochen zusammengeführt.[6]
Zunächst gestaltete sich die Umsetzung noch als kompliziert, da ein geeigneter Platz gefunden werden musste, doch verdeckte Unterstützung schien zur rechten Zeit, am rechten Ort zu sein. Die Container wurden neben der Wiener Staatsoper am Eingang zur Kärtnerstraße, Wiens beliebtester Einkaufspassage, errichtet und mit Wahlkampfsprüchen der FPÖ sowie Artikeln der Wiener Kronenzeitung beklebt.[7]
Das alles beschreibt Schlingensief in seinem Buch folgendermaßen: „Wir nehmen Haider-Sätze und spielen die durch. Wir bauen ein Theater auf, das endlich nichts mehr vorspielt, sondern die Dinge durchspielt.“[8] Zwölf Asylbewerber aus den unterschiedlichsten Ländern zogen in die Container ein, von denen täglich durch Zuschauerabstimmung zwei Personen „herausgewählt“ werden konnten, die anschließend tatsächlich zum Taxi in Richtung Flughafen geführt und abgeschoben wurden. Das gesamte Schauspiel, welches als Aktion der FPÖ und Kronenzeitung ausgegeben wurde, wurde live über den Kanal webfreetv.com im Internet „gestreamt.“[9]
II.2. Der politische Aspekt
Unter anderem gehörte es zu Christoph Schlingensiefs Strategie, latente, gesellschaftliche Konflikte zum Vorschein zu bringen und konventionelle Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen.[10] Dies ist auch der Grund, weswegen viele seiner Projekte als Reaktion auf bestimmte gesellschaftliche Muster, sowie politischen und sozialen Wandel entstanden. Dazu gehörten z.B. Ausgrenzungsmechanismen, Terrorismus, Fundamentalismus, Neokolonialismus oder die zunehmende Medialisierung aller Lebensbereiche.
Auch die Container-Aktion war solch ein Projekt, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zeitgeschehen und seinen persönlichen politischen Verwicklungen entstand. Noch im Jahr 1998 hatte er zusammen mit anderen Interessierten, Kollegen und den unterschiedlichsten Menschen ein Projekt zusammengestellt, das in konkretem Zusammenhang mit den deutschen Wahlen 1999 stand und bereits unmittelbar Einfluss auf die Politik nahm: Die Chance 2000 basierte auf der Idee, eine Partei für die „ungesehenen“ Menschen des Landes zu gründen. Darunter fielen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, Behinderte und andere gesellschaftliche „Außenseiter“, die unter dem Motto „wähle dich selbst“ wieder sichtbar gemacht werden sollten.[11]
Dort zeichnet sich bereits ein Muster in Schlingensiefs Arbeit ab. Ihm ging es häufig auch darum, Randfiguren, Menschen ohne eigene Stimme und Hilfsbedürftige in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Einerseits schien es ihm um die Zerstückelung des Images einer ausländerfeindlichen Partei, die in Österreich an die Macht gekommen war, zu gehen, andererseits lenkte er die Öffentlichkeit zu den Asylbewerbern und deren ungewissem Schicksal um, was an sich faszinierend ist, geschah dies doch bereits vor über fünfzehn Jahre, ehe dieses Thema in Europa so aktuell wurde. Denn heutzutage geht es im Großen genau um das, was dort im Kleinen geschah: Asylantenzuwanderung und Regierungen mit rechten Tendenzen, welche in Europa an die Macht kommen.
Schlingensief griff bei der Aktion bewusst verbal mit Sprüchen durch das Megafon ins Geschehen ein:
„Eure Regierung lässt es zu, dass seit Tagen hier mitten in Wien ein Schild mit der Aufschrift ‚Ausländer raus‘ hängt? Was ist denn das für ein Land hier?“[12]
Die Konsequenzen, welche sich daraus ergaben, äußerten sich in hitzigen, politischen Debatten, offenen Anfeindungen und Attacken – sowohl durch linke, als auch rechte Gruppierungen – wobei „Du Künstler, Du!“ noch eine der harmlosesten Beschimpfungen darstellte. Eine Gruppe linker Studenten versuchte den Container zu erstürmen und die Asylanten zu „befreien“, während die rechtspolitisch orientierten Gruppen ihre Ansichten durch Schlingensiefs dargebotenes Megafon kundzugeben und zu rechtfertigen suchten. Es gab sogar einen versuchten Brandanschlag.[13]
Doch am Ende der Aktion war Christoph Schlingensief nicht wirklich zufrieden. Obwohl in der Folge eine große Begeisterungswelle durch die Medien und selbst höhere gesellschaftliche Kreise ging, sah er seine Intention und sein Ziel nicht wirklich erfüllt. Er hatte sich mehr Reflexion über das Geschehen gewünscht und dass die Menschen mehr über Fremdenfeindlichkeit nachdachten. Letztendlich habe sich keiner wirklich Gedanken gemacht, wie es den Asylbewerbern in den Containern eigentlich erging, was sie dachten oder fühlten. Es habe wieder keine echten Diskussionen darüber gegeben, was eigentlich vor sich ging. Zum Beispiel hätte man, seiner Meinung nach, die Frage stellen können, ob die Globalisierung Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus mit ihrem Voranschreiten automatisch aufhebe oder ob der Rassismus nicht viel mehr eine „Ersatzwährung“ für unzufriedene Menschen sei.[14] Vielmehr sei es ihm so vorgekommen, als hätten sich alle mehr darüber gefreut, dass Österreich „mal so richtig in die Pfanne gehauen“ worden sei.[15]
III. Verschiedene Ebenen von Realität
Christoph Schlingensiefs Werk spricht für sich selbst, für die gesellschaftliche Realität und für ihn selbst als Künstler. Stets spielte er mit der Rezeptionshaltung von Publikum, Kritikern und Medienberichterstattern und imitierte dabei nicht selten auch Regiestile anderer Regisseure. Er zitierte aus Filmen, Kritiken und realen Ereignissen. Das Medium des Zitats kommt auch in der Dokumentation Ausländer raus! Schlingensiefs Container zum Einsatz. Nach Walter Benjamin müsse man zur reinen Kritik nicht kommentieren. Das reine Zitat dessen, was man angreift sei „richtig [formuliert], an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort“ erfolgt, „kommentarlos selbstentblößend.“[16]
Wie bereits beschrieben, greifen seine Aktionen das Zeitgeschehen auf und dokumentieren den Prozess ihrer Entstehung. Oft sagte er sogar Zuschauerreaktionen und Kritikerstimmen voraus und bezog Publikum und Medienberichterstatter z.T. unfreiwillig in den Verlauf der Ereignisse ein. Dabei überraschte seine Produktion nicht selten durch Irritation, Spontaneität, Anarchie der Produktion sowie laienhaftes Spiel. Ergänzt wurde das ganze durch Unvorhergesehenes, das Tagesgeschehen für die reale Umwelt und eine oftmals leicht aggressive Note, welche die betäubende Berieselung des Betrachters verhindern sollte. Insgesamt entstand meist eine Komposition mit eigenen dramaturgischen Gesetzen.[17]
Auch im Kontext der Container-Aktion ging es um die Vernetzung von gesellschaftlicher Wirklichkeit, persönlichen Erfahrungen und dem künstlerischen Produktionsprozess, inklusive aller seiner Störungen und Zufälligkeiten, welche Christoph Schlingensiefs Produktionen inhärent sind. Wie bereits beschrieben, wird das Verhältnis zwischen Kunst und Leben, Bühne und öffentlichem Raum, sowie Fiktion und Realität in seinen Grundfesten erschüttert.[18]
Bereits seit den 1990er Jahren war Schlingensiefs Arbeit zunehmend mit Realitätselementen gespickt, die sich wohl mit der Jahrtausendwende in handfeste Vernetzungen manifestierten, bei denen die Grenzen zwischen Kunst und Leben völlig aufgehoben wurden. So lässt sich auch ein Bezug zu seinen vorangegangenen Happenings herstellen, welche ebenso – zwar innerhalb eines vorgegebenen Rahmens stattfanden, sich allerdings anarchistisch und ohne absehbares Ende entwickelten. Frühere Arbeiten zeichneten sich auch durch ihre mehrschichtigen, nicht narrativen Darstellungen aus, welche möglicherweise eine Vielschichtigkeit sowie Facettenhaftigkeit des Lebens deuten sollten. Ebenso wie die Transparenz des Produktionsablaufs auf die Inszeniertheit des Lebens selbst hindeuten sollte.
Auch bei der Container-Aktion handelte es sich um eine Inszenierung, deren Verlauf weder zu leiten, noch willentlich zu beeinflussen war. Durch Widersprüche entblößte sich die Realität selbst oder wie Schlingensief es beschreibt: „Die Welt bekennt sich gerade dazu, dass sie eigentlich nichts anderes ist als Theater.“ So sei doch jenes „Sich-Verstellen“ auf Chatseiten, das Sich-Zuschreiben einer neuen Rolle und eines neuen Namens, um jemanden z.B. als Nazi oder Linker zu attackieren, nichts anderes als eine Inszenierung.[19]
III.1. Wenn die Grenzen aufgehoben werden: Zwischen Kunst und Leben
Die größte Irritation, welche durch die gestellten Container, die Plakatierung und den durch das Megafon agitierenden Christoph Schlingensief hervorgerufen wurde, bestand jedoch insbesondere darin, dass niemand der vorübergehenden Passanten zunächst wusste, womit er es eigentlich zu tun hatte. Dort passierte etwas völlig Widersprüchliches, das sich schwer einordnen ließ; eine Aktion, bei der der Künstler sowohl teilhabender Beobachter, als auch aktives Objekt des Geschehens war.
Schlingensief selbst beschreibt die entstandene Situation in seiner Biographie als „verwirrend.“ In den ersten zwei Tagen sei überhaupt nichts passiert. Es habe alles ein bisschen wie „abgestandenes Essen“ gewirkt.[20] Doch durch die Penetranz der Menschen, welche sich vor dem Container versammelt hätten, um zu debattieren und zu ereifern, wäre Energie in die Sache gekommen, wodurch sie begonnen hätte, sich selbst zu tragen.
„Erst war es ein langweiliges, unbewegliches Bild an der Wand. Dann ist aus dem Bild ein immer stärker wuchernder Hefeteig geworden, der sich so dermaßen unter die Menschen schob, dass niemand mehr umfallen konnte.“[21]
[...]
[1] Vgl. Stachelhaus, Heiner: Joseph Beuys, Düsseldorf 21988, S. 82 f.
[2] Siehe Janke, Pia/ Kovacs, Teresa (Hg.): Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien 2011.
[3] Vgl. Ausländer raus! Schlingensiefs Container, Deutschland 2002, Regie: Paul Poet, 90 Min.
[4] Vgl. Schlingensief, Christoph: Ich weiß, ich war´s, Köln 2012, S. 57.
[5] Siehe ebd., S. 95.
[6] Siehe und vgl. Schlingensief 2012, S. 105.
[7] Vgl. Ausländer raus! Schlingensiefs Container 2002.
[8] Siehe Schlingensief 2012, S. 95.
[9] Vgl. Ausländer raus! Schlingensiefs Container 2002.
[10] Vgl. Hochreiter, Susanne: „Den Skandal erzeugen immer die anderen“. Überlegungen zur künstlerischen und politischen Strategien Christoph Schlingensiefs, in: Pia Janke/ Teresa Kovacs (Hg.): Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien 2011, S. 435.
[11] Vgl. Schlingensief 2012, S. 57.
[12] Siehe ebd., S. 100.
[13] Vgl. Ausländer raus! Schlingensiefs Container 2002.
[14] Vgl. Schlingensief 2012, S. 105.
[15] Siehe ebd., S. 104.
[16] Siehe und vgl. Ausländer raus! Schlingensiefs Container 2002.
[17] Vgl. Peter Deutschmark Gallery: http://www.peter-deutschmark.com/bio.php, Zugriff: 08.02.17.
[18] Vgl. ebd.
[19] Siehe Schlingensief 2012, S. 103f.
[20] Siehe Schlingensief 2012, S. 98.
[21] Siehe ebd., S. 98.