Zur Motivik des Wahnsinns in Georg Büchners "Lenz". Das grandiose Scheitern einer radikalen Auflehnung


Examensarbeit, 2016

60 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Wahnsinn in Büchners „Lenz“
2. 1 Historisches zu Büchners „Lenz“
2.2 Form und Stil der Erzählung
2.3 Stilmittel, um Lenz’ abnormes Erleben darzustellen
2.4 Ursachen des Wahnsinns
2.4.1 Verzweiflung unerfüllter Liebe?
2.4.2 Ursachen des Wahnsinns als Sozialkritik
2.5 Büchner, Somatiker und Psychiker
2.6 Das Werk zwischen damaliger und heutiger Psychiatrie
2.6.1 Lenz als frühe Schizophreniestudie
2.6.2 Lenz als zeitgenössische Beschreibung psychisch abnormen Verhaltens
2.7 Lenz und Oberlin: Ein Patientenverhältnis?
2.8 Lenz zwischen zwei Polen: Ruhe vs. Bewegung?
2.9 Klassik, Romantik, Sturm und Drang

3 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„.. ein beständiges Auffahren aus dem Schlaf und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne vergehen […] Ich erschrak vor mir selbst. Das Gefühl des Gestorbenseins war immer über mir.“[1]

Diese Passage stammt nicht, wie zu erwarten wäre, aus dem „Lenz“, sondern aus einem privaten Brief des Autors Georg Büchner an seine Verlobte Wilhelmine Jaegle. Im Folgenden soll keine biografische Werkinterpretation des „Lenz“ unternommen werden, vielmehr soll dieser kurze Gedankenanstoß aus Büchners Werk selbst einem interessan­ten Einstieg in eine vielschichtige Diskussion der Wahnsinnsmetaphorik im Text dienen.

Viel ist schon geschrieben worden zu dieser inhaltlich wie sprachlich radikalen Be­schrei­bung eines psychischen Verfalls. Von der Bezeichnung als frühe Schizophre­niestudie[2] bis zur Diagnose einer „psychotischen Apokalyptik“[3] sind dem Text moderne Krankheitsdefinitionen auferlegt worden. Genauso radikal sind solche Versuche aber auch als anachronistisch gebrandmarkt worden. Entweder wurde versucht, eher zeitge­nössische Krankheitsbeschreibungen wie „Melancholie“ im Text zu erkennen[4], solche Diagnosen als frühe Schizophrenieformen zu bezeichnen[5] oder die Darstellung einer Pathologie als zentrales Moment des Werkes zu negieren. Besonders interessant sind erste Verweise auf eine politische Dimension in Lenz’ „Wahnsinn“, der eben nicht nur individuelles Leiden ist, sondern – wie zu vermuten steht – auch radikale Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen.[6] Das Werk ist so in mehrfacher Hinsicht als Statement zu werten – als Eingriff in einen zeitgenössischen psychologischen Diskurs, als Porträt einer Leidensgeschichte und, wie sich zeigen wird, besonders spektakulär als Erzählung gesellschaftlichen Wandels.

Lenz’ Wahn soll in dieser Arbeit auch gelesen werden als die Geschichte eines totalen Aufbegehrens, nicht nur gegen politische Verhältnisse, sondern auch gegen notwendige Modi menschlichen Lebens wie Tod und Leid überhaupt. Es soll einerseits darauf eingegangen werden, wie Büchner Lenz’ pathologischen Zustand darstellt, um so auch zu erfahren, ob und – wenn ja – welche Ursachen das Werk selbst nennt. Nicht zuletzt soll auch nach Verweisen im Text gefragt werden dafür, dass die Gesellschaft, bei der Lenz sich aufhält, eher kritisch dargestellt wird.

Zuerst sollen aber Grundsteine des Terrains abgesteckt werden, indem sich mit den historischen Umständen der im Text behandelten Figuren und Diskurse befasst und die sprachliche Gestaltung analysiert wird. Dann kann beantwortet werden wie Büchner mit seinem Text den Diskurs zwischen Psychikern und Somatikern um Ursachen und Behandlung psychisch Erkrankter wertet. Zudem lässt sich zeigen an welchen Stellen die Darstellung von Lenz Leiden zu welchen Krankheitsdiagnosen passt. Zum Ende hin soll sich zeigen, wie Büchner nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich, gerade mit einem radikalen Schluss am Ende des Werkes, Lenz spektakulär an den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitern lässt und in Richtung Moderne verweist. Dazu passend wird „Lenz“ als äußerst vielschichtiges Werk zwi­schen den Epochen Klassik, Romantik, Sturm und Drang skizzierend verortet. Die Arbeit schließt mit einem Fazit.

2 Wahnsinn in Büchners „Lenz“

2. 1 Historisches zu Büchners „Lenz“

„Lenz“ war ein längeres Projekt Büchners, das ihn bis zu seinem frühen Tod beschäftigt hat. Zwar ist die Quellenlage recht gut gesichert, ganz im Gegenteil zu Büchners anderen Texten, heute liegt aber kein authentischer Text mehr vor. Das „Fragment“, das bei der Sichtung seines Nachlasses gefunden wurde, ist seit 1839 verschollen. Büchners Verlobte Wilhelmine Jaeglé hatte zwar auf Gutzkows Bitten eine Abschrift angefertigt. Doch auch diese war beim Zweitdruck schon nicht mehr verfügbar. Sie war aber schon für den Erstdruck von Gutzkow ediert und von Setzern und Korrektoren im Verlag bearbeitet worden. Diese 1839 im „Telegraph für Deutschland“ erschienene Version unter dem Namen „Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner“ ist trotzdem als Erstdruck diejenige Version, die der originalen Handschrift noch am nächsten kommt. Es wäre sogar möglich, dass ähnlich wie im Fall „Woyzeck“ mehre Bruchstücke zu einer Erzählung zusammengefügt wurden und überhaupt keine in sich geschlossene Erzäh­lung vorlag. Während etwa Gersch und Dedner nur sehr zurückhaltende Eingriffe der Editoren vermuten, kann Poschmann dies für die Verlobte nicht ganz ausschließen, was aber zum Großteil der schwierigen Handschrift des jungen Revolutionärs geschuldet war.[7]

Die Erzählung handelt vom Aufenthalt des getriebenen Dichters Lenz in den Vogesen im Steintal beim bekannten pietistischen Pfarrer Oberlin und schildert Lenz’ fortlaufenden geistigen Verfall. Dieser wird zwar aufgebrochen von Momenten der Besserung, in denen Lenz die Ruhe und harmonische Atmosphäre unter den einfachen Bauern genießt, aber letztlich wird er so von Wahnvorstellungen und innerer Leere gequält, dass es zu einem Selbstmordversuch und dem Abtransport unter Aufsicht nach Straßburg kommt.

Typisch für Büchner ist dabei das Protagonistenpaar, hier: Oberlin und Lenz. Oberlin als historische Person war ein 1740 geborener Theologe aus einer pietistischen Familie. Nach dem Besuch eines protestantischen Gymnasiums absolvierte er erst ein humanisti­sches und anschließend ein theologisches Studium und ging 1767 als Pfarrer ins Steintal. Er wurde überregional bekannt aufgrund seiner verschiedenen Verdienste im seelsorgerischen und sozialreformatorischen Bereich und wurde mehrfach als literarische Figur bearbeitet, sogar von Balzac. Bis ins 20. Jahrhundert war er zudem Bezugspunkt biografischer Darstellungen.[8]

In den 1830er-Jahren war Lenz einerseits durchaus als bedeutender Dichter des Sturm und Drang vor allem mit seinen dramatischen Texten bekannt. Genauso oder noch mehr bestand ein Interesse an seiner Person wegen seiner noch nicht gut erklärbaren psychologischen Pathologie, die ihn im Januar und Februar 1778 befallen hatte. Zu seinen Lebzeiten hatten Lenz’ Werke eher wenig Beachtung gefunden, 1814 post mortem wurde er wieder bekannter durch Goethes Diffamierung in „Dichtung und Wahrheit“. 1828 gab Tieck eine Gesamtausgabe der Schriften Lenz’ heraus und beurteilte sie wollende, wodurch Lenz’ Reputation erstmals wieder Aufwind bekam.

Aber im frühen 19. Jahrhundert war der Dichter bekannter als sein Werk. Viel spannender für Zeitgenossen muteten seine bewegten Lebensumstände und sein Verfall in Wahnsinn an. So verwundert es nicht, dass das allgemeine Interesse an dem längst verstorbenen Dichter durch die Publikation privater Briefe durch August Stöber 1831 angefacht wurde. Nicht nur wurde dadurch Lenz’ Liebe zu Friederike Briand offenbar. Über die Freundschaft zu Stöber erlangte Büchner ebenfalls Kenntnis vom Bericht des Theologen Oberlin über den Besuch des Dichters Lenz in Waldbach. Diesen Bericht hatte der pietistische Pfarrer vor allem deshalb verfasst, um sich dafür zu rechtfertigen, dass er Lenz schon wenige Tage nach dessen Ankunft hatte weiterverbringen lassen.[9]

2.2 Form und Stil der Erzählung

Stefan Zweig wertete Büchners Werk stilistisch als nichts Geringeres denn als den Beginn der modernen europäischen Prosa. In der Tat erscheinen Gestaltung und Stil des Textes als schier unendlicher Untersuchungsgegenstand.[10]

Eben aus dem genannten Bericht des Steintaler Pfarrers zitiert Büchner große Passagen völlig ungekennzeichnet. Es ergibt sich ein komplexes Beisammensein von Dokumen­tation und fiktivem Geschehen. Das Erzählen ist fiktional, wie es auch faktualisierend ist. Dieses Verhältnis wird schon im ersten Satz deutlich. Büchner macht einerseits Anstalten zu einer Datumsangabe, verweigert aber ihre genauere Bestimmung. Es bleibt bei dem „20.“ Auch der Ort bleibt unbestimmt „das Gebirg“ (S. 31). Schon Fuchshuber hat herausgestellt, dass Büchner absichtlich Lenz’ Erlebnisse in eine temporale und lokale Vagheit hebe. Er ersetze Oberlins genaue Ortsbezeichnungen und Datumsan­gaben durch ungenaue Bezeichnungen, und dies verstärke den Fokus auf Lenz’ inneres Erleben noch weiter. Vor allem befinde sich Lenz gerade in besonders emotionalen Momenten auf unbestimmtem Terrain, einfach im „Gebirg“, der Höhe etc. Reuchlein hat in diesem Zuge auch davor gewarnt, im „Lenz“ eine Krankheitsstudie zu sehen, dieser sei letztlich ein fiktionales Werk.[11]

Die oft in der Forschung hervorgehobene Eindringlichkeit der Darstellung zeigt sich in einer ganz besonderen, teilweise zukunftsweisenden Art des Erzählens. Büchner verwen­det eine personale Erzählfunktion, die zwischen objektivem Naturalismus und subjektivem Gefühlsbericht liegt. Kanzog hat dasjenige Erzählen, das Normabwei­chungen verdeutlichte und bei seiner Darstellung von der Erscheinung ausgehe, als phänomenologisches Erzählen bezeichnet. Dieses liefere eine Sicht auf das Außen aus der Sichtweise des Betrachters Lenz, aber offenbare auch seine innere Symptomatik durch eine besondere Art der Innenschau. Weiterhin liege im „Lenz“ mimetisches nicht diegetisches Erzählen vor und eine sehr verringerte Distanz zum Geschehen. So erzählt der Text zwar von Lenz, aber er erzählt nicht, dass er von Lenz erzählt. Es entsteht der Eindruck eines unmittelbaren Erzählens, der nicht etwa durch traditionelle Darstellungsformen erzeugt wird wie direkte Rede oder Adverbien, die auf die Gegenwart verweisen. Büchners Mittel der Wahl ist die Fokalisierung. Eben nicht aus einer abgehobenen Erzählerperspektive überblickt der Rezipient das Geschehen um Lenz, sondern aus seiner Sicht werden Vorgänge geschildert, und damit liegt auktoriales Erzählen oder interne Fokalisierung vor. Büchner verwendet laut Tarot in zukunftsweisender Manier hierfür direkt Verben innerer Vorgänge. Wie derselbe Wissenschaftler bemerkt hat, finden sich aber auch immer wieder Verweise auf eine Vermittlungsinstanz durch indirekte gedankliche Reden. Zudem zeige sich in dem häufig verwendeten Ausdruck „es war ihm, als“ ebenfalls eine gewisse Vermittlungsinstanz.[12]

Hofmann und Kanning haben es als Erzählverfahren ähnlich der erlebten Rede beschrieben, das einerseits den Leser Lenz’ Zustand bildlich aus der dritten Person miterleben lasse, aber zeitgleich Diagnosen über eindrücklich geschilderte Bewusstseinszustände stelle. Es liege insgesamt eine innovative Studie eines pathologischen Bewusstseins vor, aber auch eine Zeitdiagnose, die jedwede Versöhnung mit der Wirklichkeit ausschließe. Dieses Urteil deutet schon auf einen gewissen gesellschaftskritischen Gehalt der Erzählung voraus, gerade wenn Hofmann und Kanning auch noch von einem Unbehagen des Individuums in der Moderne sprechen, welches dieses überkomme, wenn es versuche, das Vorgefundene in ordnende Strukturen einzufügen.[13]

Dazu hat Michels prägnant formuliert, Büchner gestalte „die Landschaft ganz vom Subjekt des wandernden Lenz aus, sie wird zu seiner Natur und bleibt stets bezogen auf seine wechselnden seelischen Zustände“[14]. In der Tat wird in der Analyse der Darstellung Lenz’scher Befindlichkeit und Leiden noch ausführlich auf Natur und Landschaftsschilderungen einzugehen sein.

Diesen Fakt hat Fuchshuber untermauert, indem ihr ein wichtiges Detail im Werk aufgefallen ist. Büchner verwendet häufig ein deiktisches, absolutes „so“ in zwei wesentlichen Zusammenhängen: einmal in Bezug auf die Natur, die etwa „so träg, so plump“ (S. 31) ist, und ein andermal, um Lenz’ Empfinden auszudrücken, dem „[a]lles so traumartig, so zuwider“ (S. 34) ist. Dies zeige, wie eng Lenz’ Gefühlslage mit der Darstellung der Landschaft verwoben sei. Die Schilderung der Landschaft aus Lenz’ Perspektive geht zu Beginn sogar so weit, dass das Gebirge aus der Sichtweise des herabsteigenden Lenz wiedergegeben wird durch deiktische Verweise (S. 31).[15]

Die Frage, ob es sich um eine abgeschlossene Novelle oder ein Fragment handelt, hat die Forschung ausgiebig beschäftigt und ist eindeutig nicht zu beantworten. Historisch ließe sich etwa anführen, dass Gutzkows Bezeichnung als Novelle einem Vorurteil entsprang: Er sprach so über den Text, ohne ihn je gesehen zu haben, als er von Büchners Plänen hörte, einen Text zu Lenz auszuarbeiten. Zweitens bedauerte Gutzkow beim Erstdruck, dass der Text Fragment geblieben sei, und führte so beide Begriffe in den Diskurs ein. Fuchshuber hat in einem Band zu deutschen Novellen angemerkt, dass der Text wohl gar keine Novelle sei. Nun könnte es sich, wie Benno von Wiese meinte, durchaus um eine absichtlich nicht abgeschlossene Form handeln. Er führte dazu den Begriff des „notwendigen Fragments“[16] ein. Es gibt für beide Thesen schlüssige Argumente: An Anfang und Ende kann das fehlende Datum so entweder auf den Entwurfscharakter des Textes verweisen, oder dies ist schon der erste Hinweis auf eine kompositorische Unabgeschlossenheit, eine „gebrochene Gestalt“ mittels „gebrochener Gestaltung“. Dazu passen auch die an Anfang und Ende vorhandene Ellipse und Aposiopese. Borgards spricht davon, der Text sei so ein vollständiges Ganzes, indem Vor- und Nachgeschichte noch mitgesagt seien. Für von Wiese verweist die Form des Textes auf seine Ablehnung und Dekonstruktion jeder Sinnhaftigkeit. Auch für Knapp stellt der Text kein Fragment dar, sondern ist „eine abgeschlossene Erzählung mit einigen offensichtlichen Lücken“[17].

2.3 Stilmittel, um Lenz’ abnormes Erleben darzustellen

Das gesamte Werk ist auch in stilistischer Hinsicht tief durchtränkt von der Ambivalenz in Lenz’ Erleben. Dieses drückt sich vielfach im Gebrauch zahlreicher rhetorischer Figuren aus. Die häufigsten sind hierbei Ellipse, Steigerung, Exclamatio, Anapher, Parataxe und Polysyndeton. Meist zeigen sich Auslassungen als Verbellipsen und kommen vornehmlich in zweierlei Anwendungen im Text vor, die von der stilistischen Wirkungsweise her einander diametral entgegenstehen. Die Verwendung und Wirkungsweise sind also sogar in sich selbst ambivalent! Die Verbellipse kann einerseits Statik ausdrücken wie bei „[d]ie Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen“ (S. 31), kann aber auch einen dynamisierenden Bewegungseffekt zeigen: „[d]ann rasch ins praktische Leben, Wege angelegt, Kanäle gegraben, die Schule besucht“ (S. 33 ). Ähnlich verhält es sich laut Hasubek, wenn es etwa heißt: „Man saß am Tische, er hinein“ (S.32), so wird die gesamte Bewegung mit einer einzigen Richtungspräposition ausgedruckt, ohne Verb oder sonstige nähere Beschreibungen. Die Beschleunigung sei Ausdruck der tiefen Sehnsucht eines zerrissenen Lenz, in einer Situation aufzugehen, die er als Idylle empfinde. Nach Hasubek zeigt sich ein ähnliches Phänomen bei der Predigt. Aber nicht nur das Aufgehen in solchen Sphären werde von Lenz angestrebt, auch die Beschäf­tigung mit praktischer Tätigkeit wie beim Ausritt mit Oberlin scheine ihm zu helfen. Aber auch Statik und Dynamik sind in sich wieder ambivalent und können abwechselnd negativ oder positiv besetzt sein. Diesem Thema und der Frage, wie dies mit Lenz’ Symptomatik zusammenhängt, widmet sich das Kapitel „Ruhe und Bewegung“ eingehend.

Weiter ziehen sich besonders Antithesen durch den Text. Die häufigsten sind laut Borgards hoch/tief, hell/dunkel, nah/fern, kalt/heiß, auch die Bewegungen des Prota­gonisten sind oft in einer Abfolge gegensetzlicher Richtungen strukturiert. Eindrücklich zeigt sich dieser Sachverhalt am folgenden Beispiel: „Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter“ (S. 31).

Jedenfalls zeigen sich laut Borgards an der Kombination parataktischen und elliptischen Satzbaus die geistige Fragilität und die starken Gemütsschwankungen des Protagonisten. Der Satzbau korrespondiere perfekt mit Lenz’ Innenleben, Gedanken würden genauso unverbunden ausgedrückt, und Brüche kennzeichneten die Sätze im Text wie auch Lenz’ innere Welt. Logische Verknüpfungen gebe es in der Sprache des Protagonisten und des Dichters oft nicht mehr. Eine ähnliche Parallele zieht Hasubek. Die häufigen Reihungen von Beschreibungen der Natur oder Lenz’ Verhaltensweise weckten durch unverbundene Aufzählungen den Eindruck von Stillstand und Ruhe. In dieser Unverbundenheit sieht der Sprachwissenschaftler eine Parallele zu Lenz’ Zustand, der ebenfalls keinerlei echte Bindung besitze, weder zur Natur noch zu anderen Menschen. Bemerkenswert für diese Arbeit ist der weitergehende Hinweis Borgards’, im „Lenz“ lasse sich an der Dichte von Ellipsen und Parataxen in der direkten Rede des Protagonisten der Stand seiner geistigen Gesundheit ersehen – eine These, die nun zu prüfen sein wird. Borgards stellt sie unbelegt in den Raum.[18]

Es stimmt, dass gegen Ende der Erzählung Satzbrüche und Ellipsen in der direkten und indirekten Rede des Protagonisten zunehmen, ein gehäufter parataktischer Satzbau hingegen ist nicht so einfach auszumachen. Seine letzten beiden Redebeiträge, von denen der erste in erzählter Rede steht und der zweite in direkter, sind beide recht lange Satzreihen, von denen erstere einen und letztere gleich zwei Nebensätze enthalten. Er klagt, wie „schwer“ alles sei und über die „ungeheure Schwere der Luft“ (S. 48) und dringt in Oberlin: „Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht?“ (S. 48). Sein drittletz­ter Redebeitrag ist tatsächlich Lenz’ Wunsch zu „retten, retten“ und nach „nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe“. Kurz zuvor in seiner viertletzten Rede wiederholt er nur die Worte „consequent“ und „inconsequent“ (S. 47), und nur eine Seite zuvor spricht er gleich dreimal das Wort „Hieroglyphen“ in einem stark gebrochenen Satz. Gerade für das Ende der Erzählung, wo Lenz’ Psyche schon völlig ins Pathologische abgleitet, sind es also vor allem Wiederholungen und ein teilweise anakoluthischer Satzbau, die seiner verfallenen geistigen Verfassung eine Stimme geben. Der Text spricht mehrmals selbst davon, dass Lenz in „abgebrochenen Sätzen“ (S. 42) rede. Etwa die Stelle, an der Lenz berichtet, er habe seine Geliebte getötet, ist nicht mehr als bloße parataktische Satzreihe zu bezeichnen, sondern ist ein von Gedankenstrichen zusammengehaltenes Gewirr von grammatikalisch unvollständigen Aussagen. Stillistisch scheint Büchner hier seiner Zeit schon vorraus und erinnert sogar deutlich an den erst später von Joyce erfundenen „stream of consciousness“. Lenz wechselt Ausrufe an ein imaginäres Du, dieses sogar kleingeschrieben an einem Satzanfang, mit Aussagen in der dritten Person über dieses Du ab, springt zu seiner Mutter und kommt zu einem radikalen Schluss, außerdem findet sich wieder mehrmalig die Repetito.

„Wie gebrochene Worte: ach sie ist todt! Lebt sie noch? du Engel, sie liebte mich – ich liebte sie, sie war`s würdig, o du Engel. Verfluchte Eifersucht, ich habe sie aufgeopfert – sie liebte noch einen andern – ich liebte sie, sie war`s würdig – o gute Mutter, auch die liebte mich. Ich bin ein Mörder“ (S. 45).

Es gibt noch ein anderes Stilmittel, das direkt auf Lenz’ innere Verfasstheit verweist. Dass Reflexivkonstruktionen in Verbindung mit Pronomen verwendet werden, um eine Zerrissenheit oder Entzweiung des Protagonisten darzustellen, hat Hasubek klarsichtig hingewiesen. Häufig erschienen Subjekt und Reflexivum wie zwei gespaltene Personen, damit sei dieses Stilmittel im Aussagegehalt der Antithetik im „Lenz“ verwandt. Durch Lenz gehe der selbe Riss, wie einer durch die ganze Schöpfung gehe. Folgende Stellen dienen als Beleg: „Er war sich selbst ein Traum […], er konnte sich nicht mehr finden, ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten“ (S. 33); „er weinte über sich“ (S. 35), „ging mit sich um wie mit einem kranken Kinde“ (S. 39), und er „fürchtete […] sich vor sich selbst in der Einsamkeit“ (S. 41). Im Selbstgespräch ist es Lenz sogar so, „als hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen“ (S. 46). Und bei einem erneuten schweren Anfall ist es sogar, „als sey er doppelt und der eine Theil suchte den andern zu retten“ (S. 47). Im Allgemeinen tritt ein solcher Gebrauch von Reflexiva immer mit Lenz’ Anfällen zusammen auf und geht immer dort zurück, wo der Zustand des Protagonisten sich bessert.[19]

Der Text weist noch in anderer Art und Weise die Einmalig- und Andersartigkeit des Erlebens seines Protagonisten aus. Die oft im Text erscheinende Ausdrucksweise „es war ihm, als“ deutet eben nicht nur auf eine gewisse erzählende Vermittlungsinstanz hin, sondern ist auch Indiz für die Subjektivität Lenz’schen Erlebens, die keinesfalls einer objektiven Realität entsprechen muss. Andererseits lässt sich auch die Frage danach stellen, inwieweit Lenz zu urteilen fähig ist, was Fakten sind, was sich diesen als Anschein beigesellt und wo die Grenze zwischen Halluzination und Wirklichkeit verläuft. Bemerkenswert ist folgende Stelle im Werk, wo es heißt: „[E]s war ihm als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm her“ (S. 31). Ist dies ein Anzeichen für eine gewisse Krankheitseinsicht des Protagonisten, der schon das Kommende befürchtet? Für Kubik jedenfalls zeigt dies die intuitive Einsicht Lenz’ in die bedrohliche Grenz­situation, in der er sich befindet. Reuchlein verweist darauf, dass Büchner dadurch dem Leser die Unterscheidung zwischen Lenz’ Wahn und der Realität erleichtere, E. T. A. Hoffmann lasse im Gegenzug Wahn und Wirklichkeit verschwimmen, indem er ein „als ob“ auslasse.[20]

Eine nennenswerte Feststellung Peter Hasubeks betrifft die Ellipsen, verweist aber in eine andere Richtung. Da die Verbellipse vornehmlich im ersten Drittel des „Lenz“ auftauche, wo eine Besserung des Protagonisten durchaus noch möglich scheine und meist mit harmonischen Szenen des Wohlbefindens verknüpft sei, stehe hier eine Einheit von Form und Inhalt zu vermuten. Das fehlende Verb entziehe den Sätzen Dynamik und lasse somit auch mehr Statik in den Text einkehren, die hier noch mehr als positive Ruhe gedeutet werden könne. Die Ellipsen so bestätigt sich, sind offenbar also nicht bloß Nebenprodukt mangelnder Überarbeitung, sondern raffiniert eingesetztes Stilmittel. Insgesamt spricht dies weiter für die Forschungsrichtung, die im „Lenz“ eine gewollte kunstfertige Unabgeschlossenheit erblickt hat.[21]

Eine andere aufgrund ihrer ausgefallenen Metaphorik viel zitierte und diskutierte Stelle ist der Wunsch des gepeinigten Dichters, auf dem Kopf gehen zu wollen. „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte“ (S. 31). Das Motiv, auf dem Kopf gehen zu wollen, ist etwa als Beispiel für den Stil im „Lenz“ herangezogen worden, Büchner wolle mit innovativen Bildern Normen überwinden. Die Interpretationen reichen von Lenz’ Verlangen, eine ihm missfallende Welt auf den Kopf stellen zu wollen (Andreas Erb), bis zu der Theorie, dass ein Kopfstand durch die geringere Höhe der Augen über dem Boden die Umwelt gewaltig schrumpfen lasse, was zu dem Gefühl des Wanderers passe, „er müsse Alles mit ein paar Schritten ausmessen können“ (S. 31). Ebenfalls ist nicht nur das räumliche Vorstellungsvermögen, sondern auch Lenz’ Zeitgefühl anscheinend stark beeinträchtigt. Es ist Lenz in keiner Weise nachvollziehbar, „dass er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen“ (S. 31). In dieses Bild fügen sich auch die anderen surrealen Beobachtungen und Erlebnisse in der Natur auf der anfänglichen Wanderung des Dichters ins Steintal.[22]

Dazu kommen schlechte Witterungsverhältnissen, die Schmidt mit alttestamentlichen Vorstellungen vom Ende der Welt in Verbindung bringt, wie sie bei Joel 2, 1 zu finden sind. Auch die Kopfstandsmetapher weiß Schmidt in sein apokalyptisches Bild zu integrieren. Er führt sie auf die bei Jes. 24, 1‒3 erwähnte verkehrte Welt zurück, da das Endgericht Gottes die gesamte Gesellschaft umstülpe. Die Metapher sei Ausdruck eines melancholischen Utopiewillens, der sich nur durch die totale Negation der Gesellschaft und ihrer Werte und Institutionen zu erfüllen vermöge.[23]

2.4 Ursachen des Wahnsinns

Auch wenn Schmidt dies gar nicht im Sinn hatte, unterstellt er im Grunde Lenz nichts anderes als den Wunsch, die Gesellschaft vollkommen umzugestalten. Ist also die Gesellschaft ein wesentlicher Grund, weshalb Lenz leidet? Im Folgenden soll ausgelotet werden, ob, wie stark und welche Ursachen Büchner für Lenz’ abnormes Verhalten im Text angelegt hat. Von einem großen Teil gerade der älteren Forschung ist die Ursache für Lenz’ Leiden als nicht bestimmbar ausgemacht worden, denn Büchner präsentiert keine allzu offensichtlichen Tatsachen. Dieser Haltung schließt sich auch Reuchlein an, der bemerkt, Büchner spiele zwar auf das Verhältnis zu Oberlin, Lenz’ Vater oder Friderike an, die Ursachen des Wahnsinns lägen aber vor Beginn des Textes und würden nicht beleuchtet. Auch für Hinderer liegen die Ursachen von Lenz Erkrankung außerhalb der Erzählung, aber er sieht durchaus Religion und Gesellschaft als verursachende Momente für Lenz Erfahrung, eines Risses in der Welt. Welche psychologische Erkrankung genau vorliege, sei eher zweitrangig.[24]

Ist es aber richtig, dass Büchners virtuos verfasster Text überhaupt keine „eigene Kausalerklärung liefert, sondern [… nur] eine neue Analysehaltung gegenüber dem Krankheitsverlauf vorschlägt“[25], oder gibt es nicht doch Andeutungen, hinter denen vielleicht sogar klare Aussageabsichten schlummern?

Etwa Thorn-Prikker hat als Grund der Lenz’schen Probleme dessen religionskritische Haltung in einer Zeit ausgemacht, in der solches Denken für den Großteil der Bevölkerung noch undenkbar gewesen sei. Büchner wolle zeigen, dass Oberlin und seine Anhänger kein adäquates Mittel hätten, um Lenz zu helfen.[26]

Kubitschek nennt dazu passend den wesentlichen Unterschied zwischen Lenz und den Talbewohnern: die Ruhe einfach lebender Menschen, die für den komplexer und intelle­ktueller denkenden Dichter nur wünschbar, aber nicht wirklich erfahrbar ist. Überhaupt ist von der Forschung immer wieder darauf verwiesen worden, dass Lenz unfähig sei, sich in die Gesellschaft mit ihren (religiösen) Normen, Pflichten und alltäglichen Arbeiten zu integrieren.[27]

Für Hermann Pongs stellt die Novelle ganz martialisch einen Kampf von Licht und Dunkel dar, eine psychologische Interpretation werde der Erzählung nur von der Nachwelt aufgezwungen. Eigentlich stamme Lenz’ Leiden aus interpersonellen Problemen und den Konflikten, die so in Individuen ausgelöst würden. So leide Lenz unter den Erwartungen seiner Familie und seinem Unvermögen, diesen gerecht zu werden oder sich gegen sie zu behaupten. Alle Extreme, die Lenz erlebe, auch seine Rebellion gegen Gott, seien letztlich nur Ausdruck seiner gescheiterten Beziehungen.[28]

2.4.1 Verzweiflung unerfüllter Liebe?

Historisch gesehen, gibt es schon einige Spekulationen zu den Ursachen des tragischen Verfalls des Dramatikers und Lyrikers J. R. M. Lenz, durch die sich eine breite Traditionslinie der Vermutung zieht, die Ursache für sein Leid sei in der Liebe zu finden. 1794 ist Lavater der Erste, der Lenz’ Krankheit mit unerfüllten Beziehungen in Verbindung bringt, allerdings noch, ohne sich auf eine bestimmte Dame zu beziehen. Bei Johann Friedreich Reichart wurde die Rolle der Verursacherin Goethes Schwester zuteil beziehungsweise ihrem Tod 1777, der den Dichter zerrüttet haben soll. Stöber wiederum bringt Friederike Briand in den Diskurs mit ein, die er als Ursache des Zusammenbruchs ausmachen will. Goethe dann hält eine deutlich andere Erklärung parat, ohne diese im Detail zu elaborieren. Er sieht bei seinem gewesenen Freund eine ungünstige Vermengung charakterlicher Eigenschaften und zeittypischer Probleme. Lenz sei schlicht überfordert damit gewesen, dass nicht mehr allgemeingültige theologisch-moralische Normen die Lebensführung reglementiert hätten. Im Zuge der Aufklärung und des Aufkommens der empirischen Psychologie sei ein Subjekt eingeführt worden, das seine Handlungen selbst bewerten und steuern müsse. Solche idealistischen Wertungskriterien – nach Goethe ja heilsame Lebensmaximen – wie edel/gemein oder gut/böse sind es interessanterweise, die zusammen mit dem gesamten Idealismus in Kunst und Leben vom literarischen Lenz im Kunstgespräch angegriffen und abgelehnt werden. Oberlins Bericht weiß ebenfalls nichts von gescheiterten Beziehungen als Grund für den Schmerz des Gastes. Der Theologe betrachtet Lenz’ Krankheit ziemlich religiös-konservativ und stellt eine Kritik an Lenz’ Lebenswandel in den Mittelpunkt. Häufiger Kontakt zu Frauen, Auflehnung gegen den Vater, unzweck­mäßige Beschäftigung und Herumstreifen sind seine Hauptangriffspunkte.[29]

Nicht unähnlich zu Goethes These mutet diejenige Hofmanns und Kannings an, in der Landschaft werde Lenz zum direkten oder indirekten Objekt. Die Emotionen bestimmten über Lenz’ Handlungen, was verdeutliche, dass das Ich nicht „Herr im eigenen Hause ist“. Ob es sinnvoll ist, eine psychoanalytische Erkenntnis zur Erklärung eines deutlich älteren Textes heranzuziehen, muss dahingestellt bleiben. Bemerkenswert ist aber, wel­che Stelle aus dem „Lenz“ Hofmann und Kanning zitieren, um dessen Unfähigkeit zu zeigen, Wider­stand zu leisten und seine Gefühle sowie das Unbewusste zu beherrschen.[30]

Denn mitten in der Katastrophe erscheint hier Lenz wieder als handelndes Subjekt: „[E]s faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang hinunter“ (S. 32). Zumindest bleibt an dieser Stelle sehr ambivalent, ob Lenz sich selbst wieder aufreißt gegen die ihn anfallende Panik oder ob es genau diese ist, die ihn letztlich doch treibt. Zumindest ist Lenz im Widerspruch zu Hofmanns und Kannings These grammatikalisch aktiv handelndes Subjekt im besprochenen Satz.

Etwa Fuchshuber, Irle oder Sharp stimmen alle darin überein, dass bei Büchner das Motiv der enttäuschten Liebe als Lenz’ Problem nicht sehr prominent dargestellt werde, Crighton will sich dieser Deutung nicht anschließen. Für ihn liegt eine feine Kom­position in der Aufeinanderfolge der ersten Erwähnung der Geliebten Lenz’ und dem Tod des Kindes, die in Oberlins Bericht so nicht vorkomme. Zudem assoziiere Lenz ja sein gesamtes Wohlbefinden mit der unglücklichen Liebe in der Form, wie er auf das Lied einer Magd reagiere (S. 41). Es sei dann auch der nicht umkehrbare Tod des kleinen Mädchens, der Lenz zu dem Glauben verleite, seine Mutter und seine Geliebte vernichtet zu haben. Crighton ist darin vollkommen recht zu geben, dass die folgende Passage von Krankheitssymptomen durchzogen sei. Es handelt sich um Lenz’ „Hieroglyphen“ (S. 46), Ausruf und eine Spaltung von Affekt und Verhalten, wenn er berichtet: „mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel“ (S. 46). Passend zur These des englischen Wissenschaftlers ist auch schon die frühere Meinung Helmut Fischers, gerade durch die gezielt seltene Erwähnung des Namens Friederike werde ihre Allgegenwärtigkeit deutlich.[31]

Extrem spekulativ mutet Crightons Versuch an, Verbindungen zwischen den seiner Meinung nach drei verursachenden Faktoren des Lenz’schen Wahnsinns zu sehen. Es handele sich zum einen um ambivalente Gefühle gegen den Vater und Oberlin, aber auch die Mutter und zuletzt seine Beziehung zur Geliebten und das tote Kind. Zwar ist das Argument nicht von der Hand zu weisen, dass Lenz seine Mutter und auch seine Geliebte für engelsgleiche Figuren hält und sie in seiner Fantasie beide tot sind. Zweifelhaft ist aber der Vermerk, beide gehörten anderen Männern, wobei die Aussage im Kern richtig ist. Zudem könne der Versuch, das Kind wiederzubeleben, als Versuch gedeutet werden, mächtiger zu sein als Gott, sein Vater oder Oberlin, die Crighton als selbe Gestalt in unterschiedlichen Figuren identifiziert.[32]

2.4.2 Ursachen des Wahnsinns als Sozialkritik

Ein Blick auf die historischen Verhältnisse lohnt bei der Annäherung an die Frage, ob Lenz’ Leidenszustand das Produkt gesellschaftlicher Umstände sei und ob die Erzäh­lung auch politisches Statement und nicht nur eine wortgewaltige Innenschau und ein treffender Bericht aus den Augen eines psychisch Erkrankten darstelle.

Aufschlussreich ist bereits, die durch den Pfarrer Oberlin ins Steintal gebrachten Verän­derungen zu betrachten. Im Allgemeinen wird es als sein Verdienst angesehen, das Steintal kultiviert zu haben. Hierunter fallen Schul- und Agrarreformen, das Bemühen um verbesserte gesundheitliche und hygienische Bedingungen genauso wie die öko­nomische Förderung der Region. Bemerkenswert ist, wie er eine progressive Sozial­politik mit einer tiefen Religiosität verband und als Theologe darin offenbar keinen Widerspruch erblickte. Oberlin ist somit eine viel beachtete Figur, die bis zu Büchner literarisch durchweg positiv dargestellt wurde wie das Steintal als utopische Landschaft. Bei Büchner nun wird sich in der Erzählung die Religion des Pfarrers als untaugliches Mittel, Lenz’ Symptomatik zu behandeln, erweisen, und es wird auf ein allgemeines Phänomen der Modernisierung verwiesen werden. Die Reformen stellten eben auch eine Annäherung der dörflichen Gemeinschaft an die moderne Leistungsgesellschaft dar. Personen, die sich nicht integrieren wollten oder konnten, wurden historisch wie lite­rarisch an den Rand gedrängt. Kurz ließe sich fassen: Modernisierung erzeugt Verlierer­gestalten, und so ist der Text auch als gesamtgesellschaftliche Reflexion dieser Modernisierung lesbar. Aber nicht nur das Oberlinbild wandelt sich in Büchners Erzählung, auch die etablierte eher kritische Sicht auf Lenz, wie sie durch den Bericht des realen Pfarrers, aber vor allem auch durch Goethes spottendes Urteil entstand, wird im Werk kritisch beleuchtet.[33]

Auch in jüngster Zeit wird noch die Meinung vertreten, der Text diskutiere die Unfähigkeit von Religion einem psychisch Kranken zu helfen, um so Stimmung gegen jene zu machen.[34]

Wenn er Oberlins Wirken im Text betrachtet, bei dem Gebet, tröstende Gespräche, Bau von Kanälen, Schulbesuch und Traumdeutung nah nebeneinanderstehen, schlussfolgert Borgards hellsichtig: „Deutlich wird hier der Zusammenhang von pastoraler Seelenö­konomie und Staatsökonomie: Oberlins Steintal erscheint in seiner Überkreuzung von praktischer Religion und religiöser Praktik als Miniatur einer modernen Seelen- und Staatsführung.“[35]

Warum Borgards jene Passage ignoriert, die nur wenige Zeilen vor der Beschreibung des positiven Wirkens Oberlins steht, bleibt unklar, genauso auch, warum die For­schung allgemein hier keine einschränkenden Töne für ein positives Lebens im Tal unter Oberlins Führung gesehen hat. Es ist die Rede von „Gerippe von Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von schwarzer ernster Farbe. Die Leute, schweigend und ernst, als wagten sie die Ruhe ihres Thales nicht zu stören“ (S. 33). Zwar ist hier keine klare Aussage formuliert, und es ist zu beachten, dass dem Leser alles durch die Perspektive eines geistig angeschlagenen, alles andere als zuverlässigen Beobachters mitgeteilt wird. Aber sind hier im Grunde nicht mehr oder weniger verfallene Bauten beschrieben, wenn von Gerippen die Rede ist, windschiefe Hütten kaum isoliert, eben nicht mehr als Bretter, und darin ernste Menschen ohne Grund zur Freude sind?. Vielleicht ist auch der Hinweis darauf nicht unerheblich, die Anwohner schienen, als wagten sie die Ruhe nicht zu stören, denn über die ersten Handlungen Oberlins beim Antreffen der Personen heißt es: „[E]r wies zurecht, gab Rath, tröstete“ (S. 33). Es gibt also durchaus Probleme im Steintal, sogar offensichtlich Meinungsverschiedenheiten oder Zuwiderhandlungen gegen das Gesetz Oberlins, die dieser kritisieren muss, auch Zuspruch und Trost sind offenbar in der Bevölkerung dringend erforderlich! Um mit Borgards zu sprechen, ist die „Staatsführung“ also durchaus nicht ideal. Eventuell könnte in dieser Passage sogar eine Kritik an Oberlins Führung vermutet werden, unter der Menschen weiterhin unglücklich in eher ärmlichen Verhältnissen leben müssen und nicht wagen, sich gegen die Verhältnisse auszusprechen. In diesem Kontext lässt sich auch einer Szene während Lenz’ Predigt sinnvoll deuten:

„und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdegeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Seyn, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte“ (S. 35).

Lenz findet also eine Gemeinschaft vor, in der durchweinte Nächte nicht unüblich sind, in direkter Nähe findet sich als einzige Kausalzuschreibung ein von materiellen Dingen abhängiges Dasein. Und all dieses Leiden, das ja offenbar in der versammelten Menge vorliegt, möchte Lenz in den Himmel leiten. Ist es nicht auch bezeichnend, dass in dieser Gesellschaft ein Landstreicher, von dem wortwörtlich niemand weiß, woher er gekommen ist, als Heiliger verehrt und mit Wallfahrten geehrt wird? Dies stellt aus Büchners Perspektive sicher kein Lob der beschriebenen Gemeinschaft dar.

Auch Payk sagt vorausweisend: „Auch andere Menschen, denen Lenz begegnet, sind seltsam Gezeichnete, ja Kranke.“[36] Er meint damit nicht nur den „Heilligen“, auch das kranke Mädchen, das Lenz in einer Hütte vorfindet wie all die anderen Personen, von deren metaphysischen Erlebnissen berichtet wird, selbst Oberlin bleibt hier nicht ausgeschlossen. Dennoch meint Payk mit Temini der Psychologie würde man solchen Ereignissen nicht gerecht und bei dieser Einschätzung bin ich bei ihm.[37]

[...]


[1] Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Herausgegeben von Werner R. Lehmann, Band II. Hamburg 1971, S. 424.

[2] Irle, Gerhard: Der Psychiatrische Roman. Stuttgart 1965.

[3] Schmidt, Harald: Die Apokalypse des melancholischen Bewußtseins im Gebirge. Zur Verschränkung psychotischen Weltuntergangserlebens und katastrophischer Natur in Georg Büchners Lenz. In: Apokalyptische Visionen in der deutschen Literatur. Hrsg. Von Joanna Jablkowska. Lodzkiego 1996. S. 152-169

[4] Borgards, Roland u. Neumeyer, Harald, Hrsg.: Büchner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009.

[5] Chrigton, James: Büchner and Madness. Schizophrenia in Georg Büchner's "Lenz" and "Woyzeck." New York 1998.

[6] Schütte, Uwe: Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen. Göttingen 2006. Und etwa Thorn-Prikker, Jan: Revolutionär ohne Revolution. Interpretationen der Werke Georg Büchners. Stuttgart 1978.

[7] Vgl Borgards/Neumeyer (2009), S. 53; vgl. Gersch u. Dedner: Sämtliche Werke und Schriften. Band 5: „Lenz“ historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). S. 167. Vorliegend wird als Primärtext für den „Lenz“ immer nach dieser Ausgabe zitiert. Die Seitenzahl wird in Klammern direkt hinter dem jeweiligen Zitat angegeben. Vgl. Hofmann, Michael/Kanning, Julian: Georg Büchner. Epoche – Werk – Wirkung. München 2013. S. 114 u. vgl. Poschmann, Rosemarie: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente /1: Dichtungen. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992. S. 795. Vgl. Thorn-Prikker, Jan: „Ach, die Wissenschaft, die Wissenschaft!“ Bericht über die Forschungsliteratur zu Büchners „Lenz“. In: Georg Büchner III. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München 1981. S. 181.

[8] Vgl. Borgards/Neumeyer (2009), S. 56‒57; vgl. Kubik, Sabine: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart 1991, S. 101.

[9] Vgl. Borgards/Neumeyer (2009), S. 55‒56.

[10] Vgl. Zweig, Arnold: Versuch über Büchner. In: Georg Büchners Sämtliche poetische Werke. Herausgegeben und eingeleitet von Arnold Zweig, München u. Leipzig 1923. S. 329.

[11] Vgl. Borgards (2009), S. 61‒62. vgl. Fuchshuber, Elisabeth: Georg Büchner: Lenz. In: Deutsche Novellen von Goethe bis Walser. Band 1. Regensburg 1980, S. 146‒148. vgl. Reuchlein, Georg: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München 1986. S. 392.

[12] Vgl. Borgards (2009), S. 61; u. vgl. Hofmann/Kanning (2013), S. 114‒116; vgl. Tarot, Rolf: Georg Büchner: Lenz. In: Erzählkunst der Vormoderne. Hrsg. von Rolf Tarot. Bern 1996. S. 163‒180. Hier: 167‒173. Vgl. Kanzog: Erzählstrategie. Heidelberg 1976. S. 186‒188.

[13] Vgl. Hofmann/Kanning (2013). S. 116‒117.

[14] Michels, Gerd: Landschaft in Georg Büchners Lenz. In: Textanalyse und Textverstehen. Hrsg. von Gerd Michels. Heidelberg 1981. S. 12‒31. Hier: 18.

[15] Vgl. Fuchshuber (1980), S. 147‒148.

[16] Wiese, Benno von: Georg Büchners Lenz. In: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Herausgegeben von Benno von Wiese. Düsseldorf 1965. S. 106.

[17] Vgl. Borgards (2009), S. 58‒59; vgl. Fuchshuber (1980), S. 145; vgl. Knapp, Gerhard P.: Georg Büchner - Eine kritische Einführung in die Forschung. Frankfurt 1975. S. 141. u. vgl. Thorn-Prikker (1981), S. 181.

[18] Vgl. Borgards (2009), S. 59‒60 u. vgl auch Hasubek, Peter: Vom Biedermeier zum Vormärz. Arbeiten zur Literatur zwischen 1820 und 1850. Frankfurt am Main 1996. S. 78‒81.

[19] Vgl. Hasubek (1996), S. 91.

[20] Vgl. Hofmann/Kanning (2013), S. 116‒117; vgl. Kubik (1991), S. 48; vgl. Reuchlein (1986), S. 394.

[21] Vgl. Hasubek (1996), S. 81.

[22] Vgl. Erb, Andreas: Georg Büchner. Lenz eine Erzählung. München 1997. S. 55. vgl. Hofmann/Kanning (2013), S. 118; vgl. Schütte (2006), S. 216; vgl. Schmidt (1996), 158‒159; vgl. Pilger, Andreas: Die „idealistische Periode“ in ihren Konsequenzen. Georg Büchners kritische Darstellung des Idealismus in der Erzählung Lenz. In: Georg Büchner Jahrbuch 8 (1990-94). S. 104‒125. Hier: S. 111.

[23] Vgl. Schmidt (1996), S. 158‒159.

[24] Vgl. Hinderer, Walter: Pathos oder Passion. Die Leiddarstellung in Büchners „Lenz“. In: Wissen aus Erfahrung. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Alexander Bormann. Tübingen 1976. S. 447-494. Hier: S. 488, 491; Vgl. Reuchlein (1986), S. 387‒388; vgl. Thorn-Prikker (1981), S. 190.

[25] Borgards (2009): S. 56.

[26] Vgl. Thorn-Prikker (1981), S. 183.

[27] Vgl. Kubitschek, Peter: Die tödliche Stille der verkehrten Welt – Zu Georg Büchners Lenz. In: Studien zu Georg Büchner. Herausgegeben von Hans-Georg Werner. Berlin und Weimar 1988. S. 86‒104. S. 95‒96. u. vgl. Schütte: S. 215.

[28] Pongs, Hermann: Das Bild in der Dichtung. II Band Voruntersuchungen zum Symbol. Marburg 1965. S. 255.

[29] Vgl. Borgards (2009), S. 55‒56, 63.

[30] Vgl. Hofmann/Kanning (2013), S. 116.

[31] Vgl. Crighton (1998), S. 196-197; vgl. Fuchshuber (1980), 153-154; Irle, (1965), S. 77-78. u. vgl. Fischer: S. 27.

[32] Vgl. Crighton (1998), S. 199.

[33] Vgl. Borgards (2009), S. 57 u. vgl. Schütte (2006), S. 209.

[34] Vgl. Bangor, Kaleigh: Writing in the Gap between J.F. Oberlin and J.M.R. Lenz. In: Büchner- Lektüren für Dieter Sevin. Herausgegeben von Barbara Hahn. Hildesheim u.a 2012. S 41-66. Hier: S. 43.

[35] Borgards (2009), S. 65.

[36] Payk, Theo Rudolf: Büchners literarische Gestalten aus psychopathologischer Sicht. In: Confinia Psychiatrica 17 1974. S. 101–110. Hier: S. 106

[37] Vgl. Payk (1974), S. 106-107.

Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Zur Motivik des Wahnsinns in Georg Büchners "Lenz". Das grandiose Scheitern einer radikalen Auflehnung
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
2,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
60
Katalognummer
V366722
ISBN (eBook)
9783668454415
ISBN (Buch)
9783668454422
Dateigröße
741 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychiker, Somatiker, Fixe Idee, Monomanie, Melancholie, Sozialkritik in Lenz, Aufständischer, Aussteiger, Behandlungsmethoden, Schizophrenie, Steintal, Somnambulismus, Romantik, Sturm und Drang, Wahnsinnsmotiv, Patientenverhältnis
Arbeit zitieren
Christian Maier (Autor:in), 2016, Zur Motivik des Wahnsinns in Georg Büchners "Lenz". Das grandiose Scheitern einer radikalen Auflehnung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/366722

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