„Verrücktes Blut“. Dekonstruktion von Stereotypen als zentrales Merkmal postmigrantischen Theaters


Dossier / Travail, 2015

19 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Postmigrantisches Theater als „künstlerische Suchbewegung“

3 Die Verhandlung von Stereotypen als zentrales Merkmal in „Verrücktes Blut“
3.1 Die plakative Darstellung von Vorurteilen gegenüber Migranten als Auftakt der ersten Szene
3.2 Die Figur der Lehrerin in „Verrücktes Blut“
3.2.1 Die „Klischeedeutsche“
3.2.2 Die Lehrerin als aufklärerisches Ideal des deutschen Bildungsbürgers
3.2.3 Die Dekonstruktion jeglicher klaren Identität am Bespiel der Figur der Lehrerin

4 Schlussbetrachtung

Besetzung

Literaturverzeichnis und Quellenangabe

1 Einleitung

„Das Stück (…) ist der Hit der Saison.“1 So titelt der „Spiegel“ im September 2010, als „Verrücktes Blut“, eine Koproduktion des Ballhaus Naunynstraße und der Ruhrtriennale, in Berlin-Kreuzberg erstmals aufgeführt wird. Als „Stück der Stunde“ wird es von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bezeichnet2 und die Fachzeitschrift „Theater heute“ kürt es zum deutschsprachigen Stück des Jahres.3 Gewissermaßen scheint es Regisseur Nurkan Erpulat und Dramaturg Jens Hillje mit ihrem Werk gelungen zu sein, das Prinzip des seit geraumer Zeit viel diskutierten postmigrantischen Theaters auf besondere Weise auf den Punkt zu bringen. Nahezu keine Theater-und-Migrations-Debatte lässt „Verrücktes Blut“ seither unerwähnt. Es scheint zum postmigrantischen Theaterstück par Excellance geworden zu sein. Das an den Film „La journpe de la jupe“ angelehnte Stück handelt von einer Lehrerin, die einer siebenköpfigen Klasse, bestehend aus Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund, mit Friedrich Schiller verzweifelt das klassische deutsche Theater lehren und ans Herz legen möchte. Es gelingt ihr allerdings keineswegs, sich den disziplinlosen, sie beschimpfenden Schülern gegenüber zu behaupten, geschweige denn, ihr Interesse an den aufklärerischen Idealen Schillers zu wecken. Als ihr zufällig die Pistole aus dem Rucksack eines Schülers in die Hände fällt, wendet sich das Blatt. Die Schüler werden zu ihren Geiseln und mit vorgehaltener Waffe kann der Unterricht beginnen. Das Lesen der unzähligen Reaktionen und Stellungnahmen zu dem Stück erweckt neben der allgemeinen Begeisterung fast den Eindruck einer allseits mitschwingenden Erleichterung. So als sei mit „Verrücktem Blut“ ein Teil der Unsicherheit beseitigt worden, die bislang stets unmittelbar mit dem Begriff des postmigrantischen Theaters verbunden gewesen zu sein schien. Inwiefern aber bringt das Stück nun das Prinzip des postmigrantischen Theaters auf den Punkt? Wodurch zeichnet sich dieses Prinzip aus? Wie wird es in diesem Fall konkret umgesetzt und welcher Versuch wird damit unternommen? Diese Fragen sollen im Folgenden am Beispiel von „Verrücktes Blut“ näher betrachtet und analysiert werden. Ich werde zunächst in aller Kürze auf die Situation des Migrations- Theaters in Deutschland eingehen, da mir dies als wichtige Voraussetzung erscheint, um das Stück, den Inhalt und die Form einordnen und verstehen zu können. Anschließend werde ich die Merkmale des postmigrantischen Theaters beispielhaft anhand der mir für die Fragestellungen zentral erscheinenden Figur der Lehrerin analysieren. Dabei werde ich nicht jede einzelne Szene berücksichtigen können, sondern mich auf eine Auswahl einiger zentralen beschränken.

2 Postmigrantisches Theater als „künstlerische Suchbewegung“

Obgleich es mir in diesem Rahmen nicht möglich ist, ausführlich auf die Ursprünge und Entwicklungen des migrantischen und damit auch unmittelbar verbundenen postmigrantischen Theaters in Deutschland einzugehen, so sei doch erwähnt, dass migrantische und postmigrantische Künstler und Kulturschaffende bis vor einigen Jahren fast ausschließlich in der freien Szene tätig waren. Eine bemerkenswerte Tatsache, wenn man bedenkt, dass Migration in Deutschland spätestens seit den sechziger Jahren eine nicht unwesentliche Rolle spielt. 20,5 Prozent der deutschen Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund4 und seit Jahren wird in Kultur und Politik rege über Migration und Integration diskutiert. Doch erst kürzlich wurde damit begonnen, die Theaterarbeit migrantischer Künstler weiter zu institutionalisieren. Während auf anderen Gebieten recht breit zu Migration in Deutschland geforscht wird, so ist in der empirischen Betrachtung der Bereiche Kunst und Kultur im Zusammenhang mit Migration eine große Lücke zu verzeichnen, sodass es kaum möglich ist, klare Aussagen zu treffen, was die Verhältnisse von Migration und Kunst und Kultur anbetrifft. Im Rahmen einer bundesweiten Studie des Zentrums für Kulturforschung wurden 2008 Bildungsangebote in Kultureinrichtungen, darunter Theater, Museen und Orchester, mit einem Fokus auf Migrantenangebote untersucht. Diese hat ergeben, dass unter den im Jahr 2008 erfassten

Bildungsveranstaltungen aller untersuchten Kultureinrichtungen lediglich ein Prozent explizit an migrantische Zielgruppen gerichtet war und nur neun Einrichtungen kooperierten mit Migrantenkulturvereinen.5 Allerdings scheint dieser geringe Austausch, laut eigener Aussagen der Einrichtungen, keineswegs auf Desinteresse zu gründen, vielmehr auf Unsicherheit, was den Umgang mit Migration im Bereich Kunst und Kultur anbetrifft.6 Șermin Langhoff, seit 2012 Intendantin des Gorki Theaters in Berlin, setzt dieser Unsicherheit etwas entgegen. Aufgrund der großen Nachfrage von künstlerischer Seite, gründet sie 2008 das Ballhaus Naunynstraße in Berlin, Kreuzberg und trägt mit dieser Spielstätte maßgeblich zu einem entscheidenden Schritt in Richtung institutionalisierter Theaterarbeit migrantischer Kulturschaffenden bei.7 Langhoff bezeichnet die Arbeit am Ballhaus Naunynstraße als „postmigrantische künstlerische Suchbewegung.“8 Es gehe dabei um eine nicht bestimmte Zugehörigkeit, um die Suche nach einer herauszufindenden Identität. Es inszenieren und spielen Künstler, die meist in der deutschen Gesellschaft aufgewachsen, jedoch ebenfalls mit der Kultur ihrer ursprünglich nicht aus Deutschland stammenden Familie vertraut sind. Thematisch und inhaltlich wird sich mit Migration und Identität auf unterschiedliche Art und Weise auseinandergesetzt. Das Verweben von Realität und Fiktion erzeugt eine Authentizität, die gewohnte Denk- und Sehstrukturen zu brechen vermag.9

Vielleicht ist es das, was „Verrücktes Blut“ zu einem der wohl charakteristischsten postmigrantischen Stücke unserer Zeit macht, der Bruch mit allen gewohnten Denk- und Sehstrukturen. Das unaufhörliche Konstruieren und Dekonstruieren jeglicher Stereotypen und vermeintlich klarer Identitäten.10

3 Die Verhandlung von Stereotypen als zentrales Merkmal in „Verrücktes Blut“

„Ein eingewurzeltes Vorurteil, eine vorgefasste, schablonenhafte Sichtweise bzw. Vorstellung einer Gruppe von sich selbst (Autostereotyp) oder über andere Gruppen (Heterostereotyp)“.11 So definiert der US-amerikanische Soziologe und Publizist, Walter Lippmann, treffend den Stereotype-Begriff. Die Macher von „Verrücktes Blut“ setzen sich in ihrem Stück intensiv mit ebensolchen, tief in der deutschen Gesellschaft verankerten Stereotypen auseinander. Auf welche Weise dies geschieht soll im Folgenden zunächst am Beispiel der Figuren der Schüler und anschließend insbesondere am Beispiel der Figur der Lehrerin analysiert werden.

3.1 Die plakative Darstellung von Vorurteilen gegenüber Migranten als Auftakt der ersten Szene

Während sich der Zuschauerraum langsam füllt, kleiden sich acht Darsteller, davon drei Frauen und fünf Männer, am Bühnenrand um und an. Sieben von ihnen streifen sich komfortable Trainingskleidung, Turnschuhe und Kapuzenpullover über. Eines der Mädchen zieht sich ein Kopftuch an. Die Achte fällt sichtlich aus der Reihe, trägt einen Blazer, einen knielangen Rock und weit ausgeschnittene, vorne geschlossene Damenschuhe mit Absatz. Alle bis auf diese platzieren acht Stühle am hinteren Bühnenrand und setzen sich. Der achte Stuhl bleibt frei. Einen Moment lang bleiben sie sitzen und blicken ins Publikum, gesprochen wird nichts. Nach und nach stehen sie auf und treten an den vorderen Bühnenrand, um sich in einer Reihe, frontal zum Publikum aufzustellen. Jede/r DarstellerIn nimmt nacheinander eine unterschiedliche Pose ein und bleibt in dieser verharren, allen gemein ist die betonte Lässigkeit. Breitbeinig, die Oberarme präsentierend, die Kapuze über den Kopf gezogen stehen die einen da, andere mit verschränkten Armen, den Händen in den Hosentaschen vergraben oder Sonnenbrille und Basecap tragend. Keine/r von ihnen lächelt oder schaut freundlich. Gesprochen wird immer noch nicht. So beginnt die erste Szene des Stücks. Es entsteht der Eindruck einer Schaufensterausstellung. Einen Moment passiert nichts weiter. Der Zuschauer hat Zeit jede/n einzeln ausführlich zu studieren. Nach einer Weile beginnen alle Darsteller zeitgleich lautstark virtuellen Schleim aus ihren Rachen zu befördern, um diesen scheinbar auf den Boden und in Richtung des Publikums zu spucken. Dem folgt ein Moment der Ruhe. Kurz darauf beginnen alle gleichzeitig schreiend durcheinander zu fluchen. Nach einem weiteren Moment der Ruhe beginnen sich die Darsteller hektisch, akribisch die Haare zu frisieren. Dieses Wechselspiel der Pausen und dem darauffolgenden synchronen Handeln wird so weiter fortgesetzt. Es folgt lautstarkes Telefonieren mit dem Handy, bei dem alle zu probieren scheinen einander zu „überschreien“, dem darauf ein gegenseitiges Anrempeln, welches mit Drohgebärden der Arme einhergeht.

Durch diesen Auftakt, der mehr einem Ausstellen als einem Vorstellen der Darsteller gleicht, werden den Charakteren auf der Bühne überspitzt verschiedene Eigenschaften zugeschrieben. Durch die anfangs eingenommenen Posen werden sie zunächst als prahlerisch und großspurig dargestellt; das Ausspucken von Schleim in der Öffentlichkeit gilt als unfein. Mit dem lautstarken Fluchen und den Drohgebärden, sowie dem gegenseitigen Anrempeln wird der Eindruck von möglicher Gewaltbereitschaft erweckt und das lautstarke Telefonieren verweist auf Rücksichtslosigkeit und Grenzüberschreitung. Wie aus etlichen Studien hervorgeht stellen die Macher von „Verrücktes Blut“ damit einige der tief verwurzelten Vorurteile der Deutschen ohne muslimischen Glauben gegenüber Migranten und Anhängern des muslimischen Glaubens dar. Vom „kanakischen Machomacker“, der eine Bedrohung für die deutsche Kultur darstellt, unsympathisch, rücksichtslos und gewalttätig ist, über das „unterdrückte Kopftuchmädchen“, bis hin zur „Schlampentusse“ werden hier wesentliche Züge des in Vorurteile gekleideten Stereotype- Migrant dargestellt.

[...]


1 Der Spiegel (Hg.) (2010): http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-73892447.html (Stand: 27.03.2015).

2 Ballhaus Naunynstr. (Hg.) (2010): http://www.ballhausnaunynstrasse.de/stueck/verrucktes_blut (Stand: 27.03.2015).

3 Coolibri (Hg.) (2011): http://www.coolibri.de/redaktion/0112/verruecktes-blut-identitaet- dekonstruktieren.html (Stand: 28.03.2015).

4 Statistisches Bundesamt (Hg.) (2009): https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migratio nIntegration.html, (Stand: 28.04.2015).

5 Vgl.: Keuchel, Susanne (2011): „Kulturelle Identitäten in Deutschland. Untersuchungen zur Rolle von Kunst, Kultur und Migration“, in: Wolfgang Schneider (Hg): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis; Bielefeld: transcript Verlag, S. 23.

6 Vgl.: ebd.

7 Vgl.: Sharifi, Azadeh (2011): „Postmigrantisches Theater. Eine neue genda für die deutschen Bühnen“, in: Wolfgang Schneider (Hg): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis; Bielefeld: transcript Verlag, S. 38.

8 Ebd., S. 39.

9 Vgl.: ebd.

10 Vgl. Gorki Theater (2015): http://www.gorki.de/spielplan/verruecktes-blut/ (Stand: 24.04.2015).

11 Online-Lexikon (2015): http://www.wissen.de/lexikon/stereotyp (Stand: 27.04.2015). 6

Fin de l'extrait de 19 pages

Résumé des informations

Titre
„Verrücktes Blut“. Dekonstruktion von Stereotypen als zentrales Merkmal postmigrantischen Theaters
Université
Free University of Berlin
Note
1,7
Auteur
Année
2015
Pages
19
N° de catalogue
V366897
ISBN (ebook)
9783668455986
ISBN (Livre)
9783668455993
Taille d'un fichier
685 KB
Langue
allemand
Mots clés
verrücktes, blut, dekonstruktion, stereotypen, merkmal, theaters
Citation du texte
Ariadne Stickel (Auteur), 2015, „Verrücktes Blut“. Dekonstruktion von Stereotypen als zentrales Merkmal postmigrantischen Theaters, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/366897

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