Die Personale Dimension sozialdidaktischen Könnens. Vom Erziehenden zum Lehrenden


Bachelor Thesis, 2014

61 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG ZUR „PERSONALEN DIMENSION SOZIALDIDAKTISCHEN KÖNNENS“

KAPITEL 2: DIE PERSONALE DIMENSION IM WANDEL DER ZEIT
2.1 HISTORISCHE BEZÜGE
2.1.1 Vergleich historischer Positionen
2.1.2 Relevanz der Klassiker für die gegenwärtige berufliche Bildung der
Sozialpädagogik
2.2 AKTUELLE DISKURSE
2.2.1 Diskurs von aktuellen Positionen
2.2.2 Aktueller Diskurs um die Missverständnisse des Liebesbegriffes

KAPITEL 3: (SOZIAL-)DIDAKTISCHE THEORIEN
3.1 BILDUNGSWISSENSCHAFTLICHE DIDAKTIKEN UND BILDUNGSIDEALE
3.1.1 Kritisch-Emanzipatorischer Ansatz n. B LANKERTZ
3.1.2 Bildungsideal n. K LAFKI & Kritisch-konstruktive Didaktik
3.1.3 Kritisch-kommunikative Didaktik
3.2 DIDAKTISCHE UND THEORETISCHE BEZÜGE AUS DER
SCHULPÄDAGOGIK/PSYCHOLOGIE
3.2.1 Pädagogische Beziehungen und Vertrauen
3.2.2 Beziehungsdidaktik
3.3 SOZIALDIDAKTIK - DIDAKTIK/METHODIK SOZIALER ARBEIT?
3.3.1 Entwicklungslinien der Sozialdidaktik von 1986-2014
3.3.2 Diskussion zur personalen Dimension innerhalb der Sozialdidaktik

KAPITEL 4: VOM ERZIEHENDEN ZUM LEHRENDEN
4.1 BEGRIFFE AUS SOZIALDIDAKTISCHEN ENTWICKLUNGSLINIEN NEU
ENTDECKT
4.1.1 Doppelter-Theorie-Praxis-Bezug der Personalen Dimension
4.1.2 Die Haltung als Spezifikum der integralen Persönlichkeitsbildung
4.1.3 Sozialdidaktische Ü berlegungen
4.2 METHODENAUSWAHL DER SOZIALDIDAKTIK
4.2.1 Kasuistik - von der Exemplarik zu theoretischen Ideenentwürfen
4.2.2 Das Planspiel als Methode der Sozialdidaktik

5 KRITISCHE ANMERKUNGEN UND AUSBLICK

6 LITERATUR

1 Einleitung zur „Personalen Dimension sozialdidaktischen Könnens“

Die vorliegende Bachelor-Thesis wird grundlegend dem Thema der perso- nalen Dimension in der Sozialdidaktik begegnen. In der (sozial-) pädagogi- schen Literatur sind neben den historischen Pädagogen (ROUSSEAU, PESTALOZZI, HERBART, NOHL) auch in aktuelleren Diskussionen (MÜL- LER/DÖRR, THIERSCH, COLLA) verschiedene Ansätze zur Begriffsklärung reichlich zu finden. Diese werden das zweite Kapitel der Bachelor-Thesis ausmachen, denn erst wenn Theorien gefestigt und diskutiert sind, kann ein Transfer in die Sozialdidaktik stattfinden, so eine der indirekt leitenden Hy- pothesen dieser Bachelor-Thesis. Im zweiten Kapitel werden Teilaspekte der Schulpädagogik/Psychologie (SCHWEER, MILLER), die sich mit der Thematik der Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung beschäftigen, bear- beitet. Die (allgemeinbildende) Didaktik (KLAFKI, WINKEL) ist stets bemüht diesen querliegenden Beziehungsaspekt mit einzubeziehen. Ebenso beinhal- ten die didaktischen Ansätze ein gewisses Bildungsideal, welches skizziert dargestellt wird und in Auszügen in Kapitel IV einfließt. Die Sozialdidaktik ist zum Teil den erziehungswissenschaftlichen Didaktiken entsprungen. Im Sinne der personalen Dimension werden die Theorieentwürfe diskutiert und gegebenenfalls neu entdeckt.

Die Sozialdidaktik, so die bisherige Recherche, geht höchst wahrscheinlich von einem Komplex von Beziehungen aus. Die komplexen Beziehungs- strukturen werden querliegend mitgedacht, mitgestaltet, reflektiert, aber nicht in Gänze ausformuliert. Die personale Dimension mithilfe von - tatsächlich-(sozial-) pädagogischer Literatur in die Sozialdidaktik einmün- den zu lassen ist eine der Zielsetzungen, die der Verfasser anstrebt. Dabei muss die Sozialdidaktik (KARSTEN/WUSTMANN/GÄNGLER) von meist äqui- valent benutzten Begriffen wie der ‚Didaktik der sozialpädagogischen Ar- beit’ (MARTIN) oder der ‚Didaktik/Methodik Sozialer Arbeit’ (SCHILLING) erläutert und diskutiert werden. Des Weiteren werden einige Werke dahin- gehend analysiert, inwiefern Autor*innen genuin (sozial-) pädagogische Literatur zur Unterstützung ihrer Ausführungen nutzen. Dabei wird eine Auswahl von Texten mit in die Bachelor-Thesis eingeflochten und andere wiederum zwar erwähnt, aber aufgrund ihrer Ähnlichkeit verworfen. Ein weiteres Ziel ist demnach die kritische Auseinandersetzung mit den Schrif- ten, die zwar eine Didaktik der Sozialpädagogik zu erstellen versuchen, je- doch entweder nicht auf die eigenen Entwicklungslinien zurückgreifen oder nur teilweise die eigene Disziplin als theoretische Grundlage zu nutzen. Diese Darstellungen stellen das dritte Kapitel der Arbeit dar.

Die Diskussion um historische und aktuelle (Sozial-) Pädagogen und deren theoretische Ansätze, sowie die Darstellungen zu klassisch- und sozialdi- daktischen Ansätzen münden im Kapitel ‚Vom Erziehenden zum Lehren- den’ in sozialdidaktische Transferideen, die unter Berücksichtigung der per- sonalen Dimension theoretische Erkenntnisse für die Sozialdidaktik erbrin- gen sollen und dabei auf mögliche Methoden einer (sozial-) pädagogisch fundierten Sozialdidaktik zurückgreifen. Die nachfolgenden Kapitel werden jeweils für sich selbst mit einer Einführung versehen, welches der Le- ser*innenlenkung dienen soll.

Kapitel 2: Die personale Dimension im Wandel der Zeit

"Der erste Schritt beim Lernen ist die Liebe zum Lehrer, und im Verlauf der Zeit wird es gewiss geschehen, dass der Knabe, welcher die WissenF schaften um des Meisters willen zu lieben begonnen hatte, später an dem Meister um der Wissenschaft willen hängt. Denn so wie uns Geschenke meistens und gerade darum sehr lieb sind, weil sie von denjenigen herF kommen, die uns besonders teuer sind, empfehlen sich auch die WissenF schaften denjenigen, welchen sie nach ihrem eigenen Urteile noch gar nicht gefallen können, durch die Zuneigung zum Lehrer. Ganz richtig hat darum Isokrates gesagt: "Am meisten lernt der, der gerne lernt"; man lernt aber gerne von denjenigen, die man lieb hat. Es gibt aber einige (Lehrer) von so unliebenswürdigem Wesen, das nicht einmal ihre Frauen sie gerne zu haben vermögen: sie zeigen ein grimmiges Gesicht, ein finsteF res Gebaren; sie scheinen voll Zorn, selbst wenn sie gnädig aufgelegt sind; sie können nicht gefällig sprechen, nicht den Lachenden freundlich beF gegnen. Man könnte wohl meinen, dass sie unter einem unfreundlichen Sterne geboren worden seien."

E RASMUS VON R OTTERDAM (1469 F 1536)1

2.1 Historische Bezüge

Eine Möglichkeit Themen zu begegnen kann eine Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung sein. In den folgenden Ausführungen wird dieser Zugang nicht nur als Möglichkeit argumentiert, sondern als grundle- gend für eine theoretisch fundierte Ausarbeitung eines Themas dargestellt. Das folgende Kapitel referiert die Entstehung der in der Sozialpädagogik benutzten Termini, die für den Diskurs rund um die Beziehungsgestaltung notwendig erscheint. Im Anschluss wird die Relevanz für die heutige beruf- liche Bildung der Sozialpädagogik dargestellt, um in die allmähliche Kon- textualisierung dieser Bachelor-Thesis einzuführen.

2.1.1 Vergleich historischer Positionen

Die personale Dimension der (Sozial-) Pädagogik führt bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück. J.J. ROUSSEAU, geboren am 28. Juni 1712 in Genf, wird als Vordenker der Aufklärung gesehen. Neben seinem gesellschaftskriti- schen Denken ist die Schrift ‚Émile oder über die Erziehung’ ein wesentli- cher Bestandteil der pädagogischen Geschichtsschreibung. Er gilt ebenfalls als einer der ersten Pädagogen, der dem Kind eine eigene Lebensphase zu- schreibt. Dabei erwähnt er, dass es sich beim Kind nicht um einen kleinen Erwachsenen handele und demnach nicht so behandelt werden dürfe (vgl. GIESECKE 1997, S.30)2, jedoch „ [...] schlummerten [in dem Kind, C.S.] Kräfte, die geweckt werden, die sich entfalten können müssen, bevor es für die Aufgaben des Erwachsenen reif werden könne “ (ebd.). ROUSSEAU, so GIESECKE, kritisierte die Beziehung des Hauslehrers zum Schüler3. ROUSSEAU forderte eine Beziehungsgestaltung, die von einer partikularen, begrenzten und an den Zweck gebundene Beziehung hin zu einem Verhält- nis, dass die Gesamtpersönlichkeit des Individuums mit einbezieht (vgl. GIESECKE 1997, S.34f). ROUSSEAU entwirft außerdem die Anfänge metho- dischen Handelns, welche aufgrund von Sachverhalten bezüglich „ der Na- tur, Kultur und des täglichen Lebens “ (ebd. S.35) einem gewissen Plan von natürlicher Erziehung entspricht. GIESECKE bezeichnet ROUSSEAUS Idee von Erziehung (im Kontext des Hauslehrers adeliger Zöglinge) im Gesamtbild als rational-distanziert, um so nicht mit der familiären Struktur in Verbindung gebracht zu werden (vgl. GIESECKE 1997, ebd.).

J.H. PESTALOZZI, geboren am 12. Januar 1746 in Zürich, gilt ebenfalls als Vordenker der Beziehungsgestaltung und war sich, wie auch Rousseau dar- über bewusst, dass gesellschaftliche Einflüsse in pädagogische Prozesse eingebunden werden. Weiterhin weist PESTALOZZI auf die Relevanz der pädagogischen Beziehung zwischen dem Erziehenden und dem Zögling hin, dass durch die Präsenz des Erziehenden und dessen emotionalen Verbun- denheit dem Zöglings gegenüber dargestellt wird (vgl. COLLA/KRÜGER 2013, S.29). PESTALOZZI ist der Ansicht, „ daßohne eine befriedigende, ge- rade auch gefühlsm äß ige Akzeptanz der Kinder alle anderen pädagogischen Maßnahmen ins Leere laufen würden “ (GIESECKE 1997, S.48). Grundlegend kann der Stanser Brief als Quelle genutzt werden, um das Verhältnis, wel- ches PESTALOZZI zu seinen Kindern aufgebaut hat, zu beschreiben. Neben vielen Darstellungen der damaligen Situation4, sowie Handlungsempfehlun- gen und Argumentationen für eine häusliche Erziehung, skizziert folgende Passage aus dem Stanser Brief die anfängliche Beziehungsgestaltung zwi- schen PESTALOZZI und seinen Zöglingen:

Suche deine Kinder zuerst weitherzig zu machen, und Liebe und Wohltä- tigkeit ihnen durch die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse, ihren Empfindungen, ihrer Erfahrung und ihrem Thun nahe zu legen “ (Pestalozzi zit. n. GIESECKE 1997, S.41). Anhand dieser Handlungsempfehlung ist PESTALOZZIS Verhältnis zu seinen Kindern knapp zusammengefasst nach- vollziehbar. Die Begriffe der Liebe und Wohltätigkeit, sowie die Bedürfnis- befriedigung wurden von PESTALOZZI in einem sehr starken emotionalen Verhältnis zu seinen Zöglingen gelebt. GIESECKE bezeichnet diese Bezie- hung als ‚familienanaloge Struktur’ (vgl. GIESECKE 1997, S.50)5. Die Liebe wurde fortan zu einem der zentralen Begriffen der sozialpädagogischen Beziehungsgestaltung (vgl. GIESECKE 1997, S.48).

1802 wurde durch J. H. HERBART, geboren am 4. Mai 1776, der Terminus „der pädagogische Takt“ geprägt. HERBART sieht als Grundvoraussetzung der pädagogischen Beziehungsgestaltung „ [...]die persönliche Zuneigung und Achtung [...] “ (HERBART 1888, S. 405) dem Zögling gegenüber, ohne die die Handlungen des Erziehenden unwirksam würden. Der „ [...] päda- gogische[r] Takt, der dem Zögling auch da nicht „ zu nahe tritt “ , wo er ihn steigern oder bewahren möchte, und der spürt, wenn eine große Sache nicht pädagogisch klein gemacht werden darf “ (HERBART zit. n. NOHL, 1963 S.137) ist in diesem Moment verantwortlich, wie der Erziehende dem Zög- ling in seiner Art begegnet. Er ist unter anderem dadurch bestimmt, dass sich der Erziehende in Situationen zunächst von seinem Gefühl leiten lässt (vgl. HERBART/ASMUS 1982, S. 126) und durch eine Situationsanalyse Kenntnis über die konkrete und komplexe Situation hat. Mithilfe der eige- nen Sensibilität und Intuition sollte sich ein ‚taktvolles Verhalten’ entwi- ckeln, was schließlich zu einer Souveränität im pädagogischen Handeln führt (vgl. COLLA 1999, S. 349; vgl. COLLA 2013, S.37). Der pädagogische Takt ermöglicht es zum einen, die Entstehung des richtigen Gefühls für so- zialpädagogisch taktvolles Handeln, welches durch Erfahrungen und Er- kenntnisse in sozialpädagogischen Kontexten entwickelt wird, zu internali- sieren. Zum anderen bedarf es einer wissenschaftlichen, theoriegeleitenden und fundierten Reflexion über bereits Erfahrenes (vgl. HERBART/ASMUS 1982, S. 125, vgl. TETZER 2009, S.103). Das Prinzip des pädagogischen Taktes ist daher ein relevanter Aspekt, weil es zum einen dem ‚werdenden’ Menschen den Freiraum zur Selbstentfaltung einräumt, aber auch gleichzei- tig die zum Teil dringend erforderliche Nähe, falls der Zögling dieses Be- dürfnis äußert. Aufgrund der (gesetzlichen, professionellen und ethisch- bedingten) Verantwortung der erziehenden Person ist allerdings ein ‚Las- sen-können’, neben dem ‚Tun-müssen’ ebenfalls ein Bestandteil des päda- gogischen Taktes (vgl. LEE 1989, S.90f; vgl. COLLA 2013, S.38f).

Herman NOHL, geboren am 7. Oktober 1879 in Berlin, erwähnt den Begriff des pädagogischen Bezugs erstmals 1926 in seinem Aufsatz ‚Gedanken für die Erziehungstätigkeit des Einzelnen’ (vgl. COLLA/KRÜGER 2013, S.31).

Eine der relevantesten Aussagen von NOHL bezieht sich auf die Bezie- hungsgestaltung zwischen dem Erzieher und dem Zögling „ also das leiden- schaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Men- schen, und zwar um seiner selbst willen, daßer zu seinem Leben und seiner Form komme “ (vgl. NOHL 1963, S.134). NOHL beschreibt in dieser Aussa- ge, dass aufgrund des Generationenunterschiedes und den damit verbunde- nen Erfahrungen ein asymmetrische Verhältnis des Erziehers zum Zögling vorhanden ist (vgl. LEE 1989, S.84). Diese Asymmetrie ist nach Nohl ein entscheidender Aspekt für die Bildung und das „Bildungserlebnis“ des Zög- lings. NOHL geht davon aus, dass in der wechselseitigen Hingabe des Zög- lings zum Erzieher die Erfahrung und Erkenntnis des geistigen Wachstums enthalten ist und dieser auch des Zöglings (Bildungs-)Willen entspricht.

„ Die Bildungsgemeinschaft zwischen dem jungen Menschen und dem Erzie- her hat eine katalytische Funktion für das Selbstwerden des jungen Men- schen “ (LEE 1989, S.84) . Dem Erzieher wird bei NOHL also eine Autorität zugesprochen, dessen hebende Liebe dem Zögling dazu verhilft sich zu entwickeln (vgl. NOHL 1963, S.138f.; vgl. auch LEE 1989, S.71, S.84). Die hebende Liebe ist dadurch gekennzeichnet, dass Bedingungslosigkeit und Vertrauen in die Fähigkeiten des Zöglings seitens des Erziehers von Natur aus impliziert wird. Der Zögling wird also nicht nur um des Leistungswil- lens gefördert, sondern um das inne wohnende Potenzial des Zöglings zu entfalten. Die Erforschung und Entdeckung dieser Potenziale, sowie die Kommunikation darüber, wird als eine der Aufgaben des Erziehers gesehen (vgl. NOHL 1963, S.135 f.).

Einen weiteren Aspekt stellt das Vertrauensverhältnis zwischen dem Erzie- her und dem Zögling dar, denn „ [w]o ich vertraue, handle ich besser, wo mir vertraut wird, fühle ich mich gebunden und bekomme Kräfteüber mein Ma ß“ (NOHL 1963, S. 138). Auf dieses wechselseitige Vertrauen kann ein ‚sich-einlassen’ und ‚sich-verstehen’ beider Akteure erfolgen, was zu einer beidseitigen Selbstöffnung führt. Durch diese gewonnene Offenheit entsteht gleichzeitig eine Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit des Verhaltens des Gegenübers (vgl. COLLA/KRÜGER 2013, S.34). Das Vertrauen kann also damit ebenfalls als eine Katalysatorfunktion betrachtet werden und bleibt auch nach der Auflösung des pädagogischen Bezuges zumeist bestehen. Das Ziel des pädagogischen Bezuges ist die Angleichung des asymmetrischen Verhältnisses zu einem symmetrischen, die Abschwächung der Autorität der Fachkraft und die zunehmende Mündigkeit und Subjektivität des werdenden Menschen - also der Ablösung zum Erzieher (vgl. NOHL 1933, S.21, vgl. COLLA/KRÜGER 2013, S.35).

Nachfolgend wird exemplarisch aufgezeigt, wie die referierten Pädagogen zu vergleichen sind, wenn gleich aufgrund der unterschiedlichen Bedingun- gen und (sozial-)pädagogischen Situationsgefügen dieses nur als Versuch zu sehen ist. Die zeitlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedin- gungen der historischen (Sozial-)Pädagogen zur Theorie-Entwicklung, wei- chen teilweise enorm voneinander ab. Während ROUSSEAU in seiner Theo- rie-Bildung von einer Einzelbetreuung ausgeht, muss sich PESTALOZZI, zu- sammen mit einer Hauswirtschaftsangestellten, um 80 Zöglinge sorgen. Die (fiktiven) Zöglinge von ROUSSEAU sind aus gutsituiertem Adelshäusern, wohin gegen PESTALOZZIS Zöglinge entweder Halb- oder Vollwaisen wa- ren, da bei einem Vorrücken der französischen Truppen im Herbst 1798 viele Menschen getötet wurden (vgl. GIESECKE 1997, S.34). Aus heutiger Perspektive erscheint es daher nachvollziehbar, dass verwahrloste Waisen- kinder eher einer emotional stärkeren Bindung bedürfen, als Kinder aus französischen Adelsfamilien. Dies wurde sowohl von ROUSSEAU als auch von PESTALOZZI situationsgerecht erkannt. Wenn nach Übereinstimmungen gesucht würde, dann ist festzustellen, dass alle referierten Pädagogen eine klare Idee von dem Bild des Kindes entworfen haben. Die Wechselwirkung von Gesellschaft, deren Möglichkeiten und Risiken und dem Individuum wurden von ROUSSEAU und PESTALOZZI begründet und geprägt. HERBART und NOHL führten diese Ideen fort und setzten das Kind in einen Bildungs- kontext. HERBART spricht innerhalb seines pädagogischen Taktes von einer Selbstentfaltung des Zöglings, wie auch ROUSSEAU, während NOHL dem Zögling, ‚ um seiner selbst willen ’ mithilfe der ‚ hebenden Liebe ’ zu einem mündigen Wesen verhelfen möchte. Es ist also festzustellen, dass Bil- dung(sideale) und Erziehung, auch in Hinblick auf die personale Dimensi- on, bereits im Verlauf der früheren Geschichte eng miteinander verknüpft sind.

2.1.2 Relevanz der Klassiker für die gegenwärtige berufliche Bildung der Sozialpädagogik

Schüler*innen, die die Ausbildung zur Sozialassistent*in oder zur Erzie- her*in durchlaufen, werden zwangsläufig mit den sozialpädagogischen Klassikern durch eine weitere Geschichtsperspektive, die der (Sozial- )Pädagogik, in Berührung geraten. Neben den eigentlichen Inhalten6, ver- bunden mit einer kritischen Würdigung der initiierenden Personen, wird das Denken in historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen angestrebt. Der zentrale Bestandteil dieses querliegenden Themas ist die Beziehungsgestaltung zwischen Erzieher*in und jungen Menschen, welches unabdingbar für die Professionalisierung ist.

Dabei sollte beispielsweise aus der Diskussion des pädagogischen Taktes ein Grundparadigma innerhalb der zukünftigen ethischen und professionel- len Haltung vor Augen geführt werden, welches die Ausnutzung der Macht- ausübung der Erzieher*in verhindert, die zu einer Spannung innerhalb des asymmetrischen Verhältnisses beitragen könnte. Es kann jedoch trotz dieser Grundhaltung nicht ausgeschlossen werden, da der Zögling gerade durch das Angewiesensein und dem damit verbundenen Machtgefälle in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Erzieher*in steht (vgl. THIERSCH 2006, S. 35). Dieses diskutierte Spannungsverhältnis, dass THIERSCH treffend dadurch ergänzt, dass „ Nähe gelingt, wo auch Distanz gegeben ist, und Distanz, wo sie sich auf Nähe beziehen kann “ (THIERSCH 2012, S. 35), zeigt umso mehr auf, dass es sich hierbei um einen Balanceakt handelt. Es kann außerdem begründet werden, wenn ausschließlich die Beziehungsgestaltung betrachtet würde, warum ein zu enges emotionales Verhältnis zu dem Mädchen oder dem Jungen (wie bei PESTALOZZI) die Distanz verdrängt und bei einem zu distanzierten Verhältnis (wie bei ROUSSEAU) die Nähe außer Acht gelassen werden kann.

Eine häufig gestellte Frage wird ebenfalls innerhalb dieser Ausführungen indirekt beantwortet und stellt einen bescheidenen Exkurs dar: ‚Warum braucht die Sozialpädagogik Klassiker*innen?’ Dieser Frage widmet sich u.a. Michael WINKLER und fasst es prägnant zusammen, denn „ [d]ie einen halten eine Beschäftigung mit den Klassikern für gänzlich unentbehrlich, weil sie die fachliche Identität stabilisieren, die Grundprobleme von Diszip- lin und Profession erstmals und dauerhaft zur Sprache gebracht haben, zudem theoretische wie praktische Lösungsansätze zuweilen beispielhaft aufzeigen “ (WINKLER 2012, S.31)7. Es sollte also anhand der Klassi- ker*innen bzw. den klassischen Texten ersichtlich werden, wie die zukünf- tigen Erzieher*innen eine Situation, die sich hier mit dem Problem der Nähe und Distanz beschäftigt, bewältigen und lösen können.

Diese Exemplarik zeigt auf, dass bereits über einen Vergleich der Pädago- gen ROUSSEAU und PESTALOZZI eine begründete Position und Hinführung zum pädagogischen Takt entstehen kann. Sie argumentiert gleichzeitig für die von WINKLER aufgezeigte Position, Klassiker*innen zu studieren. Dieser exemplarische Diskurs, sowie der bescheidene Einwurf zum Thema ‚Klas- siker*innen’ bedarf in gesonderter Form einer Auseinandersetzung.

2.2 Aktuelle Diskurse

Im nachfolgenden Kapitel werden ausgesuchte Positionen der aktuellen Diskurse dargestellt, um neben der historischen Skizzierung der personalen Dimension auch aktuelle Gedanken in diese Arbeit einfließen zu lassen. Es werden ebenso Begrifflichkeiten wie das Vertrauen, die pädagogische Lie- be, aber auch Gefühle und Emotionen aus (sozial-) pädagogischer Perspek- tive erläutert, bei der sich eine grundlegend-sozialpädagogische Perspektive herauskristallisiert. Diese Vorgehensweise wird im Verlauf der vorliegen- den Arbeit argumentativ begründet.

2.2.1 Diskurs von aktuellen Positionen

Die personale Dimension, sowie die beinhaltete Frage nach Nähe und Dis- tanz ist in der Sozialen Arbeit als allgegenwärtig im Umgang mit den Ad- ressat*innen zu sehen. Sie wird daher als eine der zentralen Dimensionen in der Frage nach dem Selbstverständnis der Sozialen Arbeit gesehen. Dabei wird innerhalb des Begriffspaares, welches häufig als Gemengelage be- zeichnet wird (THIERSCH/MÜLLER/DÖRR), oft zwischen den entgegengesetz ten Polen gelebt und es dementsprechend verstanden. Während einige die Nähe und damit auch die Qualität der Beziehungsarbeit und -gestaltung als ein wesentliches Merkmal sozialpädagogischer Handlungen bestimmen, sehen andere die professionelle Fähigkeit zur Distanz als das ausschlagge- bende Charakteristikum (vgl. THIERSCH 2006, S.29). TETZER zeigt zudem auf, dass „ Emotionalität und Rationalität als zwei aufeinander bezogene Aspekte einer sozialpädagogischen Erkenntnis- und Handlungsweise begrif- fen werden “ (TETZER 2009, S.103). Es wird dabei deutlich, dass emotionale Nähe und rationale Distanz nicht alternativ zueinander diskutiert werden können, sondern vielmehr in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen (vgl. ebd., S.116). Sie bilden ein „ duales Gespann, welche zusammen einen Horizont spannen, der sich durch alltägliche und wissenschaftliche Theorie ziehen kann. Das bedeutet, dass wissenschaftlich-rationale Sozial- pädagogik nicht von ihren emotionalen Aspekten gesondert betrachtet wer- den sollte “ (GARBERS 2009, S.160).

Eine der größten Herausforderungen für Akteur*innen der Sozialen Arbeit dürfte damit die Verschränkung beider konträr gesehenen Polen darstellen, um den individuellen Lebensentwürfen und Alltagssituationen gerecht zu werden.

Die von Hans THIERSCH, geboren am 16. Mai 1935, begründete und stets aktualisierte Lebensweltorientierung beinhaltet unter anderem das Erforder- nis, den Alltag und seine Ressourcen anzuerkennen, zu achten und in die sozialpädagogische Arbeit mit der Klient*in einzubinden. THIERSCH ver- steht den Alltag als „ die Wirklichkeit der je eigenen, also subjektiven Erfah- rung von Raum, Zeit und sozialen Beziehungen und darin von der Unmittel- barkeit von Bewältigungsaufgaben “ (THIERSCH 2012, S. 33). Der Alltag enthält weiterhin die Wirklichkeit des Selbstverständlichen, des Vertrauten und der Nähe, in der sich Menschen inbegriffen fühlen. Die Nähe innerhalb der Lebensweltorientierung stellt lebensweltliche Konstrukte von Nähe und Distanz in Bezug auf Raum, Zeit und soziale Beziehungen dar (vgl. THIERSCH 2012, S.33f) und kann in einer zu extremen Form zu einer engen und damit klammernden Beziehung führen. Eine zu ausgelebte Distanz hin- gegen kann zur Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit führen (vgl. ebd., S. 34f.). Die sozialpädagogische Fachkraft ist innerhalb des Spannungsmo ments von Nähe und Distanz und muss dieses ausbalancieren. Diese Her- ausforderung für die sozialpädagogische Fachkraft, also das Ausüben des Balanceaktes zwischen Nähe und Distanz, ist grundlegend für eine gelin- gende Beziehungsgestaltung (vgl. ebd., S. 38). Die Missachtung einer sol- chen Balance kann durch eine Verabsolutierung von Nähe zu Verführung, Vertrauensmissbrauch, Nötigung und sexueller Gewalt führen. Eine einsei- tige Konzentration auf Distanz kann zu einer Erhärtung der formalen Rol- len, zu Gleichgültigkeit, Unterdrückungs- und Gewaltverhältnissen führen (vgl. ebd., S.37f., vgl. dazu auch THIERSCH 2009, S.121ff.). DAHM/KUNSTREICH hingegen belegen mit ihrer Studie, dass Distanz, ver- standen als wissenschaftliches Fachwissen, bei Akteur*innen in der sozial- pädagogischen Arbeit weniger problematisch angesehen wird, als die Ge- staltung von Nähe (vgl. DAHM/KUNSTREICH 2011, S.637). Ein Erklärungs- ansatz könnte dabei sein, dass Nähe mit mehr Emotionen und Gefühlen ein- hergeht und damit ein gewisses Wagnis eingegangen wird, was gefährlich scheint. Direkt damit verbunden ist das Zulassen eigener Schwächen oder Unzulänglichkeiten (ebd., S.638, vgl. THIERSCH 2009, S.109). Hingegen erbrachte die JULE Studie, dass „ [...] junge[n] Menschen zu einem großen Teil mit Beziehungserfahrungen zu den Mitarbeiter/-innen [...], die ihnen Reibungsflächen und Anerkennung bieten “ (JULE Studie 1998, S. 572) die- se Erfahrungen als gelungen sehen.

Nichtsdestotrotz liegt die Relevanz der Balance zwischen Nähe und Distanz darin, dass einerseits Erfahrungen der Bindung unter Begegnung durch Ver- trauen und Akzeptanz gesammelt und andererseits die Möglichkeit der Selbsttätigkeit und Selbstbildung seitens des Adressat*innen eröffnet wer- den können.

Eine ähnliche Stellung beziehen DÖRR/MÜLLER, denn es geht dabei nicht ausschließlich um Nähe und Distanz, sondern um ein jeweils als angemes- sen empfundenes Maß, denn „ [s]ie [die Nähe und Distanz, C.S.] sind hier als subjektive und intersubjektive Raum- und Zeiterfahrung nicht als objek- tiv berechenbare Kategorie zu verstehen, sie sind interpretierbar, veränder- bar “ (DÖRR/MÜLLER 2012, S.7). KLATETZKI fügt hinzu, dass ein derart ge- lebtes Verständnis von Nähe und Distanz eine bestimmte Form der Bezie- hung zwischen den Adressat*innen und den Akteur*innen als eine horizontale Raumvorstellung gesehen werden kann und somit Vorstellungen einer ungleichen und hierarchischen Beziehung entgegenwirkt (vgl. KLATETZKI 2012, S.83).

Neben dem Diskurs über das Begriffspaar ‚Nähe- und Distanz’, oben schon von TETZER versehen mit den Adjektiven ‚emotional - rational’, sind weitere Begriffsbestimmung notwendig.

Emotionen und Gefühle werden meist als Schwäche oder Unprofessionalität verstanden und geraten daher zunehmend in den Hintergrund. Dabei kann Handeln ohne Emotionen nicht erfolgen, denn Gefühle und Emotionen be- stimmen das Handeln im hohen Maße und damit gehören Liebe, Vertrauen Neugier zum Repertoire sozialpädagogischen Handelns (vgl. MEYER 2009, S.57). Dabei kann vergessen werden, dass Gefühle nicht als feststehende und natürliche Erregungszustände betrachtet werden können, sondern viel- mehr auf Überzeugung beruhende soziale Konstruktionen sind. Thiersch macht vor diesem Hintergrund zudem deutlich, dass Gefühle im gesell- schaftlichen Kontext neu zu reflektieren sind und sie ernst genommen wer- den müssen, jedoch nicht in einer Alibi-Funktion, oder einer ideologischen (vgl. ebd.). Die Akteur*innen tragen eine doppelte Verantwortung im Um- gang mit ihren Emotionen. Sie werden dazu angehalten, mit ihren eigenen Emotionen kompetent umzugehen, um eigene gesundheitliche Schäden durch Stress und Ärger abzuwenden. Gleichzeitig gelten sie als Vorbild für die Adressat*innen, indem ein gekonnter Umgang mit Emotionen vorgelebt wird (vgl. SIELAND/TARNOWSKI 2009, S.122). Demzufolge kann eine ge- lungene Emotionskompetenz als Voraussetzung für die Beziehung zwischen Akteur*innen und ihren Adressat*innen gesehen werden. Als emotionale Kompetenz, so referieren SIELAND und TARNOWSKI bezugnehmend auf SCHMITZ u. SALISCH werden unter anderem folgende Aspekte bezeichnet: „ Sie [die Pädagog*in, C.S.] kann ihre eigenen Gefühlslagen [...] sowie mit- telfristige Stimmungen differenziert verstehen und verwechselt z.B. nicht Ä ngste oder Stress mit Hunger. [...] Sie wird nur selten von Gefühlenüber- wältigt. [...] Sie kann Emotionen bei anderen erkennen, verstehen und do- siert mitfühlen sowie diese von den eigenen simultan vorhandenen Gefühlen abgrenzen [...]. Sie kann sich kommunikativ mit den Gefühlen anderer res- pektvoll auseinander setzen [...] “ (SIELAND/TARNOWSKI 2009, S.122f). Ne- ben dem balancierten Einsatz und Ausdruck von Emotionen und deren Re- flektion, ist also auch die Empathiefähigkeit, also das Einlassen auf die Ge- fühle der Adressat*innen ein Aspekt von kompetentem sozialpädagogischen Handeln.

Ein oftmals missverstandener Terminus der (Sozial-)Pädagogik ist der Be- griff der ‚pädagogischen Liebe’. Wie bereits bei NOHL beschrieben, handelt es sich nicht um die erotische Liebe, sondern um die hebende (vgl. NOHL 1933, S.23). GARBERS deutet die pädagogische Liebe als „ eine Beschrei- bung einer tätigen Zuwendung zu konkreten Gegenständen oder Menschen (Caritas). Demnach kann sie [die Liebe, C.S.] unterteilt werden in eine sinnliche Empfindung [erotische Liebe, C.S.] und in eine ethische Grund- haltung “ (GARBERS 2009, S.162). Bevorzugt, aufgrund der Missverständ- lichkeit, werden im ‚professionellen Kontext’ eher Begriffe, wie die „ ein- fühlende Fürsorge “ (HELSPER 1995, S.26), oder dem Initiieren von Vertrau- en, Orientierung und Verantwortung. Nach UHLE/GAUS ist die pädagogische Liebe nicht als ein blindes Gefühl zu verstehen, sondern sollte gleichzeitig rationalisiert sein (vgl. UHLE/GAUS, zit. n. TETZER 2009, S.108). Es stellt sich dabei jedoch die Frage, inwiefern ein Gefühl oder eine durch Liebe geprägte Haltung diese Rationalität erlangen kann. „ Die Liebe ereignet sich in Begegnungen, weniger geplant, eher spontan, sie ‚ widerfährt ’ einfach dem Menschen. Liebe scheint jeglicher Symmetrie, jeglicher Reziprozität im Geben und Nehmen zu entbehren. Liebe ist eine Sache der Empfindung und nicht des Wollens “ (COLLA 2006, S.4). Nach einem sokratischen Verständ- nis von pädagogischer Liebe kann sie als Liebe zu den Entwicklungsmög- lichkeiten im Menschen, zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschafts- fähigen Persönlichkeit heranzuwachsen, bezeichnet werden, die die jünge- ren Adressat*innen noch nicht erreicht haben (vgl. GARBERS 2009, S.167). „ Die Liebe zu einer Person schließt im Wesentlichen vier notwendige Mo- mente, sie besteht „ aus einer interessenfreien Sorge um das Wohl oder Ge- deihen der geliebten Person “ , seine Liebe ist „ unausweichlich persönlich “ , denn die Person wird „ einzig um ihrer Selbst willen geliebt “ . Der Liebende „ identifiziert sich mit dem geliebten Wesen “ . Schließlich stellt Frankfurt fest, dass die Liebe den Willen bindet “ (vgl. FRANKFURT zit. n. COLLA/KRÜGER 2013, S.33). Würde die pädagogische Liebe so interpretiert werden, stellt sie sehr wohl einen Aspekt innerhalb sozialpädagogischen Handelns dar und bestimmt nachhaltig die Handlungen von Akteur*innen der Sozialpädagogik. HOPPE fügt hinzu, dass diese ihre eigene Definition von pädagogischer Liebe finden müssen, da das Konstrukt der „Liebe“ nicht künstlich oder theoretisch abgebildet werden kann. Dementsprechend sollte sich das Gefühl, im Rahmen ethisch vertretbaren Handelns, selbst entwi- ckeln (vgl. HOPPE 2009, S.135). Ethisch vertretbar meint in diesem Kontext, dass ein unreflektiertes Verständnis von Liebe, welches zu einem Macht- missbrauch führen kann, vermieden wird.

Eine weitere grundlegende Kategorie der personalen Dimension ist das Ver- trauen. Nach Ursula RABE-KLEBERG ist eine der zentralen Funktionen von Vertrauen die Minimierung von Ungewissheiten, unter denen Adres- sat*innen leiden. Diese Minimierung sorgt zusätzlich für erhöhte Sicherheit innerhalb ihrer Lebenswelt (vgl. RABE-KLEBERG 2012, S.125). Es wird be- rechtigter Weise angemerkt, dass Vertrauen nicht als Verhaltenswunsch und Gewissheit seitens der Erzieher*innen gegenüber den Kindern formuliert wird, also nicht als eine weichere Variante von Kontrolle gesehen wird (vgl. ebd., S.124). Die Daseinsberechtigung von Vertrauen wird von COLLA mit einem Luhmans’schen Zitat unterstrichen: „ Wo es Vertrauen gibt, gibt es mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns [...] “ (LUHMANN zit. n. COLLA 2011, S.898). Merkmale des Vertrauens sind unter anderem „ Auf- richtigkeit, Eindeutigkeit und Unnützigkeit des Erziehers [...] “ (COLLA 2007, S.39f) gegenüber den Adressat*innen. HOPPE erörtert in der Fest- schrift COLLAS als Kommunikationswissenschaftler eine weitere Sphäre des Vertrauens: „ Vertrauen in der Interaktion setzt nicht auf ein bestimmtes Resultat, sondern setzt auf Sinn für beide Seiten. Vertrauen in Interaktionen bedeutet nicht, ich vertraue darauf, dass mein Gegenüber mich genauso versteht, wie ich denke und spreche bzw. dass mein Gegenüber denkt und handelt, wie ich es ihm sage. Es bedeutet vielmehr, dass ich davon ausgehe, dass mein Sprechen und Handeln für ihn sinnvoll ist und dass er mir das- selbe umgekehrt zutraut “ (HOPPE 2009, S.138f). Geradezu sozialpädago- gisch argumentiert HOPPE für das Erzählen von Geschichten innerhalb einer Interaktion, welches für einen vertrauten Rahmen sorgen kann (vgl. ebd. S.139).

Es kann also insgesamt davon ausgegangen werden, dass das gegenseitige Vertrauen innerhalb sozialpädagogischer Institutionen sinnerfüllend ist und das Individuum damit handlungs- und erlebensbereiter seinen Alltag bewältigen kann. Das wiederum kann zu der weiter oben schon referierten Minimierung von Ungewissheiten führen.

2.2.2 Aktueller Diskurs um die Missverständnisse des Liebesbegriffes

Während die Klassiker*innen zu einem tieferen Verständnis der Herkunft sozialpädagogischer Theoriebildung führen, Bildungsideale proklamieren, das Bild der Adressat*innen festigen, beschäftigen sich die gegenwärtigen Diskurse zusätzlich mit der Aufarbeitung und Richtigstellung dieser. Dabei ist der pädagogische Eros wohl einer der Begriffe, der am missverständ- lichsten in der gegenwärtigen Praxis vollzogen wurde. Der pädagogische Bezug ist zwar mit einem sinnlichen Moment versehen, welcher jedoch nicht mit einem erotischen Verhältnis zwischen Schüler*innen und Leh- rer*innen zu verwechseln ist. Dieser Hinweis ist insofern relevant, da in (sozial-)pädagogischen Institutionen vermehrt Missbrauchsfälle einiger pä- dagogischer Fachkräfte, die mit dem Argument der Notwendigkeit von kör- perlicher Nähe zwischen Erzieher*innen/Lehrer*innen und Schüler*innen solche widerwärtigen Situationen herbeigeführt haben. Aus diesen und aus anderen Fällen ist die erneute Auseinandersetzung und Klärung von NOHLS Theorien notwendig geworden. Das Missverständnis von hebender und be- gehrender Liebe wurde von THIERSCH (2012a) mit einem pädagogischen Inzestverbot versehen und sollte damit zumindest der Kritik einer missver- ständlichen Verwendung des Liebesbegriffes entgegengewirkt haben.

Nichtsdestotrotz muss dieses Missverständnis im Rahmen des Unterrichts an berufsbildenden Schulen aufgearbeitet werden, sodass sich diese Form von Machtausübung so gering wie möglich fortsetzt. Gerade im Sinne des Doppelten-Theorie-Praxis Bezugs, der in Kapitel III und IV weiter erläutert wird, ist dieser Fall als Exemplarik eine relevante Kasuistik für die Überle- gungen von Nähe und Distanz in Hinblick auf Machtmissbrauch durch Pä- dagog*innen.

[...]


1 Mit Dank an Prof. Dr. Hans Gängler, der mir dieses Zitat übersandt hat.

2 Bei Giesecke ist anzumerken, dass eine tiefgehendere Recherche schwerfällt, da er nur selten auf Quellen verweist.

3 In den historischen Betrachtungen werden die Geschlechterbezeichnungen, sowie die der Akteur*innen und Adressat*innen von den jeweiligen Quelltexten übernomP men. Im späteren Verlauf der BachelorPThesis wird dann mit GenderPGap gearbeitet.

4 Pestalozzi bekam den Auftrag 80 (meist verwahrloste) Waisenkinder in dem österP reichischen Kriegsgebiet um Stans im April 1799 (vgl. Giesecke 1997, S.37) in einem Waisenhaus unterzubringen.

5 Dem Verfasser stellt sich dabei die Frage, von welcher Familie, welchem Stand zugeP hörig und welcher Zeit H. Giesecke hier spricht.

6 Die Geschichte der personalen Dimension der Sozialpädagogik

7 Es wird absichtlich nicht auf die Gegenargumente eingegangen, die vom Verfasser zur Kenntnis genommen wurden, da es sich nicht direkt mit dem Thema der personaP len Dimension deckt, hier jedoch als Argument genutzt wurde.

Excerpt out of 61 pages

Details

Title
Die Personale Dimension sozialdidaktischen Könnens. Vom Erziehenden zum Lehrenden
College
Leuphana Universität Lüneburg  (Institut für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik)
Grade
1,0
Author
Year
2014
Pages
61
Catalog Number
V367967
ISBN (eBook)
9783668463813
ISBN (Book)
9783668463820
File size
1005 KB
Language
German
Keywords
Nähe und Distanz, Beziehungsgestaltung, Sozialdidaktik, Berufliche Bildung, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Lehrer-Schüler Beziehung, Bildung, Beziehung, Personale Dimension, Theorie-Praxis-Bezug, Kasuistik, Klafki, Blankertz, kritisch kommunikative Didaktik, integrale Persönlichkeitsbildung, Liebe, Vertrauen, Klassiker der Sozialpädagogik
Quote paper
Christoph Schönfeldt (Author), 2014, Die Personale Dimension sozialdidaktischen Könnens. Vom Erziehenden zum Lehrenden, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367967

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