Die Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann in der Praxis

Analyse zur Aktualität am Fallbeispiel der US-Präsidentschaftswahl 2016


Thèse de Bachelor, 2017

51 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Die Theorie der Schweigespirale nach Elisabeth Noelle-Neumann
1. Entwicklungsgeschichte der Theorie
2. Öffentliche Meinung nach Elisabeth Noelle-Neumann
3. Die Grundannahmen der Theorie
3.1 Isolationsfurcht
3.2 Meinungsklima
3.3 Die fünf Hypothesen
4. Drei Aspekte der Theorie
4.1 Der Sozialpsychologische Aspekt
4.2 Der Kommunikationswissenschaftliche Aspekt
4.3 Der Soziologische Aspekt
5. Die Rolle der Massenmedien und Journalisten
6. Kritik an der Theorie der Schweigespirale
7. Weiterentwicklung der Schweigespirale
7.1 Online-Schweigespirale
7.1.1 Umweltbeobachtung des Individuums im Internet
7.1.2 Auswirkungen auf die Theorie der Schweigespirale
7.1.2.1 Konsonanz der Medienberichterstattung
7.1.2.2 Selektionsmöglichkeiten des Individuums im Internet
7.1.2.3 Die Online Rede- und Schweigebereitschaft
7.2 Aufmerksamkeitsspirale
8. Diskussion zur Aktualität der Theorie der Schweigespirale
8.1 Voraussetzungen der Schweigespirale
8.1.1 Moralische Ladung
8.1.2 Disput und Aktualität
8.1.3 Besondere Rolle der Massenmedien
8.1.3.1 Thematisierungsfunktion
8.1.3.2 Verleihung von Öffentlichkeit
8.1.3.3 Artikulationsfunktion
8.1.3.4 Medien als Quelle der Umweltwahrnehmung
8.2 Mögliches Auftreten einer Schweigespirale
8.2.1 Schweigespirale zugunsten Hilary Clintons
8.2.2 Schweigespirale zugunsten Donald Trumps

C. Fazit

D. Literaturverzeichnis

E. Anhang

A. Einleitung

Individuen fürchten sich vor gesellschaftlicher Isolation, wenn sie glauben mit ihrem Standpunkt der Mindermeinung anzugehören und verfallen deshalb in Schweigen - dies ist die zentrale Aussage der Theorie der Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann aus dem Jahre 1972. Die vorliegende Literaturarbeit beschäftigt sich mit der Theorie der Schweigespirale, die zum Konzept der öffentlichen Meinung von Elisabeth NoelleNeumann gehört. Ihr Konzept versucht den Prozess zu beschreiben, wie öffentliche Meinung entsteht und baut auf der Ansicht auf, dass Menschen aufgrund ihrer Angst vor gesellschaftlicher Isolation ständig das Meinungsklima in der Gesellschaft einschätzen und sich daran anknüpfend entscheiden, ob sie reden oder schweigen (Noelle-Neumann 2001: 299). Die Theorie wurde 1965 zum ersten Mal von Noelle-Neumann entdeckt und 1972 bei der darauffolgenden Wahl des Bundeskanzlers in Deutschland empirisch nachgewiesen. Es stellt sich die Frage, ob die Theorie immer noch auf aktuelle Wahlen angewendet werden kann und den Anspruch erhebt einen Beitrag zur Erklärung der Wirklichkeit zu leisten. Donald Trump wurde 2016 zum 45. Präsident der Vereinigten Staaten gewählt. Er selbst hat im Wahlkampf öfters wiederholt, dass ihn die schweigende Mehrheit am Ende zum Präsidenten wählen wird. Es drängt sich die Frage auf, ob bei der Präsidentschaftswahl der Prozess der Schweigespirale zu beobachten war. Dies herauszufinden, soll Ziel dieser Arbeit sein.

Als Grundlage für diese Arbeit dient das Werk „Die Schweigespirale, Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut“ von Elisabeth Noelle-Neumann aus dem Jahr 2001. Ergänzend dazu dient die Dissertation von Thomas Roessing „Öffentliche Meinung - die Erforschung der Schweigespirale“ aus dem Jahr 2009 und „Massenmedien, Meinungsklima und Einstellung - Eine Untersuchung zur Theorie der Schweigespirale“ von Helmut Scherer aus dem Jahr 1990. Für die Kritik und Weiterentwicklung des Konzepts wird das Werk „Schweigespirale Online - Die Theorie der öffentlichen Meinung und das Internet“ von Anne Schulz und Patrick Rössler aus dem Jahr 2013 herangezogen. Seit 1972 sind außerdem unzählige Aufsätze und Werke zur Schweigespirale veröffentlicht worden. Auch Noelle-Neumann selbst hat sich immer wieder zu Kritik durch neue Aufsätze geäußert. Jedoch stellen die genannten Veröffentlichungen nur einen kurzen Überblick über die wichtigsten Werke dar, die sich mit der Theorie der Schweigespirale beschäftigen und auf die sich diese Arbeit hauptsächlich bezieht. Zwar hat sich die Wissenschaft über viele Jahre mit der Theorie der Schweigespirale beschäftigt, sodass sie sich zu einer der bekanntesten Theorien entwickelte, dennoch gibt es aufgrund der Komplexität des Themas immer wieder neue Anknüpfungspunkte, über die erneut nachgedacht werden muss. Für die Diskussion am Ende dient das Werk „Trumpland - Donald Trump und die USA, Porträt einer gespaltenen Nation“ von Walter Niederberger als Grundlage.

Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem theoretischen Rahmen der Theorie der Schweigespirale. Zum einen wird dargestellt, wie das Wahlforschungsteam um die Wahlforscherin Noelle-Neumann die Schweigespirale entdeckte. Zum anderen soll erklärt werden, was Noelle-Neumann unter öffentlicher Meinung versteht, damit anschließend auf die Theorie der Schweigespirale und ihre Grundannahmen eingegangen werden kann. Besondere Beachtung erfährt die Isolationsfurcht des Individuums, das Meinungsklima und die fünf Hypothesen der Theorie. Daraufhin wird auf die drei Aspekte der Theorie eingegangen. Die Theorie hat einen sozialpsychologischen, soziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Bezug. Diese Arbeit beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem soziologischen Aspekt. Zudem muss die besondere Rolle der Massenmedien dargestellt werden, denn ohne die Medien kann sich eine Schweigespirale nicht in Gang setzen. Um die Theorie abzurunden, werden kurz die wichtigsten Kritikpunkte sowie Weiterentwicklungen angesprochen. Die Online- Schweigespirale von Schulz und Rössler sowie die Aufmerksamkeitsspirale von Meyen sind für die abschließende Diskussion von bedeutender Relevanz.

B. Die Theorie der Schweigespirale nach Elisabeth Noelle-Neumann

1. Entwicklungsgeschichte der Theorie

Die Entstehung der Theorie der Schweigespirale geht auf Elisabeth Noelle-Neumann zurück. Die Kommunikationsforscherin und Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach beschäftigte sich unter anderem mit Wahlforschung. So forschte Noelle­Neumann speziell zur Bundestagswahl 1965 und 1972 in Deutschland. Diese Wahlen waren der Anlass für die Entwicklung der Schweigespirale. Nach der Bundestagswahl im Jahr 1965 standen die Meinungsforscherin und ihr Team vom Allensbacher Wahlforschungsinstitut vor einem Rätsel: „Wie sich bei gleichbleibenden Wahlabsichten die Erwartungen, wer die Wahl gewinnt, so völlig anders entwickeln konnten, blieb uns rätselhaft“ (Noelle-Neumann 2001: 16). Rätselhaft waren zum einen die Entwicklung der Wahlabsicht der Bevölkerung, sowie die Erwartung in den Monaten und Wochen vor der Wahl, wer die Wahl gewinnen würde (Roessing 2011: 19).[1] Bei der Bundestagswahl 1965 standen sich der amtierende Bundeskanzler Ludwig Erhard als Kandidat der CSU und Willy Brandt als Kandidat der SPD gegenüber. Entgegen aller Prognosen gewann die CDU/CSU deutlich vor der SPD. 47,6 Prozent stimmten für die CDU/CSU und nur 39,3 Prozent für die SPD (Nocker 2007: 151). Man spricht in diesem Kontext auch von einem Last-Minute-Swing oder Mitläufereffekt. Die Wahlprognosen jedoch sagten ein Kopf-an- Kopf-Rennen zwischen den beiden Parteien voraus. Das amtliche Wahlergebnis verwunderte Noelle-Neumann. Wie konnte es geschehen, dass sich die Vermutung, wer die Wahl gewinnt, bei gleichbleibenden Wahlabsichten so eindeutig in eine Richtung entwickeln konnte (Noelle-Neumann 2001: 14 f.). Ein erster Erklärungsversuch für den Last-Minute-Swing stellt der Bandwagon-Effekt dar, der in seinen Grundzügen besagt, dass unentschlossene Wähler am Ende die Partei oder den Kandidaten wählen, für den der Sieg erwartet wird. Da es sich besser anfühlt, auf der Seite des Gewinners zu stehen (Lazarsfeld et al. 1969: 145). Noelle-Neumann sieht eine andere Erklärung dafür. Sie stellt die Frage, ob das vorherrschende Meinungsklima die Wahl begünstigt und ob die Erwartung der Bevölkerung, wer die Wahl gewinnt, einen Einfluss auf die Wahlentscheidung der Mitläufer beziehungsweise unentschlossenen Wähler in letzter Minute hat. Es konnte beobachtet werden, dass sich in der Öffentlichkeit die meisten Wähler zur Regierungspartei CDU/CSU anstatt zur SPD bekannten. Um diese Beobachtung zu erklären, formulierte Elisabeth Noelle-Neumann die Hypothese der Schweigespirale. Die Idee für die Formulierung dieser Hypothese entstand während der Studentenunruhen zwischen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre auf Anregung einer Studentin. Diese trug eines Tages an der Universität ein Abzeichen der CDU/CSU an ihrer Jacke, obwohl sie gar nicht mit dieser Partei sympathisierte. Sie wollte wissen, wie es sich anfühle und andere Menschen darauf reagieren, da zu dieser Zeit die SPD in der Öffentlichkeit dominierte. Später als Noelle-Neumann die Studentin wieder traf, trug sie das Abzeichen nicht mehr. Darauf angesprochen, antwortete die Studentin, dass es zu furchtbar gewesen sei und sie das Abzeichen deswegen wieder abnahm. So entstand die Hypothese der Schweigespirale, die besagt, dass Menschen sich öffentlich weniger zu einer Partei, einem Lager oder einer Meinung bekennen, wenn sie merken, dass diese der Minderheit angehören. Sie befürchten, dass sie mit ihrer Meinung alleine dastehen, wenn sie sich öffentlich zu der Partei, Lager oder Meinung bekennen. Im Gegenzug dazu, sind Anhänger der Mehrheitspartei, Mehrheitslager oder der Mehrheitsmeinung, eher zugeneigt, sich öffentlich zu diesem zu bekennen, indem sie in der Öffentlichkeit Abzeichen tragen und sich in Diskussionsrunden positiv zu dieser äußern. So entsteht für die Öffentlichkeit der Eindruck, dass die eine Partei stärker sei als die andere, obwohl beide Parteien gleich stark sind. Begünstigt wird dies dadurch, dass die Medien positiv über diese Partei berichten und sich dadurch mehr Menschen trauen, zu diesem Thema Stellung zu nehmen, während andere wiederum schweigen. Nun dreht sich die Schweigespirale weiter bis zu dem Punkt, an dem die öffentliche Meinung nur von dieser einen Partei beherrscht wird und die andere komplett aus dem öffentlichen Bild verschwunden ist, da sich keiner mehr traut, sich zu der Verliererpartei zu bekennen (Noelle-Neumann 2001: 18 f.). Für das eine Lager entsteht eine sogenannte Redespirale, während sich auf der anderen Seite eine Schweigespirale bildet. Diese aufgestellte Hypothese sollte dann bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 überprüft werden. Jedoch gab es vor der Wahl keinen eindeutigen Wahlsieger. Die beiden Parteien lagen bei der Frage nach der Wahlabsicht Kopf an Kopf. Jedoch konnte mit Blick auf die Siegeserwartung ein Vorsprung zugunsten der SPD beobachtet werden, der von Woche zu Woche vor der Wahl stark anstieg (Noelle-Neumann 2001: 16). Dieser Vorsprung bestätigte sich auch mit dem offiziellen Wahlergebnis. Die SPD gewann die Wahl 1972 mit 45,8 Prozent knapp vor der CDU/CSU mit 44,9 Prozent (Nocker 2007: 188). Es konnte auch bei dieser Wahl wieder ein sogenannter Last-Minute-Swing zugunsten der SPD beobachtet werden, da am Wahltag wieder mehr Leute für die SPD stimmten als erwartet.[2] Begünstigt durch die Siegeserwartung für die SPD in der Öffentlichkeit (Noelle-Neumann 2001: 16). Diese Beobachtungen führten dazu, dass Noelle Neumann - inspiriert von der zuvor genannten Studentin - eine Theorie entwickelte, um genau diese Phänomene der Bundestagswahl 1965 und 1972 erklären zu können. Für Noelle­Neumann liegt der Grund für den Last-Minute-Swing nicht darin, dass die unentschlossenen Wähler am Ende gerne auf der Siegerseite stehen wollen, wie es Lazarsfeld im Bandwagon Effekt beschreibt, sondern, dass es an der Isolationsfurcht des Menschen liegt. Dies beschreibt sie in ihrem Buch wie folgt: „Wer von der neuen Ostpolitik überzeugt war, spürte, wie das, was er dachte, von allen gebilligt wurde. Und also äußerte er sich laut und voll Selbstvertrauen und zeigte seine Ansichten; diejenigen, die die neue Ostpolitik ablehnten, fühlten sich alleingelassen und zogen sich zurück, verfielen in Schweigen. Und eben dieses Verhalten trug dazu bei, dass die ersteren stärker erschienen, als sie wirklich waren, und die letzteren schwächer. Diese Beobachtungen in ihrem Umkreis veranlassten wieder andere, sich laut zu bekennen oder ihre Ansichten herunterzuschlucken und zu schweigen, bis wie in einem Spiralprozess die einen öffentlich ganz dominierten und die anderen aus dem öffentlichen Bild völlig verschwunden und mundtot waren“ (Noelle-Neumann 2001: 18). Die Isolationsfurcht ist für Noelle-Neumann der Grund dafür, dass sich eine Schweigespirale in Gang setzt. Für die Forscherin stand nach den Wahlen 1965 und 1972 fest, dass das Meinungsklima und die Isolationsfurcht des Menschen eine Rolle spielen, um den Last-Minute-Swing erklären zu können (Noelle-Neumann 2001: 18 ff.).

Jede Hypothese muss auch wissenschaftlich geprüft werden, damit eine Gültigkeit für die Wirklichkeit gegeben ist. Zum einen muss die Schweigespirale auch anderen Autoren der letzten hundert Jahre zumindest in den Grundzügen aufgefallen sein. Damit beschäftigt sich die Wissenschaftlerin an der Universität Mainz mithilfe ihrer Studenten an Literaturstudien aus der Philosophie und Geschichte. Sie sind bei Jean-Jacques Rousseau, David Hume, John Locke, Luther und bei Machiavelli fündig geworden, um nur ein paar Autoren zu nennen, die sich mit der Isolationsfurcht des Menschen beschäftigt haben. Dies verdeutlicht Elisabeth Noelle-Neumann an einem Beispiel von Alexis de Tocqueville. Dieser beschrieb den Untergang der französischen Kirche. Die Ursache für den Untergang sah er darin, dass sich die Leute, die sich zum alten Glauben der Kirche bekannten, Angst hatten allein zu sein und deshalb schwiegen beziehungsweise sich fälschlicherweise zur Absonderung der Kirche bekannten (Alexis de Tocquille 1857: 182). Dies diente für Elisabeth Noelle-Neumann als Beweis dafür, dass es sich hierbei um eine „präzise Beschreibung der Dynamik der Schweigespirale“ (Noelle-Neumann 2001: 21) handelt. Durch weitere Literaturstudien konnte festgehalten werden, dass es in der Natur des Menschen liegt, Angst davor zu haben, sich gesellschaftlich zu isolieren.

Die Hypothese der Schweigespirale musste empirisch überprüft werden. Dies erfolgte 1971 am Allensbacher Institut durch Frageserien, auf die im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Herausgefunden wurde, dass „die Bevölkerung [...] Mehrheitsmeinungen und Minderheitsmeinungen, Häufigkeitsverteilung der Ansichten für und wider und zwar ganz unabhängig davon, ob und welche demoskopischen Zahlen veröffentlich wurden“ wahrnehmen. Daraus ergibt sich, dass die Bevölkerung in der Lage ist, Meinungsklima wahrzunehmen (Noelle-Neumann 2001: 27). Außerdem wurde durch den Eisenbahntest, die Redebereitschaft und Schweigetendenz überprüft. Beim Eisenbahntest werden zwei unterschiedliche Aussagen gegenübergestellt. Dann wird simuliert, dass man in der Öffentlichkeit - in diesem Fall in einem Zugabteil - eine Person trifft, die die Gegenmeinung vertritt. Es wurde nun gefragt, ob die Person sich nun gerne mit der Person unterhalten würde, um dieser ihren Standpunkt zu erklären (Noelle-Neumann 2001: 36). Während des Wahlkampfes 1972 wurde dieser Test eingesetzt. Es wurde gefragt, ob sich die befragte Person gern mit jemanden unterhalten würde, der für oder gegen Bundeskanzler Brandt ist. Die Umfragewerte kamen zu dem Ergebnis, dass die Anhänger Brandts sich zu 50% gern unterhalten würden, während die Gegner sich nur zu 35 % gern unterhalten würden. Zudem legten 42 % der Anhänger keinen Wert darauf und die Gegner zu 56 %. Man kam zu dem Ergebnis, dass die Anhänger Brandts zahlenmäßig mehr waren und somit auch die größere Redebereitschaft zeigten. Die Gegner Brandts dagegen schwiegen eher. Die siegessichere Fraktion zeigte mehr Redebereitschaft und die Verlierer tendierten zum Schweigen (Noelle-Neumann 2001: 41). Natürlich verdeutlichen diese Beispiele nur einen kleinen Ausschnitt der demoskopischen Forschung des Allensbacher Instituts. Es lässt sich jedoch in den Grundzügen darstellen, dass sich die Hypothese der Schweigespirale 1972 empirisch beweisen lässt.

Nun ist die Hypothese der Schweigespirale keine eigenständige Theorie, sondern sie gehört viel mehr zu der Theorie der öffentlichen Meinung. Wie oben schon angedeutet, spielt die öffentliche Meinung eine entscheidende Rolle beim Schweigespiralprozess. Deshalb soll im nachfolgenden Kapitel dargestellt werden, was Elisabeth Noelle­Neumann überhaupt unter öffentlicher Meinung versteht, um genau erklären zu können, wie sich diese auf den Prozess der Schweigespirale auswirkt.

2. Öffentliche Meinung nach Elisabeth Noelle-Neumann

Zuerst stellt sich die Frage, was genau unter dem Begriff der öffentlichen Meinung zu verstehen ist. Hier soll bereits erwähnt werden, dass es „keine allgemeine akzeptierte Definition für die öffentliche Meinung gibt“ (Davison 1968: 188). Jedoch finden sich natürlich in der Wissenschaft unzählige Definitionen der öffentlichen Meinung. In diesem Zusammenhang ist die Arbeit „Public Opinions“ von Harwood Childs zu nennen, der 1968 über 50 Definitionen öffentlicher Meinung in der Wissenschaft gefunden und diese in einem Buch veröffentlicht hat (Noelle-Neumann 2001: 84). Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff der öffentlichen Meinung, wird der Begriff zuerst in seine zwei Bestandteile öffentlich und Meinung zerlegt. Es muss geklärt werden, was unter öffentlich und Meinung zu verstehen ist. Noelle-Neumann nennt in diesem Zusammenhang drei Bedeutungen von öffentlich. Sie legt einmal die juristische Bedeutung von öffentlich dar und bezieht sich hierbei auf Habermas. Demnach ist öffentlich, was für jedermann zugänglich ist. Beispiele hierfür sind der öffentliche Gehweg, die öffentliche Gerichtsverhandlung, das öffentliche Recht oder die öffentliche Gewalt. In den letzten zwei Begriffen erkennt man den Bezug zum Staat. Es kann festgehalten werden, dass etwas öffentliches immer den Staat betreffen kann. Somit darf auch der politologische Bezug nicht vergessen werden. Es handelt sich um Probleme, die jeden in der Gesellschaft betreffen. Eine dritte Bedeutung von öffentlich findet man in der Sozialpsychologie. Denn jedes Individuum richtet sich nach außen hin nicht an einzelne Personen, sondern befindet sich in seiner Existenz in einer Gemeinschaft beziehungsweise Gesellschaft. Bewegt sich das Individuum in dieser Gesellschaft und tritt in Kontakt mit anderen Menschen, so weiß jedes Individuum, dass es sich gerade in der Öffentlichkeit bewegt beziehungsweise sich der öffentlichen Beobachtung aussetzt. Dies wiederum hat Auswirkungen auf das Verhalten der Person. Denn aufgrund der Furcht vor Isolation, Missachtung, Unbeliebtheit und Missbilligung - beziehungsweise aufgrund des Bedürfnisses nach Bestätigung durch seine Umwelt - nimmt der einzelne seine Umwelt also die Öffentlichkeit wahr, sodass die Öffentlichkeit zu einem durchgehenden Bewusstseinszustand wird. Diesem Bewusstseinszustand Öffentlichkeit ist das Individuum immer dann ausgesetzt, wenn es mit mehreren Menschen gleichzeitig in Kontakt tritt. Die Öffentlichkeit ist in der Sozialpsychologie sogleich auch eine Urteilsinstanz für das eigene Handeln und Denken eines jeden Individuums.

Der Begriff Meinung wird etwas präziser definiert. Im deutschen Grundgesetz Art.5 ist das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit, Rundfunk und Filmfreiheit geregelt. In Art.5 Abs.1 S.1 GG hat „jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern [...]“. Aus diesem Recht wird ersichtlich, dass jedes Individuum in der Lage ist, eine eigene Meinung zu bilden. In der Erkenntnistheorie wird Meinung als Wissen, Glauben oder Überzeugung verstanden, welche entweder subjektiv oder objektiv für das Individuum der Wahrheit entspricht. Kant fasst das meinen als „sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Führwahrhalten“ (Noelle-Neumann 2001: 87) zusammen. Im angelsächsischen und französischen Reich wird bei der Auslegung von Meinung die Komponente des Übereinstimmens innerhalb einer Bevölkerungsgruppe berücksichtigt. Somit wird als Meinung nur anerkannt, was in der Gemeinschaft auch akzeptiert wird, also wenn alle Gesellschaftsmitglieder dieselbe Meinung vertreten. In Bezug auf die Hypothese der Schweigespirale spielt es keine Rolle, ob die Meinung der Person in Übereinstimmung mit dem Rest der Bevölkerung steht (Noelle-Neumann 1996: 86-90).

Elisabeth Noelle-Neumann folgt dem sozialpsychologischen Konzept der öffentlichen Meinung und definiert diese wie folgt: „Unter öffentlicher Meinung versteht man wertgeladene, insbesondere moralisch aufgeladene Meinungen und Verhaltensweisen, die man - wo es sich um festgewordene Übereinstimmung handelt, zum Beispiel Sitte, Dogma - öffentlich zeigen muß, wenn man sich nicht isolieren will; oder bei im Wandel begriffenen flüssigen (Tönnies) Zustand zeigen kann, ohne sich zu isolieren. [...] Meinung wird dabei auch als Einstellung und Verhaltensweisen in wertbesetzten Bereichen verstanden“ (Noelle-Neumann 1996: 343 f.). Diese Definition bringt den Vorteil mit sich, dass diese durch empirische Instrumente überprüft werden kann, weshalb sich die Autorin für das sozialpsychologische Konzept der öffentlichen Meinung entschied. Zum einen handelt die Definition von einer Richtlinie oder einem bestimmten Regelwerk, an welches sich die Individuen einer Gruppe halten müssen, um nicht Gefahr zu laufen, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Zum anderen kann sich die Meinung jedoch auch im Wandel befinden. Hierbei unterscheidet Ferdinand Tönnies zwischen verschiedenen Aggregatszuständen der öffentlichen Meinung. Er unterscheidet in feste, flüssige und luftartige Aggregatszustände. Unter dem festen Aggregatszustand der öffentlichen Meinung sind feste Überzeugungen gemeint. Der flüssige Aggregatszustand beschreibt den Zustand, wenn Überzeugungen schwanken und ein Wandel innerhalb dieser Überzeugungen stattfindet. Dagegen liege eine luftartige öffentliche Meinung vor, wenn die Individuen zu bestimmten Themen wechselartige Meinungen haben und sich keine klare öffentliche Meinung erkennen lässt, da es zu viele verschiedenartige Ansichten zu diesem Thema gibt (Tönnies 1922: 137). Da innerhalb des flüssigen Aggregatszustandes der öffentlichen Meinung sich die gesellschaftlichen Ansichten und Vorgänge ändern, bewirkt dieser Wandel der öffentlichen Meinung, dass zuvor unakzeptable Meinungsäußerungen nun doch akzeptiert werden und dem Individuum somit keine Ausgrenzung mehr droht. Gerade in diesem flüssigen Zustand der öffentlichen Meinung, findet man das Phänomen der Schweigespirale. Weiterhin lässt sich aus dem sozialpsychologischen Kontext folgern, dass öffentliche Meinung etwas ist, was man öffentlich äußern kann, ohne dabei Angst haben zu müssen, dass sich das Individuum durch das Gesagte gesellschaftlich isoliert (Noelle-Neumann 2001: 91). Den Merkmalen der Billigung und Missbilligung, die der öffentlichen Meinung zugeschrieben werden, kommt besondere Bedeutung zu. Gerade bei Stellungnahmen oder Verhaltensweisen droht dem Individuum Billigung oder Missbilligung von Mitgliedern der Gesellschaft. Dies führt zu Akzeptanz durch Billigung oder Isolation durch Missbilligung des Individuums innerhalb der Gesellschaft. Dieses Merkmal ist für Noelle-Neumann entscheidend: „Das wichtigste Kennzeichen öffentlicher Meinung ist [folglich] die überwältigende Macht, sowohl gegenüber der Regierung, als auch[...] dem einzelnen Mitglied der Gesellschaft“ (Noelle-Neumann 1998: 83). Aufgrund dieser Macht der öffentlichen Meinung versucht Noelle-Neumann das Phänomen zu erklären, welches 1965 und 1972 bei der Bundestagswahl das erste Mal entdeckt wurde. Thomas Roessing, ein Student von Elisabeth Noelle-Neumann, unterstützt diese Vermutung in seiner Dissertation über die Forschung zur Theorie der öffentlichen Meinung bei der Interpretation der Befunde von der Bundestagswahl 1965 wie folgt: „Öffentliche Meinung hat eine Kraft, die auf Menschen wirkt und die Machtverhältnisse verändern kann“ (Roessing 2009: 22). Öffentliche Meinung hatte einen erheblichen Einfluss auf das Wahlergebnis 1965. Monate vor der Wahl, ließen sich anscheinend viele unschlüssige Wähler von der öffentlichen Meinung beeinflussen, sodass die CDU/CSU tatsächlich die Wahl gewonnen hat. Aufgrund der Annahme in der Öffentlichkeit, dass die CDU/CSU auch die Wahl gewinnen werde, ließen sich unschlüssige Wähler davon überzeugen und stimmten für die CDU/CSU. Diese vorherrschende Annahme über den Sieg der CDU/CSU bezeichnet Noelle-Neumann als Meinungsklima. Das Meinungsklima stellt neben der Isolationsfurcht des Menschen eine Grundannahme der Theorie dar, auf die im nächsten Teil näher eingegangen werden soll (Noelle-Neumann 2001: 18).

3. Die Grundannahmen der Theorie

Die Theorie der Schweigespirale versucht zu erklären, warum sich Meinungen innerhalb einer Gesellschaft in einer Zeit von Wochen, Monaten oder gar Jahren verändern. Jedoch gibt es bestimmte Voraussetzungen für das Eintreten eines Schweigespiralprozesses:

3.1 Isolationsfurcht

Das wichtigste Motiv und die erste Voraussetzung für das Vorliegen einer Schweigespirale ist die Isolationsfurcht der Individuen. Als Beispiel kann hier die bereits oben erläuterte Erfahrung Noelle-Neumanns mit der Studentin erwähnt werden, die aus Isolationsfurcht das Abzeichen der Partei ablegte (Roessing 2009: 23).

Auch Milgram und Asch haben sich in mehreren Experimenten[3] mit der Isolationsfurcht des Menschen beschäftigt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass sich Menschen auch dann Mehrheitsmeinungen anschließen, wenn diese falsch sind (Scherer 1990: 19). Isolationsfurcht ist die Angst eines Individuums sich innerhalb einer Gruppe von Menschen zu isolieren. Es liegt in der sozialen Natur des Menschen von anderen beachtet und geliebt werden zu wollen (Noelle-Neumann 2001:64). Genau diese Beziehung zwischen den Menschen untereinander nennt der amerikanische Soziologe Thomas Scheff „the social bond" (Scheff 1994: 4). Dieses soziale Band hat für jedes Individuum einen hohen emotionalen und sozialen Stellenwert, der nicht in Gefahr gebracht werden darf (Roessing 2011: 16). Jede Meinungsverschiedenheit zweier Personen kann einen Riss in dem sozialen Band verursachen. Das Individuum verliert Ansehen und macht sich unbeliebt, es isoliert sich von seinem Mitmenschen. Um dieses Band nicht zu gefährden, folgen die Menschen der öffentlichen Meinung und den Denk- und Verhaltensweisen, die dieser zugrunde liegen. Das wiederum setzt voraus, dass der Einzelne sein Umfeld ständig beobachtet und sich dementsprechend verhält (Noelle Neumann 2001: 90). Jedoch darf bei der Isolationsfurcht nicht vergessen werden, dass diese nur zustande kommt, wenn es sich um emotional aufgeladene Themen handelt. So besteht bei rationalen Themen nur selten die Gefahr der Isolationsfurcht. Vielmehr kann die Isolationsfurcht bei öffentlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen beobachtet werden, bei denen es um moralische und ästhetische Werte geht. Unter einer Diskussion mit moralischen Werten versteht man zum Beispiel die Diskussion über Toleranz in unserer Gesellschaft. Bei Diskussionen über ästhetische Werte geht es um subjektive Meinungen über Aussehen oder gutem Essen.

Solche Themen bringen eine hohe Diskussionsbereitschaft mit sich, da viele verschiedene Meinungen aufeinandertreffen können. Wenn eine Person nun merkt, dass die eigene Meinung von der Gesellschaft eine große Akzeptanz erfährt, so fühlt sich diese Person bestärkt und der Person fällt es leichter ihre Meinung kundzutun, da keine Isolation durch andere Gesellschaftsmitglieder droht. Zählt das Individuum jedoch die eigene Meinung zur Mindermeinung, so fürchtet sich das Individuum vor der Isolation und schweigt. Es schweigt aus Angst, das soziale Band zwischen den Individuen zu gefährden, gar zu zerstören, da die Gesellschaft anderer Meinung ist (Wimmer 2007: 52). Das eine Lager erscheint in der Öffentlichkeit stärker als das andere, weil die Personen ihre Meinung selbstbewusst nach außen tragen, während die anderen aus Furcht schweigen. Das wiederum führt dazu, dass diejenigen, die aufgrund der Isolationsfurcht schweigen, das Lügen anfangen und sich zu dem anderen Lager bekennen. Dieser Prozess wird von Noelle-Neumann als Schweigespirale bezeichnet und ist in seinem Ursprung auf die Isolationsfurcht zurückzuführen. Durch diesen Prozess herrscht nach einiger Zeit in der Öffentlichkeit nur noch die Meinung des bestärkten Lagers, während die Mindermeinung verschwindet, sofern man den Prozess bis zum Ende durchdenkt. Beispiele für Themen, bei denen eine Schweigespirale beobachtet werden kann, wurden von Thomas Roessing zusammengetragen: „Umweltschutz, (Kernenergie, Gentechnik), Religion und Sexualität (Abtreibung, Familienpolitik) und Gewalt (Schläge bei der Kindererziehung, Militäreinsätze im Ausland)“ (Roessing 2011: 16). Zudem spielen die Medien eine immense Rolle, da sie diese Themen hinreichend thematisiert haben müssen, damit sie überhaupt Themen der öffentlichen Meinung werden können.

[...]


[1] Im Anhang ist unter Abbildung 1 eine Grafik zu finden, die das Rätsel im Wahljahr 1965 grafisch darstellt. Das Rätsel war der Anlass für weitere Forschungen.

[2] Im Anhang unter Abbildung 2 findet sich eine grafische Darstellung der Wahlergebnisse von 1972.

[3] Das Konformitätsexperiment von Salomon Asch untersucht die Beeinflussung der Meinung eines Individuums durch die Meinung einer Gruppe. Mehr dazu in: Asch, S. E. (1956). Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority. Psychological Monographs, 70(9), 1­70. Milgram änderte das Experiment ab und wiederholte das Experiment in zwei anderen europäischen Ländern. Mehr dazu in: Stanley, Milgram (1961) Nationality and Confirmity. In: Scientific American Vol. 205, S 45-51.

Fin de l'extrait de 51 pages

Résumé des informations

Titre
Die Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann in der Praxis
Sous-titre
Analyse zur Aktualität am Fallbeispiel der US-Präsidentschaftswahl 2016
Université
University of Würzburg  (Politik und Soziologie)
Note
1,0
Auteur
Année
2017
Pages
51
N° de catalogue
V369055
ISBN (ebook)
9783668481350
ISBN (Livre)
9783668481367
Taille d'un fichier
1249 KB
Langue
allemand
Mots clés
Schweigespirale, Noelle-Neumann, Donald Trump, Präsidentschaftswahlen 2016, USA, Analyse zur US-Wahl, Theorie der Schweigespirale, Öffentliche Meinung, Prozess der öffentlichen Meinung, Elisabeth Noelle-Neumann, Isolationsfurcht, Meinungsklima, doppeltes Meinungsklima
Citation du texte
Nicolai Kurz (Auteur), 2017, Die Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann in der Praxis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/369055

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