Am 23. Juni 2016 stimmten die Bewohner des Vereinigten Königreichs in einem Referendum mit einer Mehrheit von 51,9 zu 48,1% dafür, dass ihr Land aus der EU austreten soll. Trotz des jahrzehntelangen, in weiten Teilen der britischen Gesellschaft verankerten Euroskeptizismus‘ und der Umfragen in den Tagen vor der Abstimmung, die einen EU-Austritt als realistische Option zeigten, schienen bei Cameron und seinen Anhängern die Zuversicht (und Hoffnung) zu dominieren, dass sich letztlich doch eine Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU entscheiden würde. Nach einer Reihe von Siegen in nationalen Wahlen und Referenden war das britische EU-Referendum die schwierigste aller politischen Kampagnen für Cameron, da er sich erstmals einer gespalteten Partei und einer Medienlandschaft gegenübersah, die sich überwiegend gegen sein politisches Vorhaben positioniert hatte. Wichtiger aber noch war der Umstand, dass Cameron als gemäßigter EU-Skeptiker nun in vergleichsweise kurzer Zeit gegenüber der eigenen Bevölkerung um die Vorzüge der britischen EU-Mitgliedschaft werben musste. Wie konnte und sollte ihm dieser Spagat gelingen? Welche Rolle spielte Cameron in der Remain-Kampagne? Mit welchen Argumentations- und Deutungsmustern versuchte er zu überzeugen? Und inwiefern trägt er Verantwortung für das aus seiner Sicht negative Votum?
Die politikwissenschaftliche Aufarbeitung des Brexit, seiner Gründe und Folgen steht erst am Anfang. Es dominieren Analysen, die einerseits das Wählerverhalten untersuchen, andererseits den Austrittsprozess des Vereinigten Königreichs aus der EU begleiten. Die vorliegende Arbeit aber möchte aus politik- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ihren Beitrag zum besseren Verständnis und zur Einordnung des britischen EU-Votums leisten, indem sie nach der kommunikativen Leadership David Camerons im Vorfeld des Referendums fragt. Damit greift die Arbeit gezielt einen Aspekt dieses umfangreichen Forschungsgegenstandes heraus, der bislang kaum untersucht worden ist.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Tabellen und Anhänge
1. Einleitung
2. Aufbau der Arbeit
3. Politische Leadership
3.1. Politikwissenschaftliche Leadership-Forschung
3.2. Interaktionistische und sozialkonstruktivistische Ansätze
4. Kommunikationswissenschaftliche Perspektiven
4.1. Kommunikation und politische Leadership
4.2. Politische Wahlkampagnen und Referenden
4.3. Funktionen von Wahlkämpfen
4.4. Erfüllung der Funktionen durch Framing
4.5. Zusammenführung: Kommunikative Leadership
5. Der Weg zum britischen EU-Referendum
5.1. Das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU
5.2. David Cameron und die Ausrufung des EU-Referendums
5.3. David Camerons EU-Deal
5.4. Zwischenfazit und Erwartungen an die Remain-Kampagne
6. Das ßrex/t-Referendum und die Referendumskampagnen
6.1. Vorbemerkungen
6.2. David Cameron und die Remain-Kampagne
6.3. Das Ergebnis
7. Empirischer Teil
7.1. Vorgehen bei der Frame-Analyse
7.2. Auswertung der Primärdokumente
7.3. Rede im British Museum, 9. Mai 2016
7.4. Interview bei Sky News, 2. Juni 2016
7.5. Frage und Antwort bei ITV, 7. Juni 2016
7.6. BBC Question Time, 17. June 2016
8. Diskussion der Analyse
9. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhänge
Vorwort
Überrascht vernahm ich am frühen Morgen des 24. Juni 2016 mit Blick auf mein Handy, dass eine Mehrheit der Bewohner des Vereinigten Königreichs im Referendum für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union gestimmt hatte. Einige Stunden später kündigte der bisherige Premierminister David Cameron, der in den Wochen vor der Abstimmung engagiert für einen EU-Verbleib geworben hatte, seinen Rücktritt an.
Aufmerksam hatte ich den zum Teil erbittert geführten Wahlkampf verfolgt. Woche um Woche konnte das Brexit-Lager in den Umfragen seinen Rückstand verringern, bis unmittelbar vor dem Votum mehrere Meinungsforschungsinstitute die offiziellen Remain- und Leave-Kampagnen gleichauf sahen. Der Mehrzahl der internationalen Zeitungsartikel zufolge, die ich zu dieser Zeit las, war ein EU-Austritt dennoch unwahrscheinlich, schließlich wisse Cameron eine breite Koalition an Unterstützern und Experten auf seiner Seite - und die stets rational abwägenden Briten würden sich zwar vielleicht nicht unbedingt für die EU, aber gegen die Unsicherheiten und Nachteile eines Brexits und damit schließlich doch für einen EU-Verbleib entscheiden.
Es sollte anders kommen. Ein Dreivierteljahr nach dem Votum und nach knapp sechs Monaten des Recherchierens und Schreibens sind die Gründe für den Ausgang des Referendums für mich auf der einen Seite klarer und verständlicher geworden; gleichzeitig aber stellten sich mir viele neue Fragen: Hätte ein anderes Agieren, eine andere Strategie Camerons zu einem Sieg des Remain-Lagers führen können? Fand das Referendum schlicht zu einem aus seiner Sicht ungünstigen Zeitpunkt statt? War es angesichts des spezifischen innen- und europapolitischen Kontexts überhaupt zu gewinnen?
Diese und ähnliche Fragen sind größtenteils hypothetischer Natur und können kaum zufriedenstellend beantwortet werden; Anlass zu Diskussionen aber bieten sie allemal. Solche Diskussionen konnte ich zahlreiche führen mit Kommilitonen aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichen Sichtweisen auf den Brexit dank eines Studienaufenthalts an der Lancaster University von Oktober bis Dezember 2016, während dessen ein Großteil dieser Arbeit entstanden ist. In diesem Zusammenhang erwähnen und danken möchte ich Dr. Martin Steven, Dr. Mark Garnett und Helena Pillmoor vom Department of Politics, Philosophy and Religion der Lancaster University für die hilfreichen Gespräche, für ihre Hinweise und für ihre Unterstützung bei der Kontaktierung meiner Interviewpartner.
“[The EU referendum became about] immigration levels they didn’t want and an EU they didn’t love.”[1] “My impression is that if you, over years if not decades, tell citizens that something is wrong with the EU, that the EU is too technocratic, too bureaucratic, you cannot be taken by surprise if voters believe you.”[2]
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Am 23. Juni 2016 stimmten die Bewohner des Vereinigten Königreichs in einem Referendum mit einer Mehrheit von 51,9 zu 48,1 Prozent dafür, dass ihr Land aus der Europäischen Union (EU) austreten soll. Dieses Votum hat eine Reihe weitreichender Folgen, sowohl für das Vereinigte Königreich wie auch für die EU: Erstmals verlässt ein Mitglied die europäische Staatenfamilie, was in erster Linie von symbolischer Bedeutung ist, bringt diese Entscheidung doch den jahrzehntelangen Prozess der stetigen Erweiterung und Vertiefung der EU beziehungsweise ihrer Vorgängerorganisationen zumindest vorrübergehend zu einem Ende. Der so genannte Brexit wird die europäische politische Agenda in den kommenden Jahren maßgeblich mitbestimmen und wichtige politische Ressourcen in der ohnehin krisengebeutelten EU binden. Mittelfristig könnte der Brexit die vermeintliche Alternativlosigkeit zur EU untergraben und zu weiteren Desintegrationsschritten führen.
Aus Sicht des Vereinigten Königreichs rief das Votum zunächst heftige Reaktionen an den Kapitalmärkten hervor, in Folge derer das britische Pfund gegenüber dem US-amerikanischen Dollar auf seinen tiefsten Wert seit 31 Jahren fiel. Zudem kündigten zahlreiche Banken und Unternehmen an, ihren Hauptsitz womöglich auf das europäische Festland zu verlegen, um weiterhin Zugang zum wirtschaftlich wichtigen europäischen Binnenmarkt zu haben. Vor allem aber hatte das Votum große und zum Teil noch nicht abzusehende Auswirkungen auf die britische Politik und Parteienlandschaft: Am Tag nach dem Referendum trat David Cameron als britischer Premierminister und Vorsitzender der Konservativen Partei zurück und wurde wenige Wochen später in beiden Ämtern durch die bisherige Innenministerin Theresa May ersetzt. Diese muss nun nicht nur die schwierigen Austrittsverhandlungen mit der EU führen und zu einem erfolgreichen Abschluss bringen, sondern auch ihre Partei, die konservative Fraktion im britischen Unterhaus und vor allem die stark polarisierte britische Gesellschaft (wieder) einen. Unterdessen stellte die Erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon, ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum in Aussicht, da sich die Schotten mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen haben. Damit ist die entschieden geglaubte Frage nach dem Fortbestand des Vereinigten Königreichs nun neu aufgeworfen.
So unklar die Folgen des Brexit-Votums sind, so ungläubig waren die Reaktionen am Tag nach der Entscheidung in vielen europäischen Hauptstädten und in weiten Teilen der europäischen Medien. Trotz des jahrzehntelangen, in weiten Teilen der britischen Gesellschaft verankerten Euroskeptizismus‘ und der Umfragen in den Tagen vor der Abstimmung, die einen EU-Austritt als realistische Option zeigten, schien gerade bei den europäischen politischen Eliten die Zuversicht (und Hoffnung) zu dominieren, dass sich letztlich doch eine Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU entscheiden würde. Vertreter der offiziellen Remain-Kampagne spekulierten, dass sich viele Wähler als risiko-avers erweisen und sich trotz ihrer kritischen Haltung gegenüber der EU für den vermeintlich sicheren Status quo entscheiden würden. Schließlich hatte sich Premierminister David Cameron in einer Entschiedenheit, die viele überraschte, an die Spitze der Remain-Kampagne gesetzt und für einen britischen EU-Verbleib geworben.
Nach einer Reihe von Wahlsiegen in den Unterhauswahlen 2010 und 2015 sowie in Referenden über die Einführung eines alternativen Wahlsystems 2011 und über eine Unabhängigkeit Schottlands 2014 war das britische EU-Referendum die schwierigste aller politischen Kampagnen für Cameron, da er sich erstmals einer gespalteten Konservativen Partei und einer Medienlandschaft gegenübersah, die sich überwiegend gegen sein politisches Vorhaben positioniert hatte. Wichtiger aber noch war der Umstand, dass Cameron als jahrelanger, gemäßigter Euroskeptiker nun in vergleichsweise kurzer Zeit gegenüber der eigenen Bevölkerung um die Vorzüge der britischen EU-Mitgliedschaft werben musste. Wie konnte und sollte ihm dieser Spagat gelingen? Welche Rolle genau spielte Cameron in der Remain-Kampagne? Mit welchen Argumentations- und Deutungsmustern versuchte er zu überzeugen? Und inwiefern trägt er Verantwortung für das aus seiner Sicht negative Votum?
Die politikwissenschaftliche Aufarbeitung des Brexit, seiner Gründe und Folgen steht erst am Anfang. Es dominieren Analysen, die einerseits das Wählerverhalten untersuchen, andererseits den Austrittsprozess des Vereinigten Königreichs aus der EU begleiten. Die vorliegende Arbeit aber möchte aus politik- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ihren Beitrag zum besseren Verständnis und zur Einordnung des britischen EU-Votums leisten, indem sie nach der kommunikativen Leadership David Camerons im Vorfeld des Referendums fragt. Damit greift die Arbeit gezielt einen Aspekt dieses umfangreichen Forschungsgegenstandes heraus, der bislang kaum untersucht worden ist. Dabei ist ein solcher Zugang vor allem vor dem Hintergrund plausibel, dass es David Cameron war, der das EU-Referendum angesetzt hatte in der Überzeugung, dieses zu gewinnen; der nun aber als derjenige britische Premierminister in die Geschichte eingehen wird, der seinem Land - gegen seinen eigenen, erklärten Willen - den Weg aus der EU ebnete. Ein starker Fokus auf die Person und die Rolle Camerons während der Kampagne erscheinen somit sinnvoll. Zugleich aber lassen sich die Erkenntnisse womöglich trotz der Einzelfalluntersuchung in einen breiteren politikwissenschaftlichen Rahmen einordnen, steht das britische Referendum doch in einer Reihe von immer populärer werdenden Referenden zu EU-Themen.
2. Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit möchte sich dem skizzierten Forschungsinteresse aus der Perspektive des Leadership-Ansatzes nähern. Dieser stellt innerhalb der Politikwissenschaft ein ebenso florierendes wie heterogenes Forschungsfeld dar. Obwohl die politikwissenschaftliche Lea- dership-Forschung mittlerweile auf eine lange Tradition und viele Erkenntnisse zurückblicken kann, ist nach wie vor umstritten, was genau unter Leadership zu verstehen ist und was (erfolgreiche) Leadership auszeichnet. Dieses vermeintliche Paradox erklärt sich aus den unterschiedlichen Zugängen, Anforderungen und Erwartungen zu und an Leadership, was in der Folge zu unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlich anmutenden Definitionen geführt hat. In einem ersten Schritt wird es daher darum gehen, die (politikwissenschaftliche) Leadership-Forschung aufzuarbeiten und deren wichtigste Stränge herauszustellen und zusammenzuführen. Dabei wird der Schwerpunkt zum einen auf interaktionistischen Ansätzen liegen, da diese sowohl den Leader als auch die Anhänger (followers) und den spezifischen politischen Kontext berücksichtigen; zum anderen wird Leadership aus der Perspektive des sozialen Konstruktivismus spezifiziert, um die Schaffung einer imaginären, sozial konstruierten Beziehung zwischen Leader und Anhängern zu betonen und damit der zentralen Rolle, die Kommunikation in diesem Prozess spielt, gerecht zu werden.
Da sich die vorliegende Arbeit mit kommunikativer Leadership auseinandersetzt, werden in einem zweiten Schritt kommunikationswissenschaftliche Perspektiven auf Leadership eröffnet, was schließlich zu einer Spezifizierung und Definition des hier verfolgten Ansatzes führt. In Lexika und Handbüchern findet sich der Terminus ,kommunikative Leadership‘ nicht. Dies scheint erstens der Tatsache geschuldet, dass eine explizit kommunikative Perspektive innerhalb der politikwissenschaftlichen Leadership-Forschung lange Zeit kaum eine Rolle gespielt und erst in jüngerer Zeit durch das Aufkommen und den Einfluss von Massenmedien an Bedeutung gewonnen hat. Zweitens erachten die meisten Forschungsarbeiten Kommunikation (implizit) als wesentlichen und unverzichtbaren Bestandteil von Leadership, weshalb die Verbindung des Substantivs ,Leadership‘ mit dem Adjektiv ,kommunikativ‘ redundante Züge trägt. In der Tat ist die (erfolgreiche) Ausübung von Leadership ohne kommunikative Leistung nicht vorstellbar. Dennoch erscheint es angebracht und notwendig, den Fokus dieser Arbeit durch eine solche Formulierung und Konzeption zu verdeutlichen. Wie zu zeigen sein wird, standen Cameron viele der in der Literatur angeführten Instrumente zur Ausübung politischer Leadership in dem spezifischen Kontext des britischen EU-Referendums nicht zur Verfügung, weshalb er in besonderer Weise auf (erfolgreiche) Kommunikation angewiesen war. Die vorliegende Arbeit greift hier mit dem Frame-Ansatz auf ein in der Kommunikationswissenschaft beliebtes Analysewerkzeug zurück. Frames ermöglichen es politischen Akteuren, bestimmte Themen oder einzelne Aspekte eines Themas hervorzuheben, ihnen Sinn zu verleihen und damit die Einstellungen der Bürger beziehungsweise Wähler zu diesen Themen zu beeinflussen. Ebenfalls werden mit ,Mobilisierung‘ und ,Überzeugung‘ die beiden zentralen Funktionen von Wahlkämpfen aus Sicht der politischen Akteure dargelegt. Es wird postuliert, dass Cameron zur Erfüllung dieser Funktionen auf eine erfolgreiche Kommunikation in Form erfolgreicher Frames angewiesen war. Der Frame-Ansatz und seine Verbindung mit den beiden Wahlkampffunktionen Mobilisierung und Überzeugung bilden die Grundlage für die Evaluierung der kommunikativen Leadership David Camerons.
Wie durch die interaktionistischen Ansätze deutlich geworden sein wird, muss bei der Analyse und Bewertung von kommunikativer Leadership deren Kontext berücksichtigt werden: Leadership findet nie im luftleeren Raum statt, ist stets bis zu einem gewissen Grad pfadabhängig und kann nur mit Blick auf die Vergangenheit erklärt und verstanden werden. Daher wird, im nächsten Schritt, der Weg zum britischen EU-Referendum skizziert. Dies geschieht aus der Perspektive David Camerons, der 2005 Vorsitzender der Konservativen Partei, 2010 Premierminister in einer Koalition mit den Liberaldemokraten und schließlich 2015 Premierminister in einer konservativen Alleinregierung wurde. In dieser Zeit sah sich Cameron einer zunehmend EU-kritischen konservativen Unterhausfraktion und im britischen Parteienwettbewerb einer immer stärker werdenden Konkurrenz durch die EU-feindliche United Kingdom Independence Party (UKIP) gegenüber. Im Januar 2013 stellte Cameron für den Fall seiner Wiederwahl als Premierminister ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU bis spätestens Ende 2017 in Aussicht. Zuvor wollte er in Verhandlungen mit den übrigen europäischen Staats- und Regierungschefs und der EU die Bedingungen der britischen EU-Mitglied- schaft neu festlegen, was schließlich mit der Erklärung des Europäischen Rates vom 18. und 19. Februar 2016 erfolgte. In diesem Teil der Arbeit wird deutlich, wie sehr Cameron seinen politischen und kommunikativen Spielraum während der Referendumskampagne durch entsprechende Handlungen und Äußerungen in den Jahren zuvor selbst eingeschränkt hatte.
Außerdem werden im fünften Kapitel das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU und der jüngere britische EU-Diskurs in groben Zügen herausgearbeitet. Die britische EU-Mitglied- schaft beruht traditionell auf wirtschaftlichen, rationalen Erwägungen. Jahrzehntelang hatte kein britischer Premierminister - David Cameron eingeschlossen - die Vorzüge der EU herausgestellt. Vielmehr dominierten Konflikte zwischen britischen Premierministern und EU- Vertretern die politischen Debatten des Landes, und in der politischen Medienberichterstattung herrschte oftmals das Bild einer ineffizienten, überregulierten und undemokratischen EU vor, die britischem Unternehmertum unnötige Lasten aufbürde und den britischen Bürger durch überbordende Gesetzgebung bevormunde. Schließlich sollen mit der Eurozonen- und der Flüchtlingskrise die beiden wichtigsten Ereignisse auf europäischer Ebene in den vergangenen Jahren kurz dargestellt werden, da diese den britischen EU-Diskurs maßgeblich mitbestimmten und im Vorfeld des Referendums eine wichtige Rolle spielten. Ein Zwischenfazit fasst die bisherigen Erkenntnisse zusammen und gibt einen Ausblick auf die Zeit nach dem britischen EUDeal, welcher den Anfangspunkt des Untersuchungszeitraums bildet. Der Fokus auf den Zeitraum vom 19. Februar 2016 bis zum Tag des Referendums am 23. Juni 2016 ermöglicht einerseits die im Rahmen dieser Arbeit notwendige Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes. Andererseits eröffnet er eine spezifische - und die hier eingenommene - Sicht auf die kommunikative Leadership David Camerons, da dieser sich ab dem 19. Februar 2016 nicht mehr in Verhandlungen mit der EU, sondern im Wahlkampfmodus befand.
Im sechsten Kapitel werden erstens das Verhältnis Camerons zu ,Britian Stronger in Europe‘, der offiziellen Remain-Kampagne, die sich für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU aussprach, dargelegt. Obwohl als Premierminister und Vorsitzender der Konservativen Partei nicht offiziell Teil dieser Kampagne, fanden bereits vor dem EU-Deal Gespräche zwischen Vertrauten Camerons und , Stronger In‘ über eine Zusammenarbeit während der Kampagnenzeit statt, so dass David Cameron nach dem EU-Deal zur prominentesten Figur innerhalb des Remain-Lagers wurde und de facto die Führungsrolle bei , Stronger In‘ übernahm. Zweitens wird mithilfe von Primär- und Sekundärdokumenten der Verlauf der Referendumskampagne herausgearbeitet. Dabei stehen David Cameron und seine wichtigsten Themen und Argumente - Wirtschaft, Sicherheit, die Rolle des Vereinigten Königreichs in der Welt - im Fokus. Um den Ereignissen und der Dynamik des Kampagnenverlaufs Rechnung zu tragen, werden auch zentrale Personen und Themen des gegnerischen Lagers, das für einen EU-Austritt warb, vorgestellt. Schließlich werden, drittens, Analysen in Form von Wahlauswertungen und Wählerbefragungen präsentiert, die das Abstimmungsverhalten einzelner Wählergruppen verdeutlichen. Diese sind eine notwendige Voraussetzung für die Einordnung und Bewertung der kommunikativen Leadership Camerons.
Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit aber soll auf Fragen nach der Herstellung und Propagierung von Frames durch David Cameron als strategischem Akteur liegen. Im empirischen Teil der Arbeit (Kapitel sieben) werden daher zunächst das hier verwendete Frame-Konzept und die Vorgehensweise bei der Frame-Analyse präsentiert. Anschließend werden auf der Grundlage von vier Primärdokumenten Camerons - drei TV-Auftritte und eine Rede - die Argumentations- und Deutungsmuster Camerons herausgearbeitet. Dazu wird zunächst auf der Grundlage theoretischer Vorüberlegungen und einer in der kommunikationswissenschaftlichen Literatur gängigen Frame-Definition deduktiv ein Kategoriensystem hergeleitet, welches im Verlauf der Analyse spezifiziert werden soll. Letztlich können somit wiederkehrende FrameElemente ausfindig gemacht werden. Treten diese Frame-Elemente regelmäßig und über verschiedene Dokumente hinweg in immer gleichen Kombinationen auf, können sie zu Frames zusammengesetzt werden, welche dann Rückschlüsse auf die Argumentationsstrategie Camerons erlauben.
Im achten Kapitel werden die empirischen Erkenntnisse zusammengetragen. Die Argumentationsstrategie Camerons wird unter Verweis auf seine kommunikationspolitischen Möglichkeiten und Restriktionen und mithilfe zweier geführter Experteninterviews dargestellt und diskutiert. Die Interviews eröffnen Einblicke in die , Stronger In‘-Kampagne und in die Konservative Partei, und sie liefern wichtige Hinweise auf den Kampagnenverlauf. Die Arbeit schließt mit einer Bewertung der kommunikativen Leadership David Camerons und einer Einordnung der gewonnenen Erkenntnisse in einen breiteren politikwissenschaftlichen Kontext. Dabei soll auch auf die methodischen und analytischen Grenzen der vorliegenden Arbeit hingewiesen werden.
3. Politische Leadership
3.1. Politikwissenschaftliche Leadership-Forschung
Leadership und auch politische Leadership zeichnen sich durch ein hohes Maß an Interdiszip- linarität aus.[3] Dabei ist politische Führung (Leadership)[4] so alt wie die Politik selbst; manche
Beobachter sehen das Wesen von Politik gar in der (versuchten) Ausübung politischer Führung verkörpert (Tucker 1995, S. 3). In der Literatur werden die Ursprünge der Beschäftigung mit politischer Führung oftmals in Platons Republik gesehen, in der sich der Autor - in Zeiten von Chaos, Instabilität und häufiger Tyrannei in der attischen Demokratie - mit der Frage nach den richtigen Herrschern auseinandersetzte, die nach dem Gemeinwohl streben würden. Diese Herrscher sah Platon am besten in den Philosophenkönigen verkörpert, welche durch Selektion zu bestimmen und durch Erziehung mit Weisheit, Tugend und Gerechtigkeitssinn auszustatten seien (Wren 2007, S. 13-20; Peele 2005, S. 188-189). Abhandlungen zu Fragen und dem Wesen politischer Führung finden sich somit bereits Jahrhunderte vor der Etablierung einer modernen Politikwissenschaft und lange Zeit vor der Entstehung liberal-demokratischer Gemeinwesen (Helms 2000, S. 411). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen (politische) ,Führung‘ hat aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt (Yukl 2013, S. 18).
Dennoch gibt es bis heute in der Politikwissenschaft keine einheitliche, allgemein anerkannte Definition von Leadership. Es besteht keine Einigkeit darüber, was das Konzept ,Leadership‘ ausmacht und was dessen konstituierenden Elemente sind, so dass James MacGregor Burns‘ Aussage, wonach Leadership eines der am meisten untersuchten und am wenigsten verstandenen Phänomene auf Erden sei (Burns 1978, S. 2), auch in neueren Forschungsarbeiten gerne zitiert wird.[5] Exemplarisch für die Bemühungen um die Suche nach einer generellen Theorie und Definition von Leadership und ihr Scheitern steht ein Sammelband aus dem Jahr 2006, herausgegeben von George R. Goethals und Georgia L. J. Sorenson (Goethals u. Sorenson 2006): Dieser fasst entsprechende Diskussionen einer Forschergruppe über drei Jahre hinweg zusammen, kommt aber zu dem Fazit, dass eine generelle Theorie und Definition nicht nur aufgrund der Widersprüchlichkeiten zwischen den verschiedenen Disziplinen, die sich mit Leadership auseinandersetzen, sondern auch aufgrund der Spannungen zwischen den verschiedenen Ansätzen und Schwerpunkten innerhalb der Politikwissenschaft nicht möglich seien. Der Sammelband präsentiert daher keine wirklichen Schlussfolgerungen, sondern will nach eigener Bekundung Denkanstöße für künftige Debatten geben (Wren 2006, S. 34).
Angesichts des komplexen Gegenstands ,politische Leadership‘ mag das Fehlen einer allgemeinen Theorie und Definition nicht verwundern. Forscher plädieren dafür, diese je nach primärem Interesse am politischen Leader, an der Art seines Einflusses, am Adressaten seiner Handlungen oder am Ergebnis des ausgeübten Einflusses entsprechend anzupassen; nur so könnten Arbeitshypothesen dem spezifischen Forschungsinteresse gerecht werden (Hartley u. Benington 2011, S. 208; Yukl 2013, S. 36). Veranschaulicht werden kann der mitunter notwendige Perspektivenwechsel und die unterschiedliche Gewichtung der jeweiligen Variablen daran, dass ein und derselbe politische Leader in einer ganzen Reihe von - zum Teil formellen, zum Teil informellen - Arenen operieren muss, etwa als Premierminister, Parteivorsitzender, Wahlkreisabgeordneter oder Privatperson (Hartley u. Benington 2011, S. 210). Diese verschiedenen Arenen haben jeweils unterschiedliche Anforderungen an den politischen Leader - etwa was Sprache und Stil angeht -, so dass der Leader unterschiedliche Rollen mit jeweils spezifischen, sich zum Teil widerstrebenden Anforderungen einnehmen muss (Edinger 1990, S. 518; Elcock 2001, S. 106).
Immerhin besteht in der Literatur weitestgehend Einigkeit darüber, dass politische Leadership in Demokratien nicht auf Zwang und Drohung, sondern auf Argumenten und Überzeugung beruhen muss (Northouse 1997, S. 7; Genovese 2004); dass es bei politischer Leadership darum geht, in einem pluralen und meist unübersichtlichem Umfeld Probleme und Herausforderungen für die Gemeinschaft zu erkennen und diese zu definieren (Hartley u. Benington 2011, S. 210211); dass daran anschließend gemeinsame Werte und Ziele formuliert werden müssen, um Orientierung und Richtung zu geben; dass politische Leader den Zusammenhalt der Gemeinschaft sichern müssen, etwa durch Identitätsbildung (Tucker 1995, S. 18-19); und dass politische Leader schließlich auf die Mobilisierung einer möglichst großen Koalition an Unterstützern angewiesen sind (Kellerman 2004, S. 21-25).[6] Ferner kommt die Fachliteratur darin überein, dass bestimmte Variablen bei der Beschäftigung mit politischer Leadership berücksichtigt werden müssen. Dazu zählt Peele (2005, S. 192) die Persönlichkeit des Leaders, die Anhänger (followers), den Kontext, die Probleme und Aufgaben, denen sich der Leader gegenübersieht, die Instrumente, mit denen er um Unterstützung für sich und seine Agenda wirbt, sowie die Effekte der Leadership. Nicole Kaspari (2008, S. 29-30) wiederum leitet aus der Vielzahl an Definitionen und Annäherungsversuchen vier Merkmale von Leadership ab: ihren prozessualen Charakter; die interaktive Komponente zwischen Leader und Anhängerschaft; die Ausübung von Macht und Einfluss eines Individuums beziehungsweise einer kleinen Gruppe von Individuen auf das Verhalten anderer; und schließlich das Erreichen beziehungsweise die Durchsetzung bestimmter Ziele.
Uneinigkeit hingegen besteht wiederum bei der Messung von Leadership-Leistungen und von Leadership-Effekten (Nye 2008, S. 23-24; Grint 2000, S. 4). Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass viele Leadership-Studien qualitativ angelegt sind und sich mit einem Einzelfall oder wenigen Fällen auseinandersetzen, weshalb ein zeitlicher oder länderübergreifender Vergleich und Verallgemeinerungen der Erkenntnisse schwierig sind. Ferner können die Messprobleme jeweils mit einem Fokus auf den Leader, auf die konkrete Leadership-Leistung und auf den Empfänger dieser Leistung verdeutlicht werden: Erstens kann es schwierig sein, die einzelne Leistung eines politischen Leaders zu beurteilen, da beispielsweise nicht immer zwischen dem konkreten Resultat seiner Führungsleistung (output) und deren Wirkung (outcome) unterschieden werden kann und da Leadership mitunter das gemeinsame Produkt mehrerer Akteure ist (,kollektive Führung‘; Paige 1977, S. 1). Zweitens handelt es sich bei Leadership um ein komplexes Phänomen, das viele nicht quantifizierbare und unbekannte, intervenierende Variablen enthalten kann. Und drittens können die genauen Effekte beim Empfänger der Lea- dership-Leistung oftmals nur in Fragebögen oder mithilfe von anderen, nicht immer genauen und zuverlässigen Instrumenten ermittelt werden. Zwei der wenigen, dezidierten Vorschläge zur Beurteilung (exekutiver) politischer Führungsleistung durch Messung stammen zum einen von Mark Fliegauf und Kollegen (Fliegauf et al. 2008, S. 411-415), die zwischen Effektivität und Effizienz politischer Führung unterscheiden: Während Effektivität das Erreichen vorgegebener (artikulierter) Ziele bewertet, ergibt sich Effizienz aus dem Quotienten aus Zielsetzung und dem Einsatz der Mittel. Zum anderen legte Paul t’Hart (2014, S. 155) drei Kriterien zur Evaluierung politischer Leadership vor: Erstens Klugheit oder smart leadership, die die Maßnahmen des Leaders zur Lösung politischer Probleme bewertet; zweitens Unterstützung oder accepted leadership, welche den Rückhalt des Leaders in Regierung und Wählerschaft bestimmt; und drittens Vertrauenswürdigkeit oder accountable leadership, bei der der Leader Rechenschaft in unterschiedlichen Verantwortungsbereichen ablegen muss. Der Autor ordnet diese Kriterien als Eckpunkte in einem Dreieck (triangle) an, wobei sich die Eckpunkte gegenseitig ergänzen und in Abhängigkeit zueinander stehen können: Um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, muss der politische Leader das Dreieck im Gleichgewicht halten (t’Hart 2014, S. 153-158).
Trotz dieser definitorischen und analytischen Schwierigkeiten hat das öffentliche und akademische Interesse an Leadership in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen.[7] Dies kann im Wesentlichen auf drei Punkte zurückgeführt werden (Peele 2005, S. 191; Helms 2010, S. 3): Erstens ist aufgrund der allgemeinen Zunahme des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemdrucks, der knapper werdenden zeitlichen und finanziellen Ressourcen sowie der Erosion der politischen Gestaltungsmacht des Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung das Bedürfnis nach politischer Führung gestiegen. Zweitens erfuhren die Inhaber exekutiver Spitzenämter eine doppelte Aufwertung, da im innenpolitischen Bereich ein erhöhter Koordinierungsbedarf der verschiedenen Politikfelder besteht, während sich im Außenbereich zunehmend ein System internationaler Gipfeltreffen herausgebildet hat. Prominent fand diese Entwicklung ihren Ausdruck in der These einer „Präsidentialisierung“ der Regierungssysteme beziehungsweise einer „Präsidentialisierung“ politischer Führung (Webb u. Poguntke 2005). Und drittens hat eine strukturell veränderte Medienberichterstattung - darunter vor allem eine zunehmende Bedeutung des Fernsehens als politischer Informationsquelle - zu einer höheren Personalisierung von Politik, einem wachsenden Interesse der Massenmedien an politischen Leadern und daher zu einer größeren öffentlichen Sichtbarkeit selbiger geführt (vgl. stellvertretend für diese Trends sowie für das damit verbundene Konzept einer „Mediatisierung von Politik“: Strömbäck 2008).[8]
Einen der prominentesten Stränge innerhalb der politikwissenschaftlichen Leadership-For- schung stellen normative Ansätze dar, in denen ,gute‘ politische Führung als wichtige Größe für die Qualität von Politikergebnissen und die Legitimation von Politik betrachtet wird (Flieg- auf et al. 2008, S. 399). Diesen Ansätzen liegt eine herrschaftskritische Einstellung zugrunde, sehen sie die Ausübung politischer Führung doch in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zur demokratischen Responsivität des Führungspersonals. Vereinfachend gesehen lassen sich bei den normativen Leadership-Ansätzen zwei Pole ausmachen (Helms 2009, S. 375; Ruscio 2004): Für die einen ist politische Führung unverzichtbar für das Gelingen der Demokratie, für Orientierung und Stabilität sowie für die erfolgreiche Realisierung politischer Führungsansprüche. Politische Führung ist hier primär auf den Output bezogen, sie dient der Effizienz von Regierungen im Entscheidungsprozess und bei der Lösung politischer Probleme, und sie gewährleistet dem politischen Führungspersonal die notwendige Flexibilität bei kurzfristig auftretenden Herausforderungen (Foley 2013, S. 9). Für die anderen ist politische Führung nur schwer vereinbar mit den Grundprinzipien der liberalen Demokratie als die repräsentativ-demokratische Form von Volksherrschaft. Nicht nur neige politische Leadership zwangsläufig zu Elitismus; auch bestünde die Gefahr, dass politische Leader ihre Macht für eigene Zwecke missbrauchten und nicht in ausreichendem Maße für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden könnten (Pelinka 2008).[9] Generell gelte: “The more that democratic leaders lead from the front, the less democratic they appear; and the more they act like good democrats, the less they seem like true leaders.” (t’Hart 2014, S. 19)
In jüngerer Zeit wurde eine ganze Reihe von Arbeiten aus der vergleichenden Leadership-For- schung vorgelegt. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Forschungsstrang vor allem mit dem Namen Ludger Helms verbunden. Komparative Arbeiten vergleichen die verschiedenen Machtressourcen vor allem von Staats- und Regierungschefs, indem sie auf die Besonderheiten des politischen Systems und der politischen Kultur des Landes blicken.[10] Der britische Premierminister beispielsweise verfügt im internationalen Vergleich über eine beachtliche Machtfülle, da er sich keiner kodifizierten Festlegung seiner Rechte und Pflichten in Form einer geschriebenen Verfassung, (in der Regel) keinem Koalitionspartner und einem vergleichsweise schwachen Verfassungsgericht gegenübersieht. Durch die Kombination von Parteivorsitz, Fraktionsvorsitz und Regierungsamt vereint der Premierminister nahezu alle entscheidenden Positionen im politischen Entscheidungs- und Umsetzungsprozess auf seiner Person. Und durch die stark ausgeprägte Personalisierung der britischen Politik genießt er in Medien und Öffentlichkeit einen Aufmerksamkeitsvorsprung gegenüber allen anderen politischen Akteuren, weshalb der britische Premierminister in stärkerem Maße als die Regierungschefs anderer parlamentarischer Systeme als Inbegriff der Regierung gelten kann (Hopp 2010, S. 73-78; Foley 2000, S. 240-300).[11]
Wie bereits der Blick in die vergleichende Leadership-Forschung andeutet, betrifft politische Führung üblicherweise die Spitzen der Exekutive in westlichen Demokratien: Politische Führung wird meist als ein Prozess verstanden, in dem Regierungen versuchen, „Kontrolle über Entscheidungen der öffentlichen Politik“ (control over public policy decisions) auszuüben (E- dinger 1975, S. 257). Von besonderem Interesse sind dabei Fragen danach, wer die Ergebnisse (outcomes) der Entscheidungen öffentlicher Politik beeinflusst und kontrolliert, und wie dies geschieht (Kellerman 1984, S. 71). Politische Führung muss sich demnach vor allem in der Gesetzgebung und in der politischen Kontrolle über das Gesetzgebungsverfahren niederschlagen (Helms 2000, S. 413). Diese Auffassung politischer Führung fand ihren Niederschlag im Konzept der , executive leadership‘, worunter „das Dirigieren des gouvernementalen Willens- bildungs- und Entscheidungsprozesses und die Herstellung politischer Legitimität von Regierungsentscheidungen durch Spitzenrepräsentanten der politischen Exekutive“ verstanden wird (Helms 2010, S. 3). Executive leadership setzt sich aus der Identifikation gesamtgesellschaftlich relevanter Probleme, der Formulierung und öffentlichen Begründung politischer Lösungsvorschläge sowie der Organisation der für die angestrebten Problemlösungen erforderlichen Mehrheiten zusammen (Helms 2009, S. 377).
Eine andere Ausprägung politischer Leadership stellt die so genannte ,public leadership‘ dar, welche auf mediale Präsenz zur Mobilisierung öffentlicher Unterstützung abzielt und aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen in der Mediendemokratie zuletzt an Bedeutung gewonnen hat (Glaab 2010). Public leadership betont die Führungsressourcen, die aus den institutionellen Machtressourcen, dem privilegierten Zugang von Führungsakteuren zur Öffentlichkeit und dem Bedeutungsverlust von Parlamenten erwachsen. Konkret ist unter public leadership die Fähigkeit von Inhabern öffentlicher Spitzenämter zu verstehen, „sich bei der Verfolgung ihrer Aufgaben und Ziele die Öffentlichkeit zunutze zu machen“ (Glaab 2010, S. 322). Dabei werden Führungsqualitäten von den Medien zugeschrieben und können von diesen auch wieder entzogen werden. Durch professionales Image-Management und mithilfe von Inszenierungstechniken haben Führungsakteure zwar die Möglichkeit, ihr öffentliches Erscheinungsbild zu beeinflussen; vollends kontrollieren können sie dieses aber nicht (Glaab 2010, S. 328). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass public leadership primär auf Darstellungspolitik und mediale Politikvermittlung fokussiert, während es bei executive leadership in erster Linie um Entscheidungspolitik im Sinne der effektiven Politikgestaltung geht (Glaab 2010, S. 322).
Zu nennen schließlich sind Arbeiten, die sich mit dem Einfluss politischer Leader auf (demokratische) Wahlentscheidungen befassen und die als ,electoral leadership‘ klassifiziert werden können. Allgemein fußen solche Ansätze auf der Annahme, dass Bürger ihre Wahlentscheidung auf der Grundlage einer Bewertung der verschiedenen, konkurrierenden Parteien, ihrer jeweiligen Politikangebote (policies) und ihrer jeweiligen politischen Leader treffen (Dalton 2014, S. 184). Letztere sind in präsidentiellen Regierungssystemen meist durch Vorwahlen gekürte, offizielle Präsidentschaftskandidaten, in parlamentarischen Regierungssystemen fungiert häufig der aktuelle Vorsitzende als Spitzenkandidat seiner Partei. Einige Arbeiten kommen darin überein, dass die Bewertung von Leadern als eine der unabhängigen Variablen, die eine Wahlentscheidung erklären helfen, in den vergangenen Jahrzehnten tendenziell zugenommen hat (Costa Lobo 2014, S. 367-368). Die Gründe hierfür werden vor allem in einer Personalisierung von Politik - verstärkt durch das Fernsehen als primärer Quelle politischer Informationsvermittlung und dessen Fokus auf politische Leader - und in nachlassenden Parteibindungen gesehen. In der Folge berücksichtigten Wähler nun in stärkerem Maße die persönlichen Eigenschaften eines Leaders (Blais 2011, S. 2-5). Andere Arbeiten heben hervor, dass gewisse Einflüsse von Leadern (leader effects) auf die Wahlentscheidung zwar im zeitlichen und länderübergreifenden Vergleich konstant nachgewiesen werden konnten, dass es aber wenige empirische Hinweise darauf gibt, dass deren relative Bedeutung im Zeitverlauf zugenommen hat. Gleichwohl konnte gezeigt werden, dass der Einfluss politischer Leader desto größer ist, je schwächer der Parteienwettbewerb in einem Land ausgeprägt ist (Holmberg u. Oscarsson 2011).
Wie deutlich geworden ist, kann die vorliegende Arbeit auf eine breite Literaturbasis zu politischer Führung zurückgreifen, ohne dass das hier verfolgte Forschungsinteresse von einer der vorgebrachten Konzeptionen oder Definitionen genau erfasst würde: Die vorliegende Arbeit ist weder an David Camerons Aushandlung neuer Bedingungen der britischen EU-Mitgliedschaft mit den übrigen europäischen Staats- und Regierungschefs noch an seinen parteipolitischen Ressourcen bei der Aushandlung und Durchführung des EU-Referendums interessiert. Beides wären Fragen nach internationaler beziehungsweise parteipolitischer Leadership. Auch der prominenteste der politischen Leadership-Ansätze, die executive leadership und die damit verbundene Kontrolle über den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess, wird dem hier verfolgten Interesse nicht gerecht. Der Fokus dieser Arbeit liegt vielmehr auf der kommunikativen Führungsleistung David Camerons zur Mobilisierung und Überzeugung der Wähler für ein Votum zum Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU. Daher wird es in den nächsten Abschnitten schrittweise darum gehen, das Konzept kommunikative Leadership herauszuarbeiten. Zuvor aber noch müssen mithilfe der interaktionistischen und sozialkonstruktivistischen LeadershipAnsätze Perspektiven eröffnet werden, die dem Faktor ,Kommunikation‘ in der Beziehung des politischen Leaders zu seinen Anhängern eine ausreichend große Bedeutung beimessen.
3.2. Interaktionistische und sozialkonstruktivistische Ansätze
Die politikwissenschaftliche Leadership-Forschung kann im Hinblick auf die Akteure, denen jeweils ihr primäres Interesse gilt, erstens nach personenzentrierten Ansätzen klassifiziert werden, bei denen die Führungsqualität des Einzelnen die wichtigste Variable für die Erklärung des politischen Prozesses darstellt. Als klassischer Vertreter dieses Ansatzes gilt der Historiker Thomas Carlyle mit seinem in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten ,Great Man‘-Para- digma, wonach große Leader eigenmächtig den Verlauf der Geschichte verändern können, da sie potentiellen Konkurrenten moralisch überlegen seien und sich keinen nennenswerten Widerständen gegenübersähen (Elgie 1995, S. 5). Personenzentrierte Ansätze sind heute eng mit der politischen Psychologie verbunden, die einen starken Fokus auf Biographie, Charaktereigenschaften, Motive und Fähigkeiten des politischen Leaders legt und unter anderem davon ausgeht, dass es natürliche Leader gibt, die über bestimmte Führungsqualitäten verfügen, welche andere nicht besitzen (Rhodes u. t’Hart 2014, S. 3-5). Dazu zählen etwa neben einer großen Ausdauer auch eine besondere Überzeugungskraft und herausragende rhetorische Fähigkeiten. Die politische Psychologie stellt dann einen Zusammenhang her zwischen Persönlichkeit und politischem Verhalten des Leaders.[12] Nicht zufällig ist dieser Ansatz besonders prominent in der US-amerikanischen Leadership-Forschung vertreten, da in der dortigen Präsidialdemokratie die institutionellen Bedingungen wie die faktische Direktwahl des Präsidenten und die monokratische Exekutivstruktur den politischen Leader deutlicher als in parlamentarischen Demokratien ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung rücken (Helms 2000, S. 416). Die sehr deterministische, auf einzelne politische Leader konzentrierte Perspektive der personenzentrierten Ansätze gilt mittlerweile jedoch als zu reduktionistisch und in unzulässigem Maße vereinfachend, da sie der Komplexität moderner liberaler Demokratien und den mannigfachen Anforderungen an politische Leader kaum gerecht wird.
Gewissermaßen den Gegenpol bilden strukturelle Ansätze, die vor allem die Bedeutung politischer Institutionen wie die parlamentarische oder präsidentielle Regierungsform, die Anzahl und Stärke der Vetospieler in Form von Koalitionen, zweiten Parlamentskammern, Verfassungsgerichten oder Interessenverbänden, die innere Struktur und Ressourcenausstattung der Regierungszentrale sowie die politischen Mehrheitsverhältnisse zwischen Regierung und Opposition betonen (Blondel 1987, S. 148-180). Den strukturellen Ansätzen zufolge bestimmen politische Institutionen maßgeblich über die Handlungsressourcen des politischen Leaders, sie “shape how political actors define their interests and [...] structure their relations of power to other groups“ (Thelen u. Steinmo 1992, S. 2); insofern können politische Institutionen “define the rules of the political game“ (Elgie 1995, S. 204). Daneben spielen aber auch politisch-kul- turelle Parameter wie die Akzeptanzgrenzen von Gesellschaften in Bezug auf politisches Führungsverhalten eine Rolle (Helms 2009, S. 380-391). Allerdings werden der sehr starke Fokus dieser Ansätze auf Strukturen und Institutionen sowie ihre fehlende Offenheit gegenüber anderen, potentiellen Einflussfaktoren inzwischen ebenfalls als deterministisch und unzureichend erachtet. Letztlich sind es niemals Institutionen selbst, sondern immer Individuen, die politische Leadership ausüben (Elgie 1995, S. 203).
Somit dominieren heute eindeutig interaktionistische Ansätze die politikwissenschaftliche Lea- dership-Forschung, die sowohl personelle wie auch systemische Faktoren angemessen berücksichtigen und der Interdependenz und Dynamik dieses Verhältnisses gerecht werden wollen (Greenstein 1992; Helms 2000, S. 420). Zahlreiche Parallelen zum Neo-Institutionalismus aufweisend, operieren politische Leader diesen Ansätzen zufolge zwar innerhalb eines bestimmten Umfelds, welches ihren Handlungsspielraum begrenzt und ihr Verhalten prägt; gleichzeitig aber kann der politische Leader seine Außenwelt und die ihr zugrundeliegenden, strukturellen Rahmenbedingungen auch beeinflussen (Elgie 2015, S. 2-3).[13] Zu den institutionellen Strukturmerkmalen zählen vor allem die Machtstruktur innerhalb der Exekutive, ihr Verhältnis zu anderen Organen des Regierungssystems, die Merkmale des Parteiensystems sowie politisch-kulturelle Traditionen und Präferenzen der Bevölkerung (Elgie 1995, S. 14-23). Hinzukommen können kurzfristig wirksame, situativ-politische Umstände, die nicht vorhersehbare Gelegenheitsfenster (windows of opportunity) öffnen und den Spielraum für politische Führung dynamisieren können (Helms 2000, S. 421). Übereinstimmung innerhalb der interaktionistischen Ansätze herrscht also darüber, dass politische Ereignisse die Folge einer Wechselbeziehung zwischen der Persönlichkeit eines politischen Leaders und dem spezifischen Kontext, in dem er operiert, sind. Umstritten hingegen ist erstens die relative Bedeutung der beiden Faktoren ,Leader‘ und ,Kontext‘ in dieser Beziehung und zweitens die Frage, welche Faktoren genau den spezifischen Kontext bilden (Elgie 2015, S. 14).
Eng mit den interaktionistischen Ansätzen verbunden sind Leader-Follower-Ansätze, die politische Führung als ein „kontinuierliches, soziales Interaktionsmuster“ zweier Protagonisten betrachten, nämlich zwischen dem Führenden (leader) auf der einen und seinen Anhängern (followers) auf der anderen Seite (Fliegauf et al. 2008, S. 403).[14] Demnach sind die Follower keine homogene, passive Gruppierung, die dem Leader stillschweigend und bedingungslos Gefolgschaft leistet; vielmehr sind sie hinsichtlich ihrer Zusammensetzung, Ziele und Machtpotentiale heterogen und variabel, sie wollen ihre Anliegen durch den Leader vertreten sehen und verleihen ihm zu diesem Zweck Akzeptanz, Kompetenzen und Legitimität (Fliegauf et al. 2008, S. 403-404; Kellerman 2008). Dabei können verschiedene Gruppen von Anhängern unterschieden werden, etwa die Kabinettsmitglieder in der administrativen Arena, die Parteifunktionäre in der parteipolitischen Arena und die Parteianhänger beziehungsweise ein möglichst großer Teil der Wählerschaft in der elektoralen Arena. Die verschiedenen Arenen zeichnen sich durch variable Follower-Konstellationen mit divergierenden Interessen, Erwartungen und Loyalitäten aus (Glaab 2010, S. 327). Ziel und Aufgabe des politischen Leaders ist es, eine möglichst enge, mitunter emotionale Beziehung zu seinen Anhängern aufzubauen, die Präferenzen und Forderungen der Anhänger zu identifizieren, die eigenen Zielvorgaben im Einklang mit diesen zu formulieren und die Anliegen der Anhänger glaubhaft zu vertreten (Nye 2008, S. 100-102).
Wie bis hierher deutlich geworden ist, handelt es sich bei (politischer) Leadership um ein komplexes, mitunter umstrittenes und empirisch nur schwer greifbares Phänomen. Daher soll nun mit dem Sozialkonstruktivismus ein Ansatz vorgestellt werden, der diesen Umständen nicht nur Rechnung trägt, sondern der in diesen Umständen seine eigentliche Begründung findet. Die zentrale Annahme des Sozialkonstruktivismus in Bezug auf politische Führung besagt, dass es sich bei Leadership nicht um einen gegebenen, ,natürlichen‘ Zustand, sondern um einen konstitutiven, voraussetzungsvollen und zeitlich begrenzten Prozess handelt. Ferner ist Leadership immer relational, in einem bestimmten Kontext eingebettet und das Resultat „geteilter Sinngebung“ (the result of shared meaning-making; Ospina u. Sorenson 2006, S. 188-189). Für den politischen Leader bedeutet dies, dass er Leadership-Fähigkeiten nicht einfach besitzt, sondern dass diese ihm lediglich attestiert werden (Zarefsky 2004, S. 611). Erst wenn ein Individuum (oder eine Gruppe von Individuen) in einem sozialen System die Bedürfnisse einer Gruppe erfolgreich „rahmt und definiert“ und die Richtung für „kollektives Handeln“ (collective action) vorgibt, wird Leadership zur Realität (Ospina u. Sorenson 2006, S. 190). Aus sozialkonstruktivistischer Sicht ist es eine zentrale Aufgabe des (potentiellen) politischen Leaders, politischen Ereignissen Bedeutung beizumessen und Sinn zu verleihen (meaning making) und - durch den gezielten Einsatz von Sprache - Realität und Leadership zu konstruieren (Elgie 2015, S. 80): “It is, then, through language that we frame the ‘reality‘ and that imp lies that we can reframe it through language.“ (Grint 2014, S. 242; vgl. auch Fairhurst u. Sarr 1996)
Keith Grint (2000, S. 4; 2010, S. 12) zufolge handelt es sich bei der Umwelt und dem Kontext um keine objektiven Variablen; vielmehr spielen politische Leader eine aktive Rolle in deren Konstruktion und Interpretation. Die erfolgreiche soziale Konstruktion von Kontext legitimiert die Handlungen des politischen Leaders und begrenzt zugleich die verfügbaren Handlungsalternativen der politischen Konkurrenten (Grint 2005, S. 1471). Um erfolgreich Leadership ausüben zu können, müssen Leader ein Gefühl von Gemeinschaft und Identität kreieren, sie müssen dazu ein Mindestmaß an Homogenität innerhalb der Gemeinschaft schaffen, sie müssen die Gemeinschaft zusammenhalten, sie müssen die Vision einer besseren Zukunft für die Mitglieder einer Gemeinschaft darlegen, und sie müssen schließlich mit Blick auf ihre angestrebten Ziele überzeugend argumentieren (Grint 2010, S. 6-7). Da politische Führer regelmäßig auch unpopuläre Entscheidungen treffen müssen und nicht immer alle Follower in gleichem Maße zufriedenstellen können, geht Leadership zwangsläufig mit Enttäuschung einher (t’Hart 2014, S. 11).
Da es sich bei Leadership demnach um eine „Erfindung“, um das „Produkt einer Vorstellung“ handelt, ist ein glaubhaftes und überzeugendes „Gemeinschaftsnarrativ“ eines der wichtigsten Elemente von Leadership (Grint 2000, S. 13): Dieses Narrativ[15] muss seine Wurzeln in der gemeinsamen Vergangenheit der Gemeinschaft haben, es muss die Gegenwart erklären und es muss eine erstrebenswerte Zukunft für die Gemeinschaft darlegen (Grint 2000, S. 14). Besonders der letzte Punkt ist von großer Bedeutung, da die Anhänger sich nur dann mobilisieren lassen, wenn der Leader ihnen glaubhaft und überzeugend die Zukunft „verkauft“ (Grint 2000, S. 22): Die Mobilisierung von Anhängern ist maßgeblich von einer überzeugenden Botschaft und den rhetorischen Fähigkeiten sowie dem Verhandlungsgeschick des politischen Leaders abhängig (Grint 2000, S. 22-23). Auch David Zarefsky (2004) betont, dass politische Leader beim Adressieren ihres Publikums immer im Kontext einer spezifischen Situation handeln. Beim Formulieren ihrer Botschaften steht ihnen dann ein Arsenal verschiedener Instrumente zur Verfügung, darunter die Auswahl von Argumenten, Framing, Beweisen und Stil, aber auch paraverbale oder nonverbale Instrumente wie eine bestimmte Choreographie (Zarefsky 2004, S. 608-609).
Damit ist der sozialkonstruktivistische Ansatz derjenige unter den interaktionistischen Ansätzen, der dem politischen Leader das größte Einfluss- und Gestaltungspotential auf seine Anhänger und seine Umwelt beimisst: Der Leader liefert nicht nur die in seinen Augen angemessene Interpretation der Umwelt, er formuliert auch die politischen Ziele der Gemeinschaft, ihre Herausforderungen und die Strategie, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann und soll. Politische Leader versuchen nicht nur, ihre Anhänger von der Wahrhaftigkeit ihrer Interpretation politischer Ereignisse zu überzeugen; sobald diese Interpretation als wahr angesehen wird, handelt es sich nicht länger um eine Interpretation, sondern um die Wahrheit selbst (Grint 2000, S. 4). Mit der Bedeutung von Kommunikation und Sprache, die im sozialkonstruktivistischen Ansatz eine wichtige Rolle spielen, beschäftigt sich das nachfolgende Kapitel ausführlicher.
4. Kommunikationswissenschaftliche Perspektiven
4.1. Kommunikation und politische Leadership
Politische Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie. Aus demokratietheoretischer Sicht findet Legitimation nicht nur am Wahltag statt, sondern die Regierenden müssen sich permanent gegenüber dem Volk erklären, ihre Handlungen rechtfertigen und kontinuierlich um Unterstützung werben. Anders als autokratische Herrscher, die zu Mitteln des Zwangs, der Drohung und der Einschüchterung greifen können, müssen demokratische politische Leader das Volk konstant von sich und ihren politischen Absichten überzeugen, sodass politische Kommunikation eine zentrale Funktionsbedingung der Demokratie ist (Kane u. Patapan 2010, S. 371-374).
Damit ist Kommunikation zugleich auch ein wesentlicher Bestandteil von politischer Führung: “At a minimum, leadership always involves some element of communication.“ (Foley 2013, S. 189) Nicht nur sind die politischen Leader aufgrund ihres eigenen Interesses am Machterhalt beispielsweise auf die Unterstützung ihrer Partei und damit auf eine angemessene Kommunikation gegenüber dieser angewiesen. Politische Leader müssen darüber hinaus immer wieder eine ausreichend große Koalition an Unterstützern kreieren, um ihre Handlungen zu legitimieren und durchsetzen zu können (Hartley u. Benington 2011, S. 207). Kommunikation kann daher als zentrales Mittel zur Herstellung und Gewährleistung politischer Kontrolle und Legitimität angesehen werden (Shaefer et al. 2014, S. 211).
Die Bedeutung politischer Kommunikation in der Demokratie und für politische Leadership ist in der heutigen Mediendemokratie mit ihren Massenkommunikationsmitteln gar noch angewachsen (Shaefer et al. 2014). Zu den wesentlichen Aufgaben politischer Führung gehört daher neben der inhaltlichen Politik und der Mobilisierung öffentlicher Unterstützung auch die angemessene Vermittlung des eigenen politischen Programms: „Kommunikative Kompetenz“ ist zu einer zentralen Leistungsanforderung des Regierens geworden (Pfetsch 1998, S. 237).
4.2. Politische Wahlkampagnen und Referenden
Besonders wichtig ist politische Kommunikation in politischen Wahlkampagnen,[16] deren Zweck darin besteht, ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen. Nach Strom und Müller (1999) wird beispielsweise das Verhalten politischer Parteien - verstanden als rationale Akteure - in einer Wahlkampagne bestimmt durch drei Ziele: der Besetzung politischer Ämter (office-seeking), der Durchsetzung politischer Themen (policy-seeking) und beziehungsweise oder der Maximierung von Wählerstimmen (vote-seeking). In einer politischen Wahlkampagne sind mit den politischen Akteuren, den Medien und der Öffentlichkeit drei Akteurstypen beteiligt, die interagieren und sich wechselseitig beeinflussen (de Vreese u. Schuck 2014, S. 135-136).[17] Ziel der politischen Akteure ist es, Kontrolle über die beiden anderen Akteurstypen zu gewinnen, ihre Kampagnenbotschaften[18] effektiv zu platzieren und damit mediale sowie öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen (Kriesi et al. 2009, S. 345). Die politischen Akteure sehen sich dabei der zentralen Herausforderung gegenüber, dass die mediale und öffentliche Aufmerksamkeit immer nur auf eine begrenzte Zahl von politischen Aspekten und Problemen gelenkt werden kann (“struggle for attention“; Kriesi et al. 2009, S. 353).
Referenden unterscheiden sich von nationalen Wahlen sowohl im Abstimmungsgegenstand als auch in technischen Fragen, so dass sich in der Folge auch Unterschiede in der Kampagnenführung und der Wahlentscheidung ergeben (Le Duc 2002, S. 145). Bernhard (2015, S. 147; 2012) zufolge zeichnen sich Referendumskampagnen durch folgende drei Merkmale aus: Erstens beziehen sich Referenden auf themenspezifische Vorschläge, sodass auch die Kampagnen innerhalb eines „schmalen [thematischen] Korridors“ (narrow scope) stattfinden und Sachthemen gegenüber Personen dominieren. Zweitens stehen sich aufgrund der bipolaren Fragestellung zwei konkurrierende Kampagnenlager gegenüber, die den zur Wahl stehenden Vorschlag entweder befürworten oder ablehnen. Und drittens setzen sich Referendumskampagnen aus vielfältigen gesellschaftlichen Akteuren zusammen, zu denen neben Politikern und politischen Parteien häufig auch wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Interessensgruppen zählen.
Die politischen Parteien sind in Bezug auf den zur Wahl stehenden Vorschlag nicht selten uneins und zerstritten, sodass sie keine einheitlichen Botschaften formulieren und keine Wahlempfehlung geben (Le Duc 2002, S. 145). Referendumskampagnen finden wie alle politischen Kampagnen in einem bestimmten politischen Kontext statt, der sich aus dem jeweiligen institutionellen und diskursiven Umfeld, der öffentlichen Gemütslage (public mood), den Charakteristika des jeweiligen Themas und kurzfristigen Events zusammensetzt; besonders wichtig ist ferner die genaue Formulierung der Referendumsfrage. Der politische Kontext entscheidet maßgeblich über die Ressourcen der Akteure und den Erfolg der Kampagne (Kriesi et al. 2009, S. 345-346; Hobolt 2009, S. 4). Referenden aber können in besonderer Weise von anderen politischen Faktoren beeinflusst werden: Sie werden häufig als „Nebenwahlen“ (second order elections) klassifiziert, wonach die Wähler dem Referendum eine geringere Bedeutung beimessen als einer nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahl. Manche Wähler nutzen Nebenwahlen als allgemeinen Ausdruck der Zustimmung zur oder Ablehnung der aktuellen Regierung; nicht selten mutiert ein Referendum über europapolitische Fragen daher zu einer Abstimmung über nationale politische Themen (Le Duc 2002, S. 146; de Vreese u. Schuck 2014, S. 142). Insgesamt können in einem Referendum aufgrund seines spezifischen Charakters und gerade wegen der vermeintlich einfachen Ja-oder-Nein-Frage mehrere, im Vorfeld oftmals unbekannte Aspekte wahlentscheidend sein, sodass bei Referenden die Wählerschaft als volatiler und das Ergebnis als schwieriger vorauszusagen gelten als bei nationalen Wahlen (Le Duc 2002, S. 145; de Vreese u. Schuck 2014, S. 129-130).
4.3. Funktionen von Wahlkämpfen
Nach Dörner (2002, S. 24) können drei gesellschaftliche Funktionen von Wahlkämpfen unterschieden werden: Information, Identifikation und Mobilisierung. Sanders (2009, S. 163) nennt für politische Kampagnen[19] neben der Information und der damit verbundenen Möglichkeit der Wähler zur politischen Orientierung zweitens die Überzeugung der Öffentlichkeit durch die politischen Akteure und drittens eine möglichst große Mobilisierung am Wahltag. Während der Information beziehungsweise der Orientierung vor allem aus normativer Perspektive eine wichtige Rolle zukommt, da sie dem Ideal eines aufgeklärten und politisch interessierten Bürgers gerecht werden, der seine Wahlentscheidung auf der Grundlage vorangegangener Überlegungen und Abwägungen trifft, sind die Mobilisierung und die Überzeugung vom Standpunkt der politischen Akteure aus die wichtigsten Funktionen von Wahlkämpfen: Die politischen Akteure versuchen, bei den Wahlberechtigten Akzeptanz, Zustimmung und Wahlstimmen zu erlangen. Unabhängig vom konkreten, späteren politischen Ziel eines Kandidaten oder einer Partei (etwa office-seeking oder policy-seeking) besteht das primäre, übergeordnete Ziel im Wahlkampf zunächst in der Maximierung von Wahlstimmen (vote-seeking; Dörner 2002, S. 20; Pfetsch und Schmitt-Beck 1994, S. 110). Dieses Ziel versuchen Kandidaten und Parteien über kommunikative Strategien zu erreichen: “[P]olitical election campaigns are campaigns of communication.“ (Trent u. Friedenberg 2004, S. 14) Dazu müssen Kandidaten und Parteien bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen „Deutungshoheit“ über verschiedene Themen oder über ein Politikfeld, bei Referenden hingegen „Deutungshoheit“ über den gesamten Abstimmungsgegenstand erlangen (Scholten 2014, S. 229).
Die Mobilisierung als Funktion von Wahlkämpfen bezieht sich in der Regel nicht auf die gesamte Wählerschaft, sondern auf das eigene Wählerpotential. Demnach zielt die Mobilisierung darauf ab, die eigenen Anhänger und jene Personen, die einer bestimmten Partei, einem Kandidaten oder einem Politikvorhaben positiv gegenüberstehen, zur Stimmabgabe zu motivieren (Dörner 2002, S. 25). Bei der Überzeugung als Funktion geht es darum, Wähler zu einem bestimmten Votum zu motivieren. Dabei kann wiederum zwischen einer ,bekräftigender Überzeugung und einer ,umkehrenden‘ Überzeugung unterschieden werden: Während Erstere auf die anhaltende Unterstützung von Wählern abzielt, die bereits bei vergangenen Wahlen für die Partei oder den Kandidaten gestimmt haben, strebt Letztere eine Neuorientierung unentschlossener Wähler und vormaliger Wähler des gegnerischen politischen Lagers an (Schoen 2005, S. 532; Dörner 2002, S. 25).
4.4. Erfüllung der Funktionen durch Framing
Nach Gitlin (1980, S. 7) können Frames20 als “persistent patterns of cognition, interpretation, and presentation, of selection, emphasis, and exclusion“ betrachtet werden, “by which symbol- handlers routinely organize discourse [...]“. Entman (1993, S. 51-52) zufolge beleuchtet die Analyse von Frames die Art und Weise, auf welche durch den Transfer beziehungsweise die[20]
Kommunikation von Informationen Einfluss auf das menschliche Bewusstsein ausgeübt wird. Übergeordnetes Ziel des (politischen) Framings - verstanden als Prozess der Herstellung und Rezeption von Frames - ist es demnach, „bei den Adressaten persuasive[] Botschaften zu erzeugen“ (Marcinkowski 2014, S. 7-8; vgl. auch Hallahan 2011). Beim Framing geht es nach Entman (1993, S. 52) primär um die „Auswahl“ (selection) bestimmter Aspekte einer wahrgenommenen, subjektiven Realität und um das „Hervorheben“ (salience) dieser Aspekte in einem kommunikativen Akt. Dabei „propagiert“ (promote) der Sprecher eine bestimmte „Definition eines Problems“ (problem definition), er liefert eine „Ursachenzuschreibung“ (causal interpretation) und eine „moralische Bewertung“ (moral evaluation), und er gibt eine „Handlungsanweisung“ (treatment recommendation) für das identifizierte Problem (Entman 1993, S. 52). Gleichwohl ist zu beachten, dass diese vier Elemente auf idealtypische Weise einen Frame bilden; in der Praxis hingegen sind Frames meist nicht vollständig, das heißt, sie bestehen nicht aus allen vier Elementen gleichzeitig (Raupp u. Völker 2014, S. 133).[21] [22] Ferner können Frames im politischen Kommunikationsprozess neben dem politischen Akteur als „Sprecher“ (communicator) noch an drei weiteren „Stellen“ (locations) verortet werden: erstens beim Journalisten, der einerseits die Frames des Sprechers aufnimmt und verarbeitet, der andererseits aber auch eigene Frames kreiert und aussendet; zweitens beim Medieninhalt - etwa einer gesprochenen Rede oder einem geschriebenen Text -, der als Kommunikationsträger fungiert; und drittens beim „Empfänger“ (receiver), den in der Regel die vom Journalisten verarbeiteten Frames des politischen Akteurs erreichen, der hingegen nur selten mit den Frames des politischen Akteurs direkt in Kontakt kommt (Entman 1993, S. 52-53; vgl. auch Matthes u. Kohring 2004, S. 56 sowie Dahinden 2006, S. 59).
Sprecher - im hiesigen Kontext also politische Akteure - sind um ein strategisches12 Framing bemüht (Matthes u. Kohring 2004, S. 56). Durch Framing präsentieren die politischen Akteure ein Thema beziehungsweise bestimmte Aspekte eines Themas auf eine ganz bestimmte Weise und wollen diesen damit Sinn verleihen (de Vreese u. Semetko 2004, S. 92; Reese 2001, S. 7). Frames haben insofern eine Orientierungs- und Ordnungsfunktion inne, als dass sie „die öffentliche Welt zu einer konsistenten Realität werden“ lassen und einen semantischen Rahmen erzeugen, „der zur Strukturierung und Deutung der uns umgebenen Symbolwelt unabdingbar ist“ (Baringhorst 2004, S. 77).23 An dieser Stelle zeigt sich erneut die besondere Bedeutung von Sprache, wie sie nicht nur die Framing-Forschung dem politischen Kommunikationsprozess beimisst, sondern wie sie auch der Leadership-Forschung aus sozialkonstruktivistischer Perspektive zuteilwird: Nicht nur konstruiert Sprache - wie gesehen - das kollektive Verständnis sozialer Wirklichkeit; aus funktionaler Sicht ist der Gebrauch von Sprache performativ, indem er politischen Zielen dient und kollektives Handeln erzeugt (Burr 2015, S. 52-72).
Im politischen Kontext kann Framing aus dreierlei Gründen erfolgen: erstens, um die öffentliche Aufmerksamkeit für bestimmte gesellschaftliche Zustände zu steigern und diese der politischen Behandlung zu empfehlen; zweitens, um einer bestimmten Handlungsoptionen gegenüber anderen zur Umsetzung zur verhelfen; und drittens, um ein Ergebnis zu legitimieren oder zu diskreditieren (Marcinkowski 2014, S. 9). Durch Framing wird einerseits der Tatsache Rechnung getragen, dass Medien und Öffentlichkeit nur eine begrenzte Anzahl von Aspekten aufnehmen und verarbeiten können beziehungsweise wollen. Kriesi et al. (2009, S. 353) bezeichnen dies als die „Selektivität der Aufmerksamkeit“: Da die Medien einer ihr eigenen Logik und bestimmten Aufmerksamkeitsregeln folgen, müssen die politischen Akteure ihre Kommunikation zumindest in Teilen daran anpassen, um ihre öffentliche Sichtbarkeit zu erhöhen (Schulz 2014, S. 70-71). Andererseits kann Framing als die bewusste Ausübung von Macht durch politische Akteure angesehen werden, indem diese das öffentliche Verständnis von politischen Ereignissen und Zusammenhängen zu beeinflussen versuchen (Reese 2001, S. 9).
Dass Frames in der sozialen Welt im Allgemeinen und in der politischen Kommunikation im Speziellen von großer Bedeutung sind, da sie die Einstellungen und das Verhalten ihrer Zielgruppe - im politischen Kontext also der Bürger beziehungsweise Wähler - beeinflussen können, ist unumstritten (Chong u. Druckman 2007, S. 109; vgl. grundlegend die entscheidungspsychologische Arbeit von Tversky u. Kahneman 1981). Zahlreiche Experimente haben gezeigt, dass die Art der Präsentation einen Einfluss darauf hat, ob die Probanden ein risikosuchendes oder ein risikovermeidendes Verhalten wählen: Demnach hängt das Entscheidungsverhalten davon ab, ob ein Problem in einer Gewinnperspektive und mit einem positiven Frame 23 Aufgrund der subjektiven Perspektive des Sprechers auf ein Thema, die durch den Prozess des Framings ,verob- jektiviert‘ werden soll und in einer sozialen Konstruktion von Wirklichkeit mündet, bezeichnet Dahinden (2006, S. 309) Framing als „ein[en] gemäßigt konstruktivistische^] Ansatz“. oder aber in einer Verlustperspektive und mit einem negativen Frame dargestellt wird (Matthes 2007, S. 28).[23] Allerdings ist es empirisch schwierig nachzuweisen, was einen erfolgreichen Frame ausmacht, da Framing-Effekte von einem komplexen Mix aus unterschiedlichen Faktoren wie der Stärke des Frames, der Prädisposition des Empfängers - etwa hinsichtlich seiner Wertvorstellungen - und dem spezifischen Kontext des Framing-Prozesses abhängig sind (Chong u. Druckman 2007, S. 111).[24] Ferner handelt es sich bei Framing um keinen unilateralen, direkten Prozess, bei dem der Frame eines politischen Akteurs (Sprechers) unmittelbar auf den Bürger (Empfänger) einwirkt; vielmehr kann - wie erwähnt - der ursprüngliche Frame durch die Interpretation und Verarbeitung von Journalisten verändert werden, und die Reaktion von Medien und Öffentlichkeit auf einen ursprünglichen Frame kann zu dessen Überarbeitung durch den politischen Akteur führen, der dann wiederum einen neuen, veränderten Frame aussendet (Pan u. Kosicki 2001, S. 47; Scheufele 2004, S. 404-405).
Generell herrscht in der Literatur wenig Übereinstimmung in der Frage, welche Elemente einen starken Frame und damit ein gelingendes Argument ausmachen. Kriesi et al. (2009, S. 356) etwa nennen mit der Glaubwürdigkeit des Sprechers, der Übereinstimmung des Frames erstens mit zentralen kulturellen Themen und Werten der jeweiligen sozialen Gemeinschaft und zweitens mit der Alltagserfahrung der Wähler drei Voraussetzungen für einen erfolgreichen Frame. Für Matthes (2014, S. 54-56) sind neben der Glaubwürdigkeit des Sprechers seine Ressourcen (darunter vor allem der Zugang zu Massenmedien), die Konsistenz der Argumentation sowie die Wahrhaftigkeit der vom Sprecher propagierten Ursachen und Lösungen eines Problems Voraussetzungen für einen starken Frame, der dann wiederum erfolgreich die Medien-Agenda beeinflussen kann. Druckman (2010, S. 114-115) schließlich nennt als Bestandteile eines erfolgreichen Frames einen Wiedererkennungswert seitens des Empfängers durch Wiederholung, den Transport überzeugender Argumente sowie das Ansprechen von Emotionen wie Ärger oder Angst; er weist aber zugleich darauf hin, dass für die Untersuchung von Frame-Effekten nicht nur dessen konstitutive Elemente von Bedeutung sind, sondern auch die Frage, unter welchen Bedingungen ein Frame stark oder schwach sein kann (Druckman 2010, S. 114-115).
Um den Erfolg von Frames zu bestimmten, werden meist die Frames der politischen Akteure mit denen der Medienberichterstattung in einer ,Input-Output-Analyse‘ miteinander in Beziehung gesetzt: Als erfolgreich werden Frames dann bezeichnet, wenn sie nicht nur öffentliche Aufmerksamkeit für das eigene Handeln schaffen, „sondern auch Sichtweisen, Lösungen und Interpretationen in der Medienberichterstattung“ durchsetzen (Mattes 2014, S. 14). Allerdings übernehmen Journalisten die Frames der politischen Akteure in der Regel nicht ungefiltert, sondern bringen eigene Frames ein, so dass nicht selten nur eine geringe Korrespondenz zwischen den ursprünglichen Frames und den Medienframes festgestellt werden kann (Matthes 2014, S. 54). Untersuchungen zu Effekten von Frames der politischen Akteure oder der Medienframes auf individueller Ebene wiederum stellen den Empfänger von Frames (Bürger, Wähler) in ihren Mittelpunkt. Ein Großteil dieser Untersuchungen stammt folgerichtig aus der politischen Psychologie.[25]
Das Augenmerk der vorliegenden Arbeit liegt auf David Cameron als politischem, strategischem Akteur, Konstrukteur und Sender von Frames.[26] Im Vordergrund stehen dabei folgende Fragen: Welche Frames konstruierte und kommunizierte Cameron? Warum entschied er sich für eben jene Frames? Wie gestaltete sich seine Frame-Kommunikation im Kampagnenverlauf, das heißt, lassen sich veränderte Schwerpunkte oder gar Brüche in seiner Kommunikation ausfindig machen? Der Fokus der Arbeit liegt demnach auf der Identifikation von Frames, weniger auf der Untersuchung sozialer Framing-Prozesse. Dennoch soll mithilfe verschiedener Primär- und Sekundärdaten auch der Erfolg der Konstruktion und Kommunikation Camerons herausgearbeitet werden, da nur so eine Bewertung seiner kommunikativen Leadership-Leistung möglich ist.
Bei politischen Akteuren - verstanden als strategische Akteure - kann es sich etwa um politische Eliten, Parteien oder soziale Bewegungen handeln. Aus Sicht der politischen Akteure kann Framing als eine „strategische Handlung in diskursiver Form“ aufgefasst werden (Pan u. Kosi- cki 2001, S. 58), die - kurzfristig - darauf abzielt “to ‘get messages across‘ and win arguments“, während damit mittelfristig die Zahl der Unterstützer, der eigene politische Einfluss und die Siegchancen bei Abstimmungen vergrößert werden sollen (Pan u. Kosicki 2001, S. 40). In Übereinstimmung mit den drei oben genannten Funktionen von Wahlkämpfen erschöpft sich
Framing demnach nicht in der größeren Sichtbarmachung der eigenen Person und Position; politische Akteure können und wollen Framing auch dazu nutzen, um der Anhänger- und Wählerschaft Orientierung zu verleihen, sie wollen diese von ihrer Programmatik überzeugen und für politisches Handeln mobilisieren.
Hänggli und Kriesi (2010, 2012) zufolge stehen politische Akteure in ihrer Funktion als strategische Kommunikatoren in einer Kampagne mindestens vor den folgenden drei Entscheidungen[27]: Erstens müssen sie einen Frame finden und herausstellen, der ihrer Meinung nach zu einem möglichst starken, „substanziellen Frame“ (substantive frame) werden kann und auf dem ihre Kampagne in weiten Teilen fußt. Zwar können auch ein zweiter und ein dritter Frame ausgewählt werden; jedoch ist darauf zu achten, dass die eigene Kampagne und die Aufnahmekapazitäten der Medien nicht überfordert werden. Um die Durchschlagskraft und den Widererkennungswert des substanziellen Frames zu erhöhen, sollten die politischen Akteure ihrer Botschaft im Verlauf der Kampagne treu bleiben und diese permanent wiederholen (Hänggli u. Kriesi 2012, S. 261-262; vgl. auch de Vreese u. Semetko 2004, S. 11). Zweitens stellt sich für die Akteure die Frage, welche Bedeutung sie dem wichtigsten Frame oder den wichtigsten Frames ihrer Kontrahenten im Vergleich zu den eigenen Frames beimessen. Zwar kann es durchaus sinnvoll sein, die Frames des politischen Gegners zu antizipieren, aufzugreifen und bestenfalls zu entkräften. Dabei aber besteht die Gefahr, den fremden Frames zusätzliche mediale und öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, während die eigenen Frames in den Hintergrund geraten (Hänggli u. Kriesi 2012, S. 262). Drittens schließlich müssen die politischen Akteure entscheiden, welche Rolle neben den eigenen, zentralen Themen der Kampagnenwettstreit und die anderen beteiligten Akteure spielen sollen. Gerade bei Akteuren, die ihre eigenen Frames im Nachteil sehen gegenüber anderen Frames, ist zu vermuten, dass diese etwa einen vermeintlich unfairen politischen Wettbewerb oder persönliche Verfehlungen konkurrierender Akteure herausstellen (Hänggli u. Kriesi 2012, S. 262).
Abhängig davon, welche Wahl bei der Herstellung und Propagierung der Frames getroffen wird, können die politischen Akteure ihre Botschaften im strategischen Kommunikationsprozess entweder durch positive oder durch negative Anreize (appeals) an die Empfänger (Bürger, Wähler) richten, wobei beide Zugänge jeweils über den Gebrauch von Argumenten oder von Emotionen möglich sind (Kriesi et al. 2009, S. 357-358): Kommunikatoren etwa, die den eigenen Frame herausstellen, werden dies über positive Anreize tun, wobei Argumente als Unterstützung der eigenen Position dienen können. Kommunikatoren hingegen, die einen Frame des politischen Gegners oder dessen Person diskreditieren, werden auf negative Anreize und oftmals auf den Gebrauch von Emotionen zurückgreifen. Welcher Zugang wiederum von den politischen Akteuren gewählt wird, entscheidet sich maßgeblich aus ihrer strukturellen Position in der Kampagne: Befürworter des Status quo neigen zu negativen Anreizen und heben die (vermeintlichen) Gefahren und die Sinnlosigkeit einer Veränderung hervor oder betonen die Vergeblichkeit der Bemühungen (Baringhorst 2004, S. 83). Dieses Vorgehen beruht maßgeblich auf der Annahme, dass viele Wähler über risiko-averse Einstellungen verfügen und in ihrer Wahlentscheidung entsprechend den Status quo bevorzugen (Bernhard 2015, S. 150; Riker 1996, S. 49-74). Reformer können zwar auch durch negative Anreize auf die (vermeintlichen) Defizite des Status quo hinweisen. Zugleich aber müssen sie ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Wandel schaffen und mithilfe positiver Anreize überzeugend darlegen, dass ein solcher Wandel möglich ist und dass sie es sind, die die politischen Verhältnisse zum Besseren wenden können. Insgesamt also ist zu vermuten, dass in einer Referendumskampagne die Verteidiger des Status quo in höherem Ausmaße auf negative Anreize setzen als die Befürworter eines Wandels (Kriesi et al. 2009, S. 358; Bernhard 2015, S. 151).
4.5. Zusammenführung: Kommunikative Leadership
Die (politikwissenschaftliche) Leadership-Forschung ist in den vergangenen Jahrzehnten auf ein wachsendes Interesse gestoßen und hat eine Vielzahl an Zugängen und Ansätzen entwickelt. Durchaus in einem Widerspruch dazu stehen die wenigen Arbeiten, die sich bisher mit der Messung und Evaluierung von Leadership-Leistungen beschäftigt haben. Die große Fülle an Definitionen und Theorien (politischer) Leadership kommt darin überein, dass Führung nicht ohne Kommunikation möglich ist: “[Leadership is enacted through communication“, stellt Barge (1994, S. 21) fest, während Fairhurst und Sarr (1996, xiv) darauf hinweisen, dass Kommunikation in der Literatur oftmals als “the central function of leadership“ angesehen wird.
Insofern gehören ,Leadership ‘ und ,Kommunikation‘ für die meisten Beobachter untrennbar zusammen. Dennoch finden sich erstaunlich wenige Arbeiten, die den kommunikativen Aspekt von Leadership ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken, geschweige denn dieses Konzept näher bestimmen oder Kriterien für die erfolgreiche Ausübung kommunikativer Leadership entwickeln würden. Insofern möchte die vorliegende Arbeit explizit diese Perspektive einnehmen. Damit wird zum einen dem Umstand Rechnung getragen, dass sich mit den bisherigen Leadership-Ansätzen das kommunikative Werben David Camerons während der Kampagne um Zustimmung im anstehenden EU-Referendum nicht ausreichend erfassen lässt. Zum anderen verspricht nur eine solche Perspektive, nicht nur die Konstruktion und Propagierung von Deutungsmustern (frames) aufzudecken, sondern diese auch zum Gegenstand der Bewertung von Leadership zu machen.
Dafür aber muss zunächst das Konzept kommunikative Leadership‘ genauer erfasst werden. Wie ausgeführt, zielt politische Leadership auf kollektives Handeln und das Erreichen eines bestimmten politischen Ziels. Bei Leadership handelt es sich um einen interaktionalen, sozialen Prozess, bei dem die Legitimität und Akzeptanz der Ausübung von Führung einem oder wenigen Individuen einer durch bestimmte Werte oder Ziele definierten Gruppe von anderen Mitgliedern dieser Gruppe konditioniert und damit auf Zeit zugeschrieben werden. Erfolgreich ist Leadership dann, wenn das erklärte politische Ziel unter einem angemessenen Einsatz von Ressourcen und unter Berücksichtigung allgemein geteilter moralischer Maßstäbe erreicht wird. Wie ebenfalls ausgeführt, betont der kommunikative Aspekt die Bedeutung von Sprache als spezifisches Mittel zur Ausübung von Führung. Unter dem Einsatz von Sprache wählt der (potentielle) Leader bestimmte Aspekte eines Themas aus, macht diese sichtbar und verleiht ihnen Sinn. Durch die Konstruktion und Propagierung von Frames bietet er seinen (potentiellen) Anhängern seine Interpretation politischer Ereignisse an und gibt eine Handlungsempfehlung. Zusammenfassend kann kommunikative Leadership wie folgt definiert werden:
Kommunikative Leadership ist die in einer Situation des politischen Wettbewerbs mit Mitteln der verbalen Artikulation angestrebte Deutungs- und Diskurshoheit eines sozialen Akteurs A über mindestens einen weiteren sozialen Akteur B in einem spezifischen Politikfeld. Auf die Situation des Wahlkampfs als Sonderfall des politischen Wettbewerbs angewendet kann kommunikative Leadership im hiesigen Kontext als der Versuch[28] der Mobilisierung und Überzeugung der eigenen Anhängerschaft und möglichst weiter Teile der gesamten Wählerschaft mithilfe von Frames verstanden werden mit dem übergeordneten Ziel, im anstehenden EU-Referendum eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu erzielen.
5. Der Weg zum britischen EU-Referendum
5.1. Das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU
Spätestens seit dem von heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen und einer Identitätskrise der Konservativen Partei begleiteten britischen Ratifizierungsprozesses des Vertrags von Maastricht in den Jahren 1991 bis 1993, mit dem die europäische Integration durch die Gründung der Europäischen Union (EU) und die Schaffung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion erheblich voranschritt, gilt das britische Verhältnis zur Staatengemeinschaft als von Skeptizismus und Misstrauen gekennzeichnet (Geddes 2013, S. 229-240; Lynch 2009, S. 188). Bereits der britische Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1973 und später die Mitgliedschaft in der EU beruhten auf pragmatischen, in erster Linie wirtschaftlichen Erwägungen, weniger - wie etwa im Falle Deutschlands und Frankreichs - auch auf historischen, ideologischen und ideellen Beweggründen (Matthijs 2013, S. 12). Britische Politiker sehen die europäische Integration eher als ein Mittel zum Zweck (a means to an end), weniger als ein Ziel an sich (an end in itself), und sie wiedersetzten sich wiederholt Plänen zur Vollendung der europäischen Integration in Form einer Politischen Union.[29] Kein anderer EU- Mitgliedsstaat hat sich im Zuge der Reformen der europäischen Verträge so viele Sonderrechte - etwa in Form einer Reduzierung der Zahlungen zum EU-Haushalt (,Briten-Rabatt‘) - und Ausnahmeregelungen (,opt-outs‘) - zum Beispiel der dauerhafte Verzicht auf die Teilnahme sowohl an der Wirtschafts- und Währungsunion als auch am Schengener Abkommen zur Abschaffung nationaler Grenzkontrollen - gesichert wie das Vereinigte Königreich, so dass dieses durchaus als der privilegierteste unter den Mitgliedsstaaten gelten kann (Copsey u. Haughton 2014, S. 75-76).
Maßgeblich zum weit verbreiteten britischen Euroskeptizismus[30] beigetragen haben die Printmedien, von denen ein Großteil - darunter ausnahmslos die Boulevardpresse (tabloids) - seit dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einen Wandel hinsichtlich ihrer Einstellung gegenüber der europäischen Integration vollzogen hat, den Oliver Daddow (2012, S. 1219) als den Übergang von einem „permissiven Konsens“ (permissive consensus) zu einem „destruktiven Dissens“ (destructive dissent) bezeichnet hat: Während die britischen Printmedien in den 1980er Jahren das europäische Binnenmarktprogramm noch überwiegend befürworteten, gingen sie ab den 1990er Jahren über zu einer offenen Feindseligkeit gegenüber der neu gegründeten EU, die sie zu einem Angriff auf die britische Souveränität und Identität stilisierten und der sie die Legitimation für die Verabschiedung von Verträgen und Gesetzen absprachen (Startin 2015, S. 313).32 Während Daddow (2012, S. 1220-1236) die Gründe für den medialen Euroskeptizismus im „Murdoch-Effekt“33, im auf starken Wettbewerb hin ausgerichteten britischen Mediensystem und in der damit verbundenen Sensationalisierung und Skanda- lisierung von EU-Themen sieht, seien britische Spitzenpolitiker aufgrund des befürchteten, negativen Medienechos teils nicht willens, teils nicht in der Lage gewesen, pro-europäische Argumente, geschweige denn ein konsistentes, pro-europäisches Narrativ zu kreieren (Geddes 2013, S. 36). So habe sich auch ein eigentlich pro-europäischer Premierminister wie Tony Blair (1997-2007) in einem euroskeptischen „discursive environment“ bewegen müssen, welches ihm wenig Spielraum für eine konstruktive britische Europapolitik ließ (Daddow 2013, S. 219). Eine weitere Folge dieses vor allem von der Boulevardpresse forcierten Euroskeptizismus sei, dass emotionale Argumente, die nationale Themen wie Souveränität und Identität in eine direkte Verbindung setzen zu EU-Prinzipien wie der Personenfreizügigkeit, die britische europapolitische Debatte zunehmend dominierten, während die Fähigkeit der Bevölkerung zur rationalen Abwägung der Vor- und Nachteile einer britischen EU-Mitgliedschaft geschwunden sei. Umgekehrt sei es den politischen Eliten der beiden großen Parteien in den vergangenen Jahren nicht gelungen, dem wirtschaftlichen Argument für einen Verbleib in der EU ein emotionales hinzuzufügen (Startin 2015, S. 320-321).
32 Während im Vorfeld des ersten britischen EU [damals EWG]-Referendums 1975 die gesamte britische Tagespresse - mit Ausnahme des kommunistischen Morning Star - die Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft befürwortete (Baimbridge 2007), sprachen sich 2016 sechs von neun nationalen Tageszeitungen für einen EU- Austritt aus. Eine diesbezügliche Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 41 Prozent der Beiträge, die sich mit dem EU-Referendum befassten, einen EU-Austritt bevorzugten, während sich 27 Prozent der Beiträge für einen EUVerbleib aussprachen (Levy et al. 2016).
33 Als Murdoch-Effekt bezeichnet Daddow (2012, S. 1235) zum einen neben dem negativen Inhalt auch die destruktive „Art und Weise“ (style), mit dem die Tageszeitungen des australischen Medienmoguls Rupert Murdoch über die EU berichteten, was zu einem tiefsitzenden Misstrauen in der britischen Bevölkerung gegenüber der Brüsseler Politik geführt habe. Zum anderen beschreibt er damit das Agieren britischer Spitzenpolitiker, die einen inoffiziellen „Deal“ mit Murdoch geschlossen hätten und keine pro-europäischen Initiativen ergreifen würden, um nicht bei Murdoch und seinen Tageszeitungen (darunter v.a. The Times, The Sunday Times, The Sun und The Sun on Sunday) in Ungnade zu fallen. In der Folge sei in den 1990er Jahren der vormals pro-europäische britische politische Diskurs mehr und mehr vom intellektuellen Mainstream in eine Minderheitenposition übergegangen (Daddow 2012, S. 1236).
Die seit 2009 andauernde Finanz- und Wirtschaftskrise in der Eurozone verschärfte das angespannte britische Verhältnis zur EU weiter. Zwar begrüßte die Koalitionsregierung aus Konservativer Partei und Liberaldemokraten unter Premierminister David Cameron (2010-2015) die meisten der von den Eurozonenstaaten oder der EU als Ganzer ergriffenen Maßnahmen zur Beilegung der Krise, die vor allem eine engere wirtschaftspolitische Koordinierung und eine verschärfte Haushaltsdisziplin der nationalen Regierungen vorsahen; zugleich aber war die britische Regierung nicht willens, sich selbst an den verschiedenen Hilfszahlungen und den neu geschaffenen Institutionen zu beteiligen. Vor allem stand sie den damit verbundenen Integrationsschritten innerhalb von EU und Eurozone kritisch bis ablehnend gegenüber, da sie etwa in Letzterer die Gefahr negativer externer Effekte auf EU-Staaten außerhalb der Eurozone sah (Lynch 2015a, S. 246-247; Gamble 2012, S. 471). Als Cameron beispielsweise im Dezember 2011 in den Verhandlungen zum europäischen Fiskalpakt mit seinen Forderungen nach besonderen Schutzgarantien für den Binnenmarkt und insbesondere für Finanzdienstleistungen am Standort London gescheitert war und in der Folge sein Veto gegen eine entsprechende Änderung der europäischen Verträge einlegte, wurde er von Euroskeptikern in der eigenen Partei und der heimischen Presse bejubelt, während 25 der damals 27 EU-Mitgliedsstaaten trotz des britischen Vetos einen völkerrechtlichen Vertrag schlossen und somit die finanz- und wirtschaftspolitische Integration in EU und Eurozone vorantrieben (Lynch 2015a, S. 247; Geddes 2013, S. 250-251). Während die weltweite Finanzkrise des Jahres 2008, die auch das Vereinigte Königreich traf und dort zu einem Anstieg von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung führte, das Vertrauen weiter Teile der britischen Bevölkerung in die Problemlösungskompetenz ihrer politischen Eliten erschüttert hat, hat die wesentlich länger andauernde Krise in der Eurozone die britische Skepsis gegenüber der EU als vermeintlicher wirtschaftlicher Erfolgsgeschichte ansteigen lassen.
Schließlich muss die internationale Flüchtlingskrise, die Europa und die EU im Sommer 2015 in bisher nicht gekanntem Ausmaße erreichte, im Kontext des EU-Referendums Erwähnung finden. Während die Flüchtlingskrise bei der Ankündigung eines solchen Referendums im Januar 2013 und auch in den anschließenden, ersten Reden und Dokumenten, in denen Cameron seine Vorstellungen und Forderungen für eine Neuverhandlung der britischen EU-Mitglied- schaft auflistete, noch keine Rolle spielte, so trat diese im Verlauf der Verhandlungen und insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 2015 immer stärker in den Fokus. Auch wenn das Vereinigte Königreich gemessen an den aufgenommenen Flüchtlingen selbst kaum von der Krise getroffen war, so stieß der Umgang der EU mit der Flüchtlingskrise in der dortigen Politik und in den Medien auf zum Teil scharfe Kritik.
[...]
[1] David Cameron, ehem. brit. Premierminister (zitiert nach Oliver 2016, S. 365)
[2] Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident (zitiert nach Gibbon 2016, S. 21)
[3] Für einen Überblick über die Disziplinen, die einen Beitrag zum Phänomen Leadership geleistet haben und leisten, vgl. u.a. Kellerman 1986.
[4] Im deutschsprachigen Raum sind die Begriffe politische Führung‘ und insbesondere politischer Führer‘ aufgrund der Erfahrung des Nationalsozialismus diskreditiert, weshalb in der deutschsprachigen Forschung oft die englischen Begriffe political leadership‘ und political leader‘ gebraucht werden. Die vorliegende Arbeit verwendet die Begriffe ,Führung‘ und ,Leadership‘ synonym, verzichtet hingegen auf den Begriff ,Führer‘ zugunsten von ,Leader‘.
[5] Robert Elgie (1995, S. 2) beschreibt Leadership als “the unidentifiable in pursuit of the indefinable“, während Ludger Helms (2000, S. 428) feststellt: „Eine kohärente empirische Theorie politischer Führung, die auch nur annähernd alle möglichen intervenierenden Variablen berücksichtigen könnte, muss unerreichbar bleiben.“
[6] Hinzu kommen für den politischen Leader meist Aufgaben der eigenen Führungs- und Herrschaftssicherung, die hier und im Folgenden allerdings nicht von Interesse sind und daher keine Berücksichtigung finden.
[7] Deutlich wird dies in der wachsenden Anzahl an Büchern und Fachartikeln, die sich mit dem Gegenstand auseinandersetzen, ebenso wie in der Gründung entsprechender Fachzeitschriften und Forschungszentren an Universitäten (Peele 2005, S. 187).
[8] Hier sei nur am Rande darauf aufmerksam gemacht, dass die erhöhten Kompetenzen, Ressourcen und Sichtbarkeit keineswegs zwangsläufig die Gestaltungsmacht für politische Leader erhöhen. Ebenso plausibel ist die These, dass die wachsende Anzahl und Komplexität der zu treffenden Entscheidungen, der enorme Zeitdruck sowie die gestiegene medial-öffentliche Wahrnehmung Restriktionen für die politischen Leader darstellen und deren Fehleranfälligkeit sowie das damit verbundene Enttäuschungspotential erhöhen.
[9] Diese Debatte innerhalb der normativen Ansätze hat zur Schöpfung eines eigenen Konzepts, der „leader democracy“, geführt (Pakulski u. Körösényi 2012).
[10] Ludger Helms (2005) etwa vergleicht die unterschiedlichen konstitutionellen, politischen und historischen Voraussetzungen zur Ausübung politischer Leadership in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland im zeitlichen Verlauf. Dabei stellt er u.a. für die parlamentarischen Regierungssysteme Großbritannien und Deutschland eine Aufwertung der Exekutive fest, die zum einen am Ausbau der verfassungsrechtlichen Kompetenzen und personellen wie finanziellen Ressourcen der Regierungschefs, zum anderen am veränderten Selbstverständnis der Regierungschefs zu erkennen sei (Helms 2005, S. 254).
[11] Die (veränderten) Führungspotentiale und -probleme des deutschen Bundeskanzlers diskutiert u.a. Gast (2011).
[12] Die Studie von James D. Barber (1992 [1977]) über US-amerikanische Präsidenten gilt als Pionierarbeit in diesem Forschungsbereich. Barber geht davon aus, dass der spezifische Führungsstil eines Präsidenten von dessen Charaktertyp und biographischem Hintergrund abhängt (vgl. dazu auch Elcock 2001, S. 57-59).
[13] Grundlegend für das interaktionistische Verständnis politischer Führung bleibt eine frühere Formulierung Robert Elgies (1995, S. 23): “Political leadership is the product of the interaction between leaders and the leadership environment with which they are faced [...]. Leaders are able to shape their environment, but the environment will also shape their ambitions and behavior.”
[14] Die Auffassung, wonach politische Leader erst durch das (imaginäre) Einverständnis der Follower zu politischen Leadern werden, bringt Barbara Kellerman (2004, S. XIV) pointiert auf den Punkt: “[T]here is no leadership without followership.“
[15] Narrative werden hier in Anlehnung an Grint (2014, S. 242) verstanden als eine Abfolge von Ereignissen, die von einem Sprecher in einen bestimmten kausalen Zusammenhang gestellt werden (vgl. auch Gabriel 2004).
[16] Referenden und Referendumskampagnen stehen hier stellvertretend für alle Formen direktdemokratischer Abstimmung und der ihnen vorgelagerten Kampagnen.
[17] Der Fokus hier wie in der gesamten Arbeit liegt auf den politischen Akteuren und ihrer Kommunikation. Für die Rolle der Medien in dieser Dreiecksbeziehung und ihren Einfluss auf politische Kampagnen und den Wahlausgang, etwa durch mediales Agenda-Setting, siehe u.a. de Vreese und Semetko (2004, S. 107-119); für die Rolle der Öffentlichkeit beziehungsweise der Wähler, ihrer Meinungsfindung und den Kampagneneffekten, siehe u.a. Zaller (1992, S. 40-52).
[18] Nach Lilleker (2006, S. 123) fungieren „Kampagnenbotschaften“ (messages) als “heuristic shortcuts“, indem sie die „Informationslücke“ (information gap), die zwischen der in weiten Teilen politisch wenig interessierten Wählerschaft und der meist umfangreichen Programmatik der politischen Akteure besteht, verkleinern helfen. Um öffentliche Wirkung entfalten zu können, müssen die angesprochenen Wähler die Botschaften leicht erinnern und diese als glaubwürdig ansehen. Die Glaubwürdigkeit der Botschaft wiederum resultiert zum Teil aus der Glaubwürdigkeit ihrer Quelle beziehungsweise ihres Absenders (Lilleker 2006, S. 125). In einer politischen Kampagne sind demnach sowohl die Botschaft (message) als auch der Absender der Botschaft (messenger) wichtige Faktoren. Es kann argumentiert werden, dass der Absender desto wichtiger für den Kampagnenerfolg wird, je unpopulärer das ,zu verkaufende Produkt‘ (Gesetzgebungsvorhaben, Wahlprogramm oder aber - wie im vorliegenden Fall - die EU) ist.
[19] Wahlkämpfe werden hier als eine besondere Form politischer Kampagnen verstanden. Wahlkämpfe in Referenden wiederum lassen sich von ,regulären‘ Wahlkämpfen in repräsentativen Demokratien unterscheiden.
[20] Im empirischen Teil der Arbeit wird die kommunikative Leadership David Camerons durch eine Frame-Analyse untersucht. Dann werden die Stärken des Fram/'ng-Konzepts, das methodologische Vorgehen sowie das Erkenntnisinteresse genauer herausgearbeitet und dargestellt.
[21] Matthes (2007, S. 138) spricht von einem expliziten Frame, wenn alle vier Frame-Elemente vorhanden ist. Ein impliziter Frame liegt vor, wenn nicht alle, aber mindestens zwei Frame-Elemente genannt werden. Die anderen Frame-Elemente werden in diesem Fall nur impliziert, etwa, weil ein expliziter Frame schon zu einem früheren Zeitpunkt aufgetaucht ist oder weil sich einzelne Frame-Elemente vermeintlich automatisch ergeben.
[22] Strategie soll fortan verstanden werden als Relation aus Zielen, Mitteln und einer Situation, bei der sich ein strategisch Handelnder angesichts vorgegebener Ziele für die Auswahl von Mitteln entscheidet, die ihm in seiner spezifischen Situation zur Verfügung stehen und mit denen er gedenkt, seine Ziele am besten erreichen zu können. Strategische Kommunikation meint dann jene Kommunikation in einem Wahlkampf beziehungsweise einer Referendumskampagne, bei der sich der politische Akteur als Wahlkämpfer und strategisch Handelnder in einer gegebenen Situation (Umfeld, Kontext, politische Kultur und Ähnliches) für bestimmte kommunikative Mittel (hier verstanden als die Konstruktion und Propagierung von Frames) entscheidet, um sein Ziel (letztlich die Maximierung von Stimmen, in einem ersten Schritt aber - wie gesehen - die Mobilisierung und Überzeugung von Wählern) zu erreichen. Vgl. für eine ähnliche Herleitung und Konzeption von Strategie und strategischer Kommunikation Roock (2011, S. 33-38).
[23] Druckman (2010, S. 102) beispielsweise referiert folgendes Experiment: Die fremdenfeindliche Gruppierung des Ku Klux Klans klagt auf ihr Recht auf Demonstration. Die Meinung von Untersuchungsteilnehmern über die Legitimität dieser Klage variiert je nachdem, ob diese zuvor mit einem Frame konfrontiert wurden, der das Recht auf freie Meinungsäußerung betonte oder auf Gefahren für die öffentliche Sicherheit hinwies.
[24] Auf individueller Ebene entscheiden nach Chong und Druckman (2007, S. 111) die kognitive „Verfügbarkeit“ eines Gedächtnisinhaltes (availability), seine „Zugänglichkeit“ (accessibility) und seine „Anwendbarkeit“ (applicability) auf ein Objekt darüber, ob ein kommunizierter Frame seine Wirkung entfalten kann. Zum wirkungszentrierten Framing-Ansatz, vgl. grundlegend Scheufele 2003, S. 60-83.
[25] Vgl. dazu grundlegend Druckman (2011, S. 282-283), der zwischen “frames in communication“ - der verbalen oder nonverbalen Betonung bestimmter Informationen durch einen Sprecher -, “frames in though“ - der mentalen Disposition eines Empfängers aufgrund von Voreinstellungen und Erfahrungen - sowie “framing effects“ unterscheidet, wenn “a frame in communication affects an individual’s frame in thought“.
[26] In der wissenschaftlichen Literatur sind Arbeiten, deren Interesse dem strategischen Framing von Kommunikatoren gilt, gegenüber Arbeiten, die sich Frames in Medientexten und der Wirkung von Frames widmen, in der Minderheit (Matthes 2007, S. 33).
[27] Die Untersuchungen von Hänggli und Kriesi (2010, 2012) beziehen sich auf zwei Kampagnen im Vorfeld einer Volksabstimmung in der Schweiz. Direktdemokratische Wahlen ebenso wie ihre Kampagnen unterscheiden sich grundlegend von repräsentativ-demokratischen Wahlen, vor allem was den Abstimmungsgegenstand und die beteiligten Akteure angeht. Auch ist der jeweilige zeitliche und kulturelle Kontext einer Wahl und ihrer Kampagne verschieden. Die Erkenntnisse von Hänggli und Kriesi (2010, 2012) können somit nicht verallgemeinert werden, sie dienen jedoch als wichtige Anhaltspunkte für das hier verfolgte Forschungsinteresse.
[28] An dieser Formulierung wird deutlich, dass es sich bei der hier vorgeschlagenen Definition auch dann um Leadership handelt, wenn das gegebene Ziel nicht erreicht wird. Da es sich bei Leadership ihrem Wesen nach um einen Prozess handelt, wird das Streben nach einem Ziel, nicht zwangsläufig dessen Erreichen erfasst. Der Terminus ,Leadership‘ per se impliziert daher noch keine Evaluierung, weshalb mit Blick auf das Erreichen oder Nicht- Erreichen eines Ziels von erfolgreicher, teilweise erfolgreicher oder gescheiterter Leadership gesprochen werden muss.
[29] Vgl. für diese pragmatische Sicht auf die EU exemplarisch die EU-Rede David Camerons bei Bloomberg in London vom 23. Januar 2013 (Cameron 2013) sowie seine Europa-Rede bei Chatham House in London vom 10. November 2015 (Cameron 2015a).
[30] Laut Eurobarometer zählt die britische Bevölkerung im Vergleich zu den Bevölkerungen der anderen EU-Mit- gliedsstaaten über Jahrzehnte hinweg zu den EU-kritischsten (zitiert nach Hobolt 2016, S. 1-2). Zudem zeigen Umfragedaten, dass die Briten weniger Wissen über und weniger Vertrauen in die EU haben, die EU aber gleichzeitig häufiger als eine Bedrohung für die eigene nationale Identität ansehen als die Bürger in den meisten der anderen Mitgliedsstaaten (Geddes 2013, S. 6).
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