Die Determination der sozialen Ungleichheit durch die Gesellschaft bei Pierre Bourdieu


Hausarbeit, 2010

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhalt:

1 Einleitung

2 Die Determination der sozialen Ungleichheit durch die Gesellschaft
2.1 Soziale Ungleichheit durch Kapitalmonopole – Bourdieus Kapitalbegriff
2.2 Soziale Ungleichheit durch Klassenprägung – Bourdieus Habitusbegriff
2.3 Soziale Ungleichheit – Ein Beispiel

3 Fazit

4 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In der Erziehungswissenschaft spielt die Frage nach den Faktoren, die die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft ermöglichen eine zentrale Rolle (vgl. Büchner 2003). Welche Faktoren gibt es? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen dem System Gesellschaft und der Produktion bzw. Reproduktion sozialer Ungleichheit? Wie kann soziale Ungleichheit bekämpft werden? Um Antworten auf diese Fragen und Ansatzpunkte für ihre Lösung finden zu können, untersuchte der Soziologe Pierre Bourdieu die Beziehung zwischen der Gesellschaft und der sozialen Ungleichheit am Beispiel der französischen Gesellschaft der 60er bzw. 80er Jahre.

In dieser Arbeit wird ein kleiner Abriss von Bourdieus Arbeiten zum Thema „Gesellschaft und soziale Ungleichheit“ vorgestellt. Diese sollen zusätzlich anhand von aktuellen Forschungsergebnissen illustriert und ggf. kontrastiert werden.

In einem ersten Textabschnitt wird in einer kurzen Zusammenfassung der Text „Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital“ von Pierre Bourdieu erläutert. Der Wissenschaftler skizziert hier anhand eines von ihm entwickelten Kapitalmodells die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung und nennt Kriterien, die innerhalb der Gesellschaft für ein Wachstum von sozialer Ungleichheit sorgen. Ein zweiter Abschnitt geht auf das von Bourdieu entwickelte Habitus-Prinzip ein. Vergesellschaftung sei, so Bourdieu, immer auch Habitualisierung (vgl. Zimmermann 1983). Demzufolge ist auch der Habitus eine Kategorie, die in der Lage ist, die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit zu beschreiben. In einem dritten Teil wird abschließend ein konkreter Blick auf die Situation im französischen Bildungssystem der 60er Jahre geworfen. Anhand des Textes „Bildungsprivileg und Bildungschancen an der Hochschule“ von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron sollen dabei die Theorien Bourdieus nochmals exemplarisch angewendet werden. Die beiden Soziologen analysieren hier das Hochschulwesen Frankreichs im Hinblick auf seine soziale Unausgewogenheit, die vor allem zu Lasten der Studenten gehe, die aus einer sozialschwachen Familie stammen. Schlussendlich soll im folgenden Fazit aufgezeigt werden, welche Zusammenhänge zwischen der Struktur einer Gesellschaft und der Produktion wie Reproduktion sozialer Ungleichheit bestehen und wie diese aufeinander wirken.

2 Die Determination der sozialen Ungleichheit durch die Gesellschaft

2.1 Soziale Ungleichheit durch Kapitalmonopole – Bourdieus Kapitalbegriff

Pierre Bourdieu gilt als einer der meistrezipierten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Seine Texte sind sowohl für die Soziologie als auch für die Erziehungswissenschaft grundlegend geworden und thematisieren u.a. die Frage wie gesellschaftliche Machtverhältnisse entstehen und wie diese innerhalb der Gesellschaft reproduziert werden. In seinem Text „Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital“, der 1992 verfasst wurde, versucht der Soziologe darüber hinaus, über die von ihm entwickelte Untersuchungskategorie des Kapitals, die Entstehung gesellschaftlicher Schichtsysteme zu erörtern und eine Verbindung zwischen gesellschaftlicher Struktur und der Produktion und Reproduktion von sozialer Ungleichheit herzustellen.

Der Kapitalbegriff sei im Besonderen für eine derartige Betrachtung geeignet, da er verdeutliche, dass das System Gesellschaft, nicht auf eine „Aneinanderreihung von kurzlebigen und mechanischen Gleichgewichtszuständen reduziert werden [könne]“ (Bourdieu 1992: S. 217). Zudem könnten die Menschen in diesem System nicht als „austauschbar[e] Teilchen“ (ebd.) verstanden werden, da sie, durch das ihnen zur Verfügung stehende Kapital, individuell geprägt seien. Gesellschaftliches Leben sei demnach eben kein „[Glücksspiel] […], [bei dem] jederzeit eine Überraschung möglich ist“ (ebd.) Hier lässt sich also bereits erkennen, dass Bourdieu einer Welt von „vollkommener Konkurrenz und Chancengleichheit“ (ebd.) klar widerspricht. Dieses Bild sei illusionistisch und verhindere einen kritischen Blick auf die Verteilung des Kapitals innerhalb der Gesellschaft. Es wirke sich zum einen regulierend aus, da es dafür sorge, „daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist“ (ebd.). Zum anderen besitze es jedoch auch einen determinierenden Charakter, da die Kapitalverteilung in der Gesellschaft immer auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Zwänge sei.

Um die verschiedenen Merkmale und Wirkungen des Kapitals im Einzelnen aufzeigen zu können, unternimmt Bourdieu im Folgenden eine Teilung seines Kapitalbegriffes in drei verschiedene Unterarten: das „ökonomische“, das „kulturelle“ und das „soziale Kapital“ (Bourdieu 1992: S. 218). Als ökonomisches Kapital versteht der Soziologe diejenige Kapitalart, die „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar [ist]“ (ebd.) Das kulturelle Kapital müsse für eine genauere Analyse noch weiter ausdifferenziert werden. Daher weist Bourdieu ihm drei unterschiedliche Erscheinungsformen zu: den „ inkorporiert[en] Zustand “, den „ objektiviert[en] Zustand “ und zuletzt den „ institutionalisiert[en] Zustand “ (ebd.). Die erste Ausprägung des kulturellen Kapitals, das inkorporierte Kulturkapital, umfasse die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich ein Mensch im Laufe seines Lebens aneignet. Die Existenz einer derartigen Form von Kapital leitet der Autor hierbei von der Tatsache ab, dass kulturelles Kapital in den meisten Fällen „ körpergebunden “ (Bourdieu 1992: S. 219) sei. Hauptsächlich liege diese Ausprägung in der Form menschlicher Bildung vor, die über einen gewissen zeitlichen Rahmen erworben werde. Die Zeit lasse sich hierbei, ebenso wie die zahlreichen sozialen Entbehrungen (z.B. Verzicht auf das Treffen mit Freunden), als die persönliche Investition beschreiben, die jedes Individuum leisten müsse, um sein kulturelles Kapital bzw. seinen Bildungshorizont zu erweitern. Einfluss auf den entsprechenden Bildungsprozess hätten - so Bourdieu – jedoch nicht nur die Art und Dauer des Schulbesuches, sondern vor allem auch der soziale Hintergrund, sowie die Erziehung durch die Familie:

Auch die Primärerziehung in der Familie muß in Rechnung gestellt werden, und zwar je nach dem Abstand zu den Erfordernissen des schulischen Marktes als entweder positiver Wert, als gewonnene Zeit und Vorsprung, oder als negativer Faktor, als doppelt verlorene Zeit, weil zur Korrektur der negativen Folgen nochmals Zeit eingesetzt werden muß. (ebd.)

Das ausgewählte Zitat verdeutlicht hierbei, dass eine eindeutige Verbindung zwischen der sozialen Herkunft eines Menschen und seinem Bildungserfolg besteht. Familien mit einem geringerem Bildungsniveau, und somit geringerem, kulturellen Kapital, könnten ihre Kinder durch die familiäre Erziehung auch nur in einem geringeren Maß auf die schulischen Anforderungen vorbereiten, als es bei Familien mit einem hohen Bildungsniveau der Fall ist. Bourdieu stellt demzufolge fest, dass sich „die Inkorporierung von kulturellem Kapital […] je nach […] Gesellschaft und sozialer Klasse […] ohne ausdrücklich geplante Erziehungsmaßnahmen, also völlig unbewusst vollzieh[t]“ (Bourdieu 1992: S. 220).

Der Fakt, dass inkorporiertes Kulturkapital „auf vielfältige Weise mit der Person in ihrer biologischen Einzigartigkeit verbunden [ist]“ (ebd.), impliziere außerdem, dass es nicht über den Tod des Trägers hinaus existieren könne:

Es vergeht und stirbt, wie sein Träger stirbt und sein Gedächtnis, seine biologischen Fähigkeiten usw. verliert (ebd.).

Eine weitere Eigenschaft des inkorporierten Kulturkapitals sei auch, dass es in der Realität sehr oft nicht als Kapitalform identifiziert werde, da es sich nicht in materiellem Besitz, sondern in Fähigkeiten und Fertigkeiten äußere. Seltene Kapitalformen bzw. selten Fähigkeiten besäßen dabei einen besonders hohen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft. Diese könnten daher von ihren Trägern zur eigenen Profitsteigerung genutzt werden. Möglich sei dies, so Bourdieu, aber nur, da der „ Seltenheitswert “ (Bourdieu 1992: S. 221) bestimmter

Fähigkeiten durch die Gesellschaft gefördert, zementiert und reproduziert werde, wodurch bestimmten Gesellschaftsschichten deren Erwerb bewusst verwehrt bleibe:

[…] derjenige Teil des Profits, der in unserer Gesellschaft aus dem Seltenheitswert bestimmter Formen von kulturellem Kapital erwächst, ist letzten Endes darauf zurückzuführen, daß nicht alle Individuen über die ökonomischen und kulturellen Mittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, die Bildung ihrer Kinder über das Minimum hinaus zu verlängern […] Die ungleiche Verteilung von Kapital […] bildet somit die Grundlage für die spezifische Wirkung von Kapital (ebd.).

Dies sei folglich eine verschleierte Produktion, sowie Reproduktion sozialer Ungleichheit. Beispielhaft hierfür könne die Position eines lesefähigen Menschen gesehen werden, der ausschließlich von Analphabeten umgeben sei. Bourdieu folgert hieraus, dass sich die Gesellschaft auf einem Ungleichgewicht verschiedenster Kapitalarten begründe, die es Menschen erlaube, ihre „Spielregeln“ (ebd.) für das gesellschaftliche Zusammenleben nach ihrem Interesse festzulegen und somit eine Reproduktion und ggf. Vermehrung ihres eigenen Kapitals zu ermöglichen. Als Beispiel könne dabei die Beziehung zwischen dem Erwerb von Kulturkapital und der zeitlichen Investition gesehen werden. Hier zeige sich deutlich, dass diejenigen Eltern, die ökonomisch unabhängig seien, mehr Zeit in die Erziehung ihrer Zöglinge investieren könnten und somit auch besser in der Lage seien, ihr Kulturkapital an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Hieraus ergebe sich zwangsweise ein Teufelskreis, da „der Prozeß der Aneignung von […] kulturellem Kapital bekanntlich in erster Linie von dem in der gesamten Familie verkörperten kulturellen Kapital abhängig [ist]“ (ebd.). Wenn eine Familie demnach nur ein geringes Maß an kulturellem Kapital besitzt und zudem noch ökonomisch abhängig ist, sei davon auszugehen, dass auch die nächste Generation durch einen Mangel an kulturellem, wie ökonomischen Kapital geprägt sei (vgl. Bourdieu 1992: S. 222).

Ähnliches gelte auch für die zweite Ausprägung des Kulturkapitals. In objektivierter Form, bezeichne es die Ergebnisse, die der Mensch durch die Anwendung seines inkorporierten Kulturkapitals erschaffen könne. Dies sei z.B. bei Gemälden oder Maschinen der Fall. Auch hier gelte, wie beim inkorporierten Kulturkapital, dass diejenige Familie mit einem großen ökonomischen Kapital besser in Kulturgüter investieren könne. Sie sei in der Lage der nachkommenden Generation eine breitere Masse an Literatur, Kunst, etc. anzubieten, als es bei einer Familie mit nur geringem Einkommen der Fall ist. Zudem besitze die erstgenannte Gruppe dadurch einen Vorteil, dass sie „über kulturelle Fähigkeiten [verfügt], die den Genuss eines Gemäldes oder den Gebrauch einer Maschine erst ermöglichen“ (ebd.). Diese könnten dann an die nachfolgende Generation weitergegeben werden.

Die dritte und letzte Form, das institutionalisierte Kulturkapital, realisiere sich vor allem in der Vergabe von Titeln, welche überwiegend von staatlichen Institutionen vergeben würden (z.B. Dr. oder das Abitur). Diese Kapitalart kennzeichne sich dadurch aus, dass sie, im Gegensatz zu den anderen Formen des Kulturkapitals, dessen Vorhandensein immer wieder unter Beweis gestellt werden müsse, dauerhaft an den Träger gebunden sei und von diesem formell unabhängig existiere. So sei bspw. der „schulische Titel […] ein Zeugnis für kulturelle Kompetenz“ (ebd.). Zudem konserviere die Gesellschaft durch Titelvergabe einen zu einem bestimmten Zeitpunkt inkorporierten Kapitalzustand dauerhaft, auch wenn dieser zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht gar nicht mehr vorhanden sei:

Die Alchimie des gesellschaftlichen Lebens hat [aus dem schulischen Titel] eine Form von kulturellem Kapital geschaffen, dessen Geltung nicht nur relativ unabhängig von der Person seines Trägers ist, sondern auch von dem kulturellen Kapital, das dieser tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt besitzt (Bourdieu 1992: S. 222-223).

Schlussendlich spricht Bourdieu daher auch von einer „institutionalisierten Macht“, welche von dem institutionalisierten Kulturkapital ausgehe, da es Menschen „[dazu] veranlass[e], […] etwas anzuerkennen “ (Bourdieu 1992: S. 223), selbst wenn die Kompetenz des betitelten Menschen von einem Dritten nicht überprüfbar sei. Einen weiteren kritischen Aspekt der Gesellschaft sieht Bourdieu auch darin, dass das institutionalisierte Kulturkapital immer auch eine direkte Umwandlung ökonomischen Kapitals sei. Dies verdeutliche sich daran, dass Titel stets eine Investition einer bestimmten Geldmenge bedeuteten, aber auch immer mit einem erhöhten Maß an Profitzuwachs verbunden seien. Dieser „Wechselkurs“ sei jedoch nicht absolut, da eine entsprechende Investition nicht immer auch dasselbe Maß an Gewinn nach sich ziehe (Bourdieu nennt hierfür als Hauptgrund das Problem der „Bildungsexplosion und […] Titelinflation“ (ebd.)). Negativ sei hieran vor allem der Fakt, dass selbst geringe Unterschiede in der Leistung „dauerhafte, brutale Diskontinuitäten produzier[en] “ (ebd.). Bourdieu stellt somit fest, dass auch der Prozess der Titelvergabe, wie er in der Gesellschaft anerkannt und durchgeführt wird, zu einer Schieflage zwischen realem Leistungsvermögen und gesellschaftlichem Stand führt. Noch deutlicher sei dies zu erkennen, betrachte man das Prinzip der „ Nachfolge “ (ebd.): Titel wie z.B. ein Adelstitel könnten auch ohne realen Gegenwert an die nachfolgende Generation weitergegeben werden. Dieser Fakt verdeutliche, dass sich die Vergabe von Titeln ebenfalls als Antrieb einer kontinuierlichen Produktion und Reproduktion von sozialer Ungleichheit beschreiben lässt.

In einem nächsten Schritt wendet sich Bourdieu nun von der Betrachtung des kulturellen Kapitals ab und richtet sein Augenmerk auf die dritte Kapitalform, das soziale Kapital. Dieses lasse sich, so der Soziologe, auch als „[Netz] von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen “ (Bourdieu 1992: S. 224) verstehen und definiere den einzelnen Menschen, indem sie ihn einer sozialen Gruppe zuweise. Als Beispiele für das Erlangen sozialen Kapitals nennt Bourdieu u.a. den Eintritt in eine Partei oder die Zugehörigkeit zu einer angesehenen Familie. Beziehungen könnten allerdings nur dann entstehen und als soziales Kapital längerfristig gehalten werden, wenn sie auf der Grundlage eines ständigen Tausches (d.h. Beziehungen werden aufgebaut über bestimmte Gegenleistungen wie z.B. Blumen oder Geldgeschenke) und auf umfangreiche Zeitinvestitionen basierten. Bourdieu bezeichnet dies als „ Beziehungsarbeit “ (Bourdieu 1992: S. 226).

Der Umfang des sozialen Kapitals lasse sich über zwei verschiedene Faktoren ermitteln: Erstens über die „Ausdehnung des Netzes von Beziehungen“ (Bourdieu 1992: S. 225) und zweitens über die Menge des Kapitals, das die Beziehungspartner besäßen (hierzu könne man auch Sprachniveau oder Benehmen zählen). Hierdurch könne auch nachgewiesen werden, dass das soziale Kapital eines Menschen niemals unabhängig von ökonomischen oder dem kulturellen Kapital existieren könne. So würde sich bspw. die Zugehörigkeit zu einer elitären Gruppe als „[Multiplikator] auf das tatsächlich verfügbare Kapital“ (ebd.) einer Person auswirken und es ihr ermöglichen, größere Profite zu machen. Zudem sei Vorraussetzung für eine maximale Ausnutzung des sozialen Kapitals in einer Gruppe, dass immer auch ein „[Minimum] von »objektiver« Homogenität unter den Beteiligten“ (ebd.) herrsche. Dies erklärt, warum Gruppen jeglicher Art nur sehr selten klassenübergreifend existieren, sondern zumeist alle Gruppenmitglieder einer bestimmten Klasse angehören. Bourdieu hierzu:

Man kann wohl annehmen, daß das Talent zum »Mondänen« (oder, allgemeiner, das »Beziehungstalent«) zwischen den sozialen Klassen – und, bei identischer Klassenzugehörigkeit, auch zwischen Individuen unterschiedlicher sozialer Herkunft – sehr ungleich verteilt ist (Bourdieu 1992: S. 226).

Der letzte Abschnitt des Textes von Pierre Bourdieu beschäftigt sich mit dem Thema „[der] Kapitalumwandlungen“ (ebd.). Hier beschreibt der Soziologe die Umwandlung des ökonomischen Kapitals in eine der beiden anderen Kapitalarten und andersherum. Um diese zu vollziehen, bedürfe es stets einer „Transformationsarbeit“ (ebd.), d.h. z.B. einer Investition von Geld (ökonomisches Kapital) in bestimmte Güter (als Umwandlung in Kulturkapital z.B. Kauf von Büchern) oder Dienstleistungen. Das Beispiel der Umwandlung von ökonomischem Kapital in soziales Kapital verdeutliche hierbei zweierlei Dinge: Erstens liege allen Kapitalarten das ökonomische Kapital zu Grunde, zweitens ließen sich andere Kapitalarten jedoch nie in vollem Umfang auf selbiges zurückführen (Ein Beispiel wäre hierfür beim sozialen Kapital die Investition von Geld, um der Freundin Theaterkarten zu schenken. In diesem Fall kann diese Investition nach dem Theaterbesuch nicht wieder zurückverlangt werden). Dabei handelt es sich wiederum um einen versteckten Mechanismus der Gesellschaft zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit. Menschen mit geringem ökonomischem Kapital haben oftmals auch Probleme in anderen Bereichen Kapital anzuhäufen. So gestaltet sich erstens der Zugang zur Bildung (kulturelles Kapital) schwierig, da für notwendige Lernmaterialen bzw. Besuche von Museen oder Kulturstätten, ökonomisches Kapital investiert werden muss. Zweitens scheitert das Aufbauen von kapitalstarken Beziehungen daran, dass nur selten genug Beziehungsarbeit geleistet werden kann, bzw. dass die vorhandenen Beziehungen sich zumeist immer nur innerhalb der eignen, kapitalschwachen Klasse entwickeln. Folglich lässt sich sagen, dass z.B. beim Erwerb von Titeln, wie auch beim Aufbau sozialer Beziehungen vor allem diejenigen begünstigt sind, die über eine große Menge an ökonomischem Kapital verfügen.

Als Kriterien der Transformation einer Kapitalart in eine andere nennt Bourdieu den Faktor der Zeit, die Investition von Arbeitskraft und bei der Umwandlung in soziales Kapital auch die Einbringung der eigenen Persönlichkeit. Ziel der Gesellschaft sei es hierbei die Kosten, die nach Bourdieu entweder als „Schwundrisiko“ oder „Verschleierungskosten“ (Bourdieu 1992: S. 229) auftreten würden, für eine Kapitalumwandlung möglichst gering zu halten, um den daraus möglichen Profit zu vergrößern. Als „Schwundrisiko“ bezeichnet er dabei das Risiko, dass sich eine Investition von Kapital nicht rentiere und mehr Kapital verloren gehe, als der Investor aufgewendet habe. Die „Verschleierungskosten“ seien demgegenüber diejenigen Kosten, die aufgewendet werden müssten, um eine Kapitalübertragung (insbesondere ökonomischen Kapitals) eines Investors auf einen anderen zu verschleiern.

Problematisch sei letztendlich auch der Einfluss der Kapitalarten, insbesondere des kulturellen Kapitals, auf die Beziehung von Arbeitsmarkt und Schulausbildung, da in der heutigen Gesellschaft lediglich der „schulische Titel“ (Bourdieu 1992: S. 230) über Erfolg oder Misserfolg im Leben entscheide. Schüler aus einer sozialschwachen Familie hätten somit kaum eine Chance ihre Bildungsziele zu verwirklichen, selbst wenn sie es wollten, da sie höhere Bildungstitel, wie zum Beispiel das Abitur nur sehr schwer erwerben könnten. Das System der Titelvergabe durch die Gesellschaft dient somit, bei gleichzeitiger kultureller Unterdrückung der sozialschwachen Schüler, dem Erhalt sozialer Ungleichheit.

2.2 Soziale Ungleichheit durch Klassenprägung – Bourdieus Habitusbegriff

Neben der Kategorie des Kapitals entwickelte Bourdieu noch ein weiteres Mittel zur Untersuchung der Vergesellschaftung von Menschen: den Habitusbegriff. In einem Interview mit Bourdieu, welches zu seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ erschienen ist, stellt der Soziologe dieses Prinzip genau dar und erläutert, welche Zusammenhänge zwischen Habitualisierung und der Produktion wie Reproduktion sozialer Ungleichheit bestehen.

Zu Beginn des Interviews wird zunächst die Frage diskutiert, inwieweit „das Leben des einzelnen von seiner Klassenzugehörigkeit bestimmt wird“ (Zimmermann: S. 206). Bourdieu stellt hierbei seine These heraus, dass die Position des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft und seine Art zu leben unmittelbar miteinander verknüpft seien. Die spezifischen Eigenarten, die mit einer bestimmten sozialen Position verbunden seien, beschreibt Bourdieu mit dem von ihm entwickelten Begriff des Habitus:

Als Vermittlungsglied zwischen der Position oder Stellung innerhalb des sozialen Raumes und spezifischen Praktiken, Vorlieben, usw. fungiert das, was ich Habitus nenne […] (ebd.).

Wie aber lässt sich der Habitus als Kategorie zur Entlarvung von gesellschaftlich produzierter Chancenungleichheit einsetzen? Dem Soziologen zufolge bezeichne der Begriff „Habitus“ nicht die Determination eines Menschen unter die Charakteristika seiner Klasse, vielmehr verdeutliche er „ein System von Grenzen“ (Zimmermann: S. 207) in dem sich der Betroffene bewegt. So besitze eine Person mit einem „kleinbürgerlichen Habitus“ eben auch „Grenzen seines Hirns“ (ebd.), die es ihm nicht oder nur sehr schwer erlaubten, über seinen eigenen, kleinbürgerlichen Horizont hinaus zu kommen.

Beziehen wir diese Betrachtung auf die Leitfrage so ergibt sich folgendes Bild: Für einen Menschen aus einer niederen Bildungsschicht ist ein Abitur oder gar der Beginn einer Hochschullaufbahn in keinster Weise klassenkonform. Der Soziologe Peter Büchner vermerkt hierzu in seinem 2003 in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaften erschienen Aufsatz „Stichwort: Bildung und soziale Ungleichheit“, dass sich in Deutschland z.B. „bei […] Eltern inzwischen offensichtlich eine Zweigliedrigkeit des Schullaufbahndenkens“ (Büchner: S. 16) entwickelt habe:

Ein Hauptschulabschluss kommt […] nur für 18,4 % der befragten Sechstklässler-Eltern aus [der niedrigen Statusgruppe] in Frage; mehrheitlich bevorzugt […] diese Elterngruppe eine Realschullaufbahn für ihr Kind […] und knapp 30% dieser Eltern wünschen für ihr Kind das Abitur. Bei den Eltern aus der hohen Statusgruppe streben demgegenüber 80% der Eltern für ihr Kind das Abitur an und rund 13% den Realschulabschluss. Der Hauptschulabschluss stellt für diese Eltern überhaupt keine Option mehr dar (ebd.).

An den Ausführungen Büchners wird deutlich, dass sich die Erwartungen der Eltern ihrer sozialen Klasse entsprechend angepasst haben. Sie wurden habitualisiert. Da Habitualisierung eine Art der Vergesellschaftung darstellt, kann demnach gesagt werden, dass es sich hier um einen durch die Gesellschaft erzwungenen Anpassungsprozess an die eigene soziale Klasse handelt. Dies führt zu Bildungsprivilegien einerseits sowie Bildungsarmut andererseits. Somit handelt es sich auch bei der Habitualisierung um einen Reproduktionsprozess sozialer Ungleichheit durch die Gesellschaft.

Im weiteren Verlauf des Interviews kommt seitens des Reporters die Frage auf, wie Bourdieu die in seinem Buch vorgenommene Klassenverteilung aus herrschender Klasse, mittlerer Klasse und unterer Klasse begründet, und ob dieses Bild der Gesellschaft nicht einer gewissen Statik unterliege. Bourdieu verneint diese Ansicht. Vielmehr sei der Begriff Klasse für die Beschreibung von Abgrenzungsprozessen innerhalb der Gesellschaft unpassend und müsse durch den Begriff des „sozialen Raums“ (Zimmermann: S. 209) präzisiert werden:

[Statt] wie so häufig in Begriffen von sozialen Klassen zu denken, d. h. von säuberlich geschiedenen, neben- oder übereinander stehenden gesellschaftlichen Gruppen, sollte man eher von einem sozialen Raum ausgehen. Dieser […] besitzt, wie der geographische eine Struktur – es gibt so etwas wie eine gesellschaftliche Topologie: Einige Menschen stehen »oben«, andere »unten«, noch andere »in der Mitte« (ebd.)

Entsprechend dem von Bourdieu entwickelten Bild gebe es, seinem Habituskonzept entsprechend, in diesen gesellschaftlichen Bereichen immer auch Eigenarten, die die jeweilige Position im sozialen Raum prägen würden. Ein Kontakt zwischen oben und unten könne daher auch nur unter starken Bemühungen, und wenn überhaupt nur sehr selten zustande kommen, da beide Bereiche von ihrem Habitus her völlig verschieden seien. Bourdieu stellt somit fest, dass der soziale Raum – an anderer Stelle spricht der Soziologe auch vom „gesellschaftlich[en] Raum“ (Zimmermann: S. 210) – folglich „sehr starke Zwänge [ausübe]“ (Zimmermann: S. 209) und darüber hinaus „determinierend“ (Zimmermann: S. 210) sei. Der „fortwähren[de] Kampf“ (ebd.) der Menschen in diesem Raum bestehe, so Bourdieu, einzig in dem Versuch eben diesen sozialen Raum zu verändern. Ein Kampf gegen den eigenen Habitus sei dagegen aussichtslos. Für unsere Leitfrage bedeutet dies, dass die gesellschaftliche Struktur soziale Ungleichheit determiniert, da sie auf einem Unterschied zwischen „oben“ und „unten“ aufgebaut ist. Eine Chancengleichheit, bzw. gar ein Austausch der einzelnen Akteure im gesellschaftlichen Raum ist damit a priori unmöglich. Ganz in diesem Sinne zweifelt Bourdieu auch an der Möglichkeit von erfolgreichen Revolutionen innerhalb der Gesellschaft, da es eben niemals darum ginge „die Spielregeln“ (Zimmermann: S. 211) zu verändern, sondern lediglich um eine Umverteilung von Macht innerhalb der herrschenden Klasse. Bourdieu leitet diesen Fakt davon ab, dass die Intellektuellen, welche in seinem Schema als Initiatoren der Revolutionen agieren, niemals die Interessen der Arbeiterklasse vertreten könnten, da sie selbst zumindest aus der Mittelschicht, wenn nicht aus der Oberschicht stammen. Hierdurch seien sie, allein von ihrem Habitus aus gesehen, gar nicht in der Lage, die Sichtweise der Arbeiter einzunehmen, geschweige denn diese politisch zu vertreten.

Ein weiterer Aspekt, der zur Produktion wie Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Gesellschaft beitrage, sei, dass die herrschende Klasse stets darum bemüht sei, einen markanten Abstand zwischen ihrer und der Kultur der unteren Klassen zu bewahren. Dies zeige sich deutlich daran, dass z.B. exklusive Freizeitaktivitäten der Obrigkeit, wie z.B. das Skifahren, von selbiger gemieden würden, sobald sie an Popularität bei der Mittelschicht gewinnen. Die Oberschicht weiche dann automatisch auf eine andere Sportart (z.B. Golf) aus (vgl. Zimmermann: S. 212). Folglich, so stellt Bourdieu fest, gebe es keine „Volkskultur“ (ebd.), da selbige immer zuerst durch die Oberschicht geschaffen und später von der Mittel-, selten von der Unterschicht, in ihren Habitus integriert werde. Problematisch sei dies vor allem in Hinblick auf die Bildungsansprüche in Schulen oder Hochschulen. Die Bildung, die dort verlangt werde, sei diejenige der Oberschicht, da diese vorgebe, welches kulturelle Kapital ein Mensch für den Erwerb eines bestimmten Bildungstitels innehaben müsse. Hierzu Bourdieu:

Sobald die Vertreter der unteren Klassen [auf dem Bildungsmarkt] ihre Sprache anbieten, bekommen sie schlechte Noten; da fehlt ihnen die richtige Aussprache, die richtige Syntax usw. Es gibt mithin eine populäre Kultur im ethnologischen Sinn, aber diese Kultur ist als »Bildung« wertlos (ebd.).

Folglich wird das Ideal einer Gesellschaft (ihre Sprache, ihr Kleidungsstil, ihr Verhalten, ihr Bildungsniveau) immer von der herrschenden Klasse abgeleitet und diktiert. Da diese aber kein Interesse an einer Angleichung von unterer und oberer Schicht besitzt, wird den unteren Schichten der Weg zum oben beschriebenen Ideal von Beginn an verbaut. Dies ist wiederum Produktion sozialer Ungleichheit.

[...]

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Determination der sozialen Ungleichheit durch die Gesellschaft bei Pierre Bourdieu
Hochschule
Universität Hamburg  (Erziehungswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
17
Katalognummer
V369582
ISBN (eBook)
9783668477759
ISBN (Buch)
9783668477766
Dateigröße
518 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bourdieu, soziale Ungleichheit, Kapital, Soziologie
Arbeit zitieren
Christian Appel (Autor:in), 2010, Die Determination der sozialen Ungleichheit durch die Gesellschaft bei Pierre Bourdieu, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/369582

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