Literatur als Raum zur Entwicklung eines kulturenverbindenden Identitätsbewusstseins

"Murmures à Beyoğlu" von David Boratav und "Gefährliche Verwandtschaft" von Zafer Şenocak. Eine vergleichende Studie


Masterarbeit, 2013

103 Seiten, Note: 18/20


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Theoretischer Hintergrund
1. Herders Kulturbegriff
2. Orientalismus
3. Multikulturalität und Interkulturalität
3.1. Der Multikulturalismus
3.2. Die multi- und interkulturelle Debatte
4. Transkulturalität

II. Entwurzelung und Identitätslosigkeit in Gefährliche Verwandtschaft und Murmures à Beyoğlu
1. Narrative Strategien der Entwurzelung
2. Narrative Strategien der Identitätslosigkeit und die Schaffung von Ersatzidentitäten
3. Handlungsorte als Sinnbilder der Identitätskrise

III. Eigenes und Fremdes
1. Die multikulturelle Dichotomie und ihre Überbrückung
2. Stereotypen – das eindimensionale Fremdbild
3. Eigen-Fremd-Dichotomie – von außen manipuliert?

IV. Überbrückung kultureller Grenzen

1. Erinnerung und Geschichtsverarbeitung
2. Kritische Darstellung der Globalisierung
3. Schreiben und Sprache – Mittel und Raum für die literarische Vernetzung kultureller Identitäten

Abschließende Betrachtungen

Bibliographie

„Parallel zu den gegenwärtig zu beobachtenden massiven soziokulturellen Umbrüchen kristallisieren sich die Grundzüge eines Denkens heraus, welches Migration nicht mehr als Randphänomen begreift, sondern als Paradigma des kritischen Nachdenkens über mögliche andere kulturelle Formen des Zusammenlebens. Der damit einhergehende Richtungswechsel markiert einen radikalen Bruch im zeitgenössischen Denken und gleicht damit einer kopernikanischen Wende.“

(Angela Weber[1] )

„Jenseits unserer Vorstellung von richtig oder falsch

gibt es einen Ort, dort treffe ich Dich.“

(Maulana Dschelaladdin Rumi[2] )

Einleitung

Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich?

Seit der Antike hat sich die philosophische Fragestellung nach der Identität des Menschen in ihrem Kern nicht verändert. Je nach dominierenden sozialpolitischen Interessen und philosophischen Anschauungen der unterschiedlichen Epochen in der Menschheitsgeschichte variieren jedoch die Antworten darauf und drücken demgemäss den jeweils vorherrschenden Zeitgeist aus.

Kunst im Allgemeinen und Literatur im Speziellen spielen dabei insofern eine wichtige Rolle, als sie einerseits selbst unmittelbare Zeugnisse lang tradierter Vorstellungen und kultureller Vermischungen sind und ihnen andererseits, im Gegensatz zur sozialpolitischen Debatte, die Möglichkeit offen steht, aktuelle gesellschaftspolitische Themen, wie in unserem Fall das der kulturellen Identität, in einem fiktiven Rahmen aufzugreifen, zu behandeln und traditionelle Konzepte zu hinterfragen.

Diese Verrückung vom Realen zum Fiktiven eröffnet einen Raum, der auf vielschichtige Weise neue Denkprozesse möglich macht.

Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, wird unter Kultur „die Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung“[3] verstanden. Diese Auffassung, wonach das Gewicht auf Gemeinschaft, also auf eine Gruppe und nicht auf das Individuum gelegt wird, trägt die Spuren des Kulturkonzeptes von Johann Gottfried Herder, das Kultur als Spiegelung der homogenen Identität einer Nation, d.h. eines Volkes sieht.

Aber entspricht diese Definition wirklich noch dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts, das vor allem durch Globalisierung, internationale Vernetzung, der Aufhebung von Raum- und Zeitgrenzen durch fortschreitende Technik und dem durch Migration bedingten Zusammenleben von Menschen verschiedenster Herkunft und Nationalitäten gekennzeichnet ist?

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, anhand je eines Beispieles aus der deutschen und aus der französischen Literatur, also aus zwei verschiedenen Sprach- und Kulturräumen, literarische Beiträge zur Diskussion über ein zeitgemäßeres Verständnis kultureller Identität vorzustellen.

Die zeitgenössischen Romane Gefährliche Verwandtschaft[4] von Zafer Şenocak, der dritte Band einer Tetralogie[5], und Murmures à Beyoğlu[6] von David Boratav haben beide die Identitätssuche ihres Protagonisten zum Gegenstand. Im ersten Fall geht es um einen in Deutschland wohnhaften deutsch-türkisch-jüdischen Protagonisten und im zweiten Fall um einen als Kind aus der Türkei nach Frankreich emigrierten und nun als Erwachsener in London lebenden Protagonisten.

Beide Romane greifen durch die polykulturelle Charakterisierung ihrer Figuren einen Aspekt der Identitätsproblematik des auslaufenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts auf, der vielfältigen Ausdruck in gesellschaftlichen Entwicklungen, politischen Debatten, Kunst und Philosophie findet und dessen kulturtheoretischen Hauptelemente die Multi-, Inter- und Transkulturalität sind.

Zum besseren Verständnis der literarischen Debatte in diesem Feld erscheint es mir daher sinnvoll, im ersten Teil dieser Arbeit kurz auf den Kulturbegriff Herders einzugehen sowie die aktuellen Konzepte der Multi-, Inter- und Transkulturalität zu skizzieren, um im weiteren Verlauf mithilfe dieser Werkzeuge zu untersuchen, ob und inwieweit diese Romane tatsächlich zu einem neuen kulturüberbrückenden Identitätsverständnis beitragen. Der zweite Teil meiner Ausarbeitung dient der Untersuchung der Darstellung von Entwurzelung und Identitätslosigkeit in den Romanen, welche die thematische Basis der Identitätssuche auszumachen scheinen. Der dritte Abschnitt analysiert die Überwindung der Fremd-Eigen-Dichotomie in den Werken. Der abschließende vierte Teil gilt der Besprechung der zentralen Rolle von Erinnerung in der Identitätssuche, der kritischen literarischen Darstellung des kulturüberbrückenden Globalisierungsvorgangs und der Rolle von Sprache und Schreiben im transkulturellen Netzwerk der Romane.

I. Theoretischer Hintergrund

Die kulturelle Identitätsdebatte des auslaufenden 20. bzw. beginnenden 21. Jahrhunderts wurde und wird im wesentlichen von den im 20. Jahrhundert entstandenen Konzepten der Multi-, Inter- und Transkulturalität sowie vom Erbe des Herder’schen Kulturbegriffs aus dem 18. Jahrhundert genährt. Sie bilden auch den theoretischen Hintergrund zu der in dieser Arbeit analysierten kulturellen Identitätssuche in den Romanen Gefährliche Verwandtschaft und Murmures à Beyoğlu.

Gefährliche Verwandtschaft wurde im Jahr 1998 veröffentlicht, d.h. zu einem Zeitpunkt, zu dem die multikulturelle Debatte in Deutschland in vollem Gange war und die Identitätsfrage nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 an neuer Aktualität gewonnen hatte. Murmures à Beyoğlu erschien elf Jahre später, im Jahr 2009 in Paris, als Multi- und Interkulturalität auf europäischer Ebene bereits stark kritisiert wurden und das Konzept der Transkulturalität langsam an Raum zu gewinnen begann.

Wie bereits vorausgeschickt thematisieren beide Romane anhand der in ihnen erzählten Geschichte bzw. anhand der Herkunft und Identitätssuche ihrer Protagonisten die eben genannten Konzepte und stellen die Frage, was mit der Identität von Menschen geschieht, die mehrere Kulturen in sich tragen und abgeschnitten von ihren Wurzeln in einer multikulturellen Welt aufwachsen und leben. Mit aufgezeigt und einbezogen wird die Problematik des Orientalismus, der im 19. Jahrhundert entstanden und seitdem im europäischen Denken verankert geblieben ist.

Aus diesem Zusammenhang heraus erscheint es mir wichtig an diesem Punkt die eben genannten Konzepte in ihren wesentlichen Zügen chronologisch ins Gedächtnis rufen und voneinander abgrenzen:

1. Herders Kulturbegriff

Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt Johann Gottfried Herder in seinen Abhandlungen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit[7] und Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit[8] u.a. einen auf nationalen Gemeinsamkeiten basierenden Kulturbegriff und setzt dadurch „Kultur“ mit Nationalkultur gleich.

Die Kultur bildet Herder zufolge das Fundament für das nationale Selbstbewusstsein eines Volkes, indem sie der Nation ihren spezifischen Charakter verleiht, sie nach innen vereinheitlicht und nach außen abgrenzt.

Es darf hierbei jedoch nicht vergessen werden, dass „Nation“ im 18. Jahrhundert nicht mit „Staat“ gleichzusetzen ist. Die nationalen Grenzen eines Volkes können weit über die staatlich politischen Grenzen hinausreichen, bzw. muss ein Volk auch nicht unbedingt über eine staatliche Struktur verfügen, um als Nation gesehen zu werden.

Nation im Kulturkonzept Herders entsteht also ausdrücklich nicht durch den Staat, sondern durch die ein Volk verbindenden „nationalen und populären Phänomene“, wie etwa seine gemeinsame Sprache, Geschichte, Religion, Literatur und Philosophie.[9]

Auch wenn Herder in seinen Schriften deutlich macht, dass es keine vollkommene Kultur gibt und somit keine Kultur der anderen überlegen ist, wird sein Konzept schlussendlich häufig zu nationalistischen Zwecken missbraucht werden und gibt auch heute noch, aus seinem zeitgenössischen Kontext gerissen[10] und in drastisch vereinfachter Form, Anlass zu rassistischer Ausgrenzung.

Es erscheint mir daher wichtig auf die Grundzüge von Herders Überlegungen mithilfe einer Zusammenfassung des Historikers Daniel Speich Chassé hinzuweisen:

„Die Welt ist nach Herder sowohl zeitlich als auch räumlich in Nationen geteilt. […] Die Besonderheit einer Nation ist nicht auf die Ewigkeit angelegt, sondern gleicht eher einer vorübergehenden Entfaltung in der Geschichte. Diese «Blüte» hat als Scheitelpunkt oder Zentrum einer Kultur neben der zeitlichen auch eine räumliche Dimension. […] So schreibt er [Herder] in einem vielzitierten Satz: «Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!»[11]. […] Dieser Nationalcharakter zeichnet sich durch eine besondere Tiefe aus: Er besteht nicht nur in der Sprache, den Umgangsformen, der Kunst, den religiösen Vorstellungen etc., sondern bestimmt die Eigenheit eines Menschen bis auf die Ebene seiner subjektiven Empfindungen. Die Zugehörigkeit zu einem « bestimmtesten Kreise» äussert sich in der ganzen « Natur der Seele ». […] Herders Nation ist der einzige Ort, an dem der Mensch glücklich leben kann. Dies ist das grundlegende Prinzip seines Nationalismus.“[12]

Herder geht in seinen Ausführungen auch auf den Antagonismus zwischen Eigenem und Fremdem ein, auf die Vorurteile und den „eingeschränkten Nationalism[13], die er zwischen den Bewohnern verschiedener Nationen beobachtet. Der Mensch verspürt ihm zufolge allem gegenüber, was der eigenen Kultur fremd ist, „Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit “, die sogar zu „ Verachtung und Ekel “ werden können.[14] Man integriert, was einem im anderen vertraut ist und grenzt sich vom Rest ab.

Jedoch haben diese Gefühle für Herder eine positive Auswirkung, denn sie werfen den Menschen auf sich selbst zurück, machen ihm seine eigene Kultur, die ihn trägt, bewusst und verstärken dadurch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer kulturellen Gemeinschaft, die wiederum auf diese Weise gefestigt wird und zur Entfaltung kommen kann:

„Das Vorurteil ist gut zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie vester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken “.[15]

Dieser Teilaspekt von Herders Kulturbegriff wirkt, wie bereits erwähnt, im aktuellen Kulturverständnis nach, was zur Folge hat, dass „Kultur“ - und damit auch individuelle kulturelle Identität – auch in der heutigen Gesellschaft oft mit ethnischer Fundierung, sozialer Homogenisierung und Abgrenzung nach außen gleichgesetzt wird, was zugleich stereotypisches Denken fördert und einschneidende Konsequenzen für das Zusammenleben in modernen multikulturell strukturierten Gesellschaften hat.

In Murmures à Beyoğlu und Gefährliche Verwandtschaft wird diese Thematik mittels der Verwendung verschiedener narrativer Strategien, wie z. B. dem Spiel mit Erzählperspektiven, problematisiert.

2. Orientalismus

Der Orientalismus entstand im 19. Jahrhundert. Er geht in seinem Ansatz mit dem damals herrschenden Zeitgeist konform, Völker zu „folklorisieren“, d.h. ihre eventuellen kulturellen Besonderheiten aufzuspüren, diese hervorzukehren und sie auf diese Weise voneinander abzugrenzen.

Die „Fühllosigkeit und Kälte“, die nach Herder zwangsläufige Empfindungen im Kontakt mit Fremden seien, werden dabei mittels Übertreibung und Mystifizierung des Fremdartigen durch Kunst und Literatur in distanzierende und distanzierte Faszination verwandelt.

Allerdings ist dieses verfremdete und bis ins 21. Jahrhundert tradierte Bild des Orients, wie die in Orientalism[16] veröffentlichten Untersuchungen des amerikanischen Literaturtheoretikers Edward Said zeigen, nicht neutralen Ursprungs.

Said kommt bei seiner Analyse von literarischen und wissenschaftlichen Beiträgen über den Orient aus Großbritannien und Frankreich zu dem Ergebnis, dass es sich bei diesen Texten nicht um objektive Sichtweisen der Umstände vor Ort handelt, sondern dass all diese Beiträge einen kolonialistischen Ansatz teilen, der das Überlegenheitsgefühl des „aufgeklärten“ Westens gegenüber einem von ihm mystifiziert, bedrohlich dargestellten Orient ausdrückt und dieses in ungebrochener Tradition bis in die Gegenwart weitervermittelt, sodass diese Haltung zu einem Teil der modernen politischen und intellektuellen Kultur geworden ist.[17]

Eine der möglichen Erklärungen für die tiefe Ambivalenz des Orientalismus lässt sich vielleicht in einer politischen Rivalität finden, die weit in die Vergangenheit zurückreicht:

Nach der Schlacht bei Mogersdorf 1664, bei der erstmals nach einem Jahrhundert kriegerischer Auseinandersetzungen die türkischen Heerscharen von den Europäern geschlagen wurden, begann sich der Zerfall des Osmanischen Reiches abzuzeichnen: Auf außenpolitischer Seite wurden die Osmanen auf mehreren Fronten von den europäischen Heeren zurückgedrängt und innenpolitisch hatte der Sultan zunehmend mit Aufständen unterworfener Völker zu kämpfen.

Zugleich waren die Europäer nach den Siegen über die Türken und der im 17., 18. und 19. Jahrhundert fortschreitenden Kolonisierung Amerikas, Afrikas, Australiens und Asiens im Begriff, der ganzen Erde ihre eurozentristische Weltanschauung aufzudrängen. Letztere prägt von Anfang an die Art und Weise, wie die Europäer an die über verschiedene Kontinente ausgedehnten Gebiete herangehen: Sie negieren gegen Herders individualisierten Kulturbegriff deren Individualität und Vielfalt, indem sie sie undifferenziert als „Orient“ wahrnehmen. Der Orient des Orientalismus wird ihnen zum Inbegriff des Anderen schlechthin.

David Boratav meint in Bezug auf die Aktualität dieser von ihm in seinem Roman thematisierten Strömung in einem Interview:

„Je note aussi, avec un peu de frayeur, que lorsqu’on installe une exposition au Grand Palais à l’occasion de l’année de la Turquie en France, on continue à parler de Byzance, de Constantinople et des califes, et qu’à la tête de l’État français, on joue à cache-cache avec le président turc pendant l’inauguration de l’exposition, par crainte des réactions négatives de l’électorat. Je pense que ce qu’écrivait Molière sur les méchants turcs, leur cruauté et leur fourberie, sur l’incompréhension des bourgeois français vis-à-vis d’une culture qui leur paraît menaçante, est plus implanté en France que nous ne voulons l’admettre. Et le tourisme sur la côte égéenne n’y change rien.“[18]

Er verdeutlicht in Murmures à Beyoğlu die ununterbrochene Tradierung des Orientalismus und deren wechselseitigen Auswirkungen einerseits, indem er immer wieder auf das Standardwerk des französischen Literaturunterrichtes „Lagarde et Michard“[19], humoristisch umgewandelt in „Lagrade & Bouchard“, verweist und unterstreicht andererseits die Dauer dieser Mischung von Faszination und Furcht des Orients dadurch, dass er Vergangenheit und Gegenwart vereint, indem er seinen Romanfiguren Textzeilen aus Molières Komödie Le Bourgeois gentilhomme (zu Deutsch: Der Bürger als Edelmann) in den Mund legt, durch die Molière bereits 1667 die falsche Offenheit des französischen Adels gegenüber dem Orient anprangerte.

Auch der Leser von Gefährliche Verwandtschaft findet, wenn auch lange nicht im selben Ausmaß, einige Überlegungen des Protagonisten hinsichtlich der Konsequenzen des orientalistischen Denkens für das Zusammenleben von Deutschen, Türken und Juden im heutigen Deutschland wie wir im weiteren Verlauf der Arbeit sehen werden.

3. Multikulturalität und Interkulturalität

Durch das Anwachsen der Migrationsbewegungen und der daraus resultierenden multikulturellen Struktur westlicher Gesellschaften entwickelt sich ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zusätzlich ein multikulturelles und ein interkulturelles Verständnis von „Kultur“, das Teil des sozio-politischen Hintergrundes beider Romane ist.

Sowohl das Konzept der Multikulturalität als auch das Konzept der Interkulturalität übernehmen Herders Vorstellung, dass es sich bei Kulturen um voneinander abgegrenzte Entitäten handelt. Sie unterscheiden sich jedoch beide von dieser Vorstellung durch die Annahme, dass diese Entitäten in einer Gesellschaft nebeneinander existieren können.

Was differenziert nun aber Multikulturalität von Interkulturalität?

Der multikulturellen Anschauung zufolge erscheint die Kultur eines Landes als Mosaik vieler verschiedener Kulturen. Sie existieren nebeneinander und miteinander, vermischen sich jedoch nicht. Für den Einzelnen ist dies insofern von Bedeutung als seine Identität von der Gesellschaft, in der er lebt und von der er Teil ist, mitgeformt wird. Dabei ist es wichtig wie diese Gesellschaft den Einzelnen aufnimmt sowie ob und wie sich der Einzelne als Teil in sie einfügt.

Im Konzept der Interkulturalität werden die Grundprinzipien der Multikulturalität übernommen und dahingehend ausgeweitet, dass dafür plädiert wird durch Dialog und Austausch eine Brücke zwischen Eigen- und Fremdperspektive zu schlagen, um diese dadurch zu überwinden. Allerdings sei betont, dass es sich dabei nach wie vor nicht um eine Vermischung von Kulturen handelt.

3.1. Der Multikulturalismus

Das politische Pendant zur Multikulturalität ist der Multikulturalismus. Das Ziel des Multikulturalismus ist eine demokratische multikulturelle Gesellschaft, in der mehrere Kulturen in einem Staat gleichberechtigt nebeneinander bestehen können. Assimilation ist dabei nicht erwünscht, denn sie ist, wie der kanadische Begründer des Multikulturalismus Charles Taylor festhält, „die Todsünde gegen das Ideal der Authentizität“.[20]

Der Multikulturalismus impliziert die aktive Förderung der multikulturellen Gesellschaft vonseiten des Staates durch sozialpolitische Maßnahmen und Gesetze, denen die Gleichberechtigung der verschiedenen Ethnien zu Grunde liegt. Dazu zählen u.a. gleiche Rechte für verschiedene religiöse Feiertage, Kleidernormen oder Sprachen.

Kanada, das 1982 in seiner Verfassung die „Charta der Rechte und Freiheiten“ verankerte und mit dem „Act for the Preservation and Enhancement of Multiculturalism“ 1988 den gesetzlichen Hintergrund für eine multikulturalistische Politik geschaffen hat, gilt bis heute als Wiege und positives internationales Beispiel des angewandten Multikulturalismus.[21]

In Frankreich, Großbritannien und Deutschland, die neben der Türkei in beiden in weiterer Folge untersuchten Romanen den durch die Identitätssuche thematisierten kulturellen sozialpolitischen Hintergrund bilden, verlief der etwa 25jährige multikulturelle Ansatz nicht so erfolgreich wie in Kanada. Sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der britische Premierminister David Cameron und der französische Präsident Nicolas Sarkozy erklärten in unmittelbarer Reihenfolge diesen Ansatz zwischen Oktober 2010 und Februar 2011 für „gescheitert“.[22]

Eine Analyse der jeweils landesspezifischen Immigrations- und Integrationspolitiken dieser drei europäischen Staaten würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Für ein besseres Verständnis der komplexen Situation, in der sich die Protagonisten in ihrer Identitätssuche befinden, sei jedoch vorausgeschickt, dass keiner der drei, bzw. vier Staaten (die Türkei inbegriffen) in der Vergangenheit als „multikulturalistisch“ bezeichnet werden konnte.

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Charles Taylors Überlegung aus seinem Artikel „Demokratie und Ausgrenzung“[23]. Ihr zufolge benötigt eine Demokratie, um zu bestehen, eine Gemeinschaft, der sich der einzelne Bürger tief verbunden fühlt und mit der er sich identifizieren kann. Wenn sich diese Gemeinschaft in der Vergangenheit durch ein hohes Maß an ethnischer Homogenität, gemeinsamer Kultur, Sprache oder Geschichte ausgezeichnet habe, neige sie, laut Taylor, mehr als andere dazu, sich gegen die „’Fremden’“ zu „wehren“[24].

Diese Abwehr, die verschiedene Formen annehmen kann, veranschaulicht er durch zwei Beispiele, die für die Analyse des Eigenen und Fremden in den Romanen in dieser Arbeit von Relevanz sein werden und gleichzeitig auch die Aktualität der Thematik aufzeigen:

Im ersten Beispiel ist von Deutschland die Rede, dessen Gesellschaft sich gegen die Multikulturalität sträube, indem es z.B. Immigranten den Zugang zur Staatsbürgerschaft durch das Ius Sanguinis -Prinzip erschwere.[25] Dieses Prinzip im deutschen Kontext in Verbindung mit kultureller Identitätssuche wird uns im weiteren Verlauf bei der Untersuchung von Gefährliche Verwandtschaft noch näher interessieren.

Das zweite Beispiel betrifft Frankreich und ist in Bezug auf den zweiten hier analysierten Roman Murmures à Beyoğlu interessant. Frankreich propagiere, Taylor zufolge, vor allem eine Assimilationspolitik und unterwerfe in „’jakobinischer’ Tradition […] Menschen von vorneherein einem rigorosen und kompromißlosen Schema“, in dem „Verständigung […] durch eine klare Definition dessen, um was es in der Politik gehen soll und welche Rechte und Pflichten der Bürgerstatus impliziert“, erzielt würde.[26] Der langjährige Erfolg dieser Politik sei dadurch zu erklären, dass sich die Immigranten in der Vergangenheit aus Dankbarkeit für die Aufnahme des Gastlandes widerstandslos den dortigen Gegebenheiten angepasst hätten. Seit jedoch Immigranten das Recht auf ihren kulturellen Unterschied einforderten, stöße diese Politik an ihre Grenzen und zeige ihre Schwachpunkte in Hinsicht auf gelebte Multikulturalität auf.[27]

3.2. Die multi- und interkulturelle Debatte

Die Konzepte der Multi- und Interkulturalität werden nicht nur von Politikern, sondern auch von der Sozial- und Literaturwissenschaft als problematisch angesehen und hinterfragt, was auch in den hier untersuchten Romanen seinen Niederschlag findet.

Kritiker, wie z.B. der libanesische, in Deutschland lebende, Islamwissenschaftler und Publizist Ralph Ghadban sehen in der kommunitaristischen Auffassung der Multi- und Interkulturalität einen „Widerspruch zum Liberalismus, der grundsätzlich die Integrität des Individuums über die Integrität der Gruppe stellt“ und fordern „eine Neukonzipierung der Dichotomie vom Eigenen und Fremden, von Innen und Außen.“[28]

Eine weitere Kritik kommt von der amerikanischen Germanistin Leslie A. Adelson, die im interkulturellen Ansatz eine Fortführung der Diskrimination gegenüber anderen Kulturen sieht. Die nur bedingte Eingliederung deutschsprachiger Werke von „Autoren mit Migrationshintergrund“[29] in die deutsche Literatur ist für sie ein Beispiel dafür:

„Die imaginierte Brücke ‚zwischen zwei Welten’ ist dazu gedacht, voneinander abgegrenzte Welten genau in der Weise auseinander zu halten, in der sie vorgibt, sie zusammenzubringen. […] Kritiker scheinen nicht genug Einbildungskraft zu besitzen, um sich Migranten bei der eigentlichen Überquerung dieser Brücke oder beim Erreichen von neuen Ufern vorstellen zu können. Das hat wiederum zu tun mit den nationalstaatlichen Konturen, die diesen angeblichen ‚Welten’, die durch eine Brücke von dubioser Tragfähigkeit verbunden sind, zugeschrieben werden.“[30]

Ihr zufolge beruht „das Modell, das Migranten ‚zwischen zwei Welten’ ansiedelt, […] zu schematisch und hartnäckig auf territorialen Vorstellungen von Heimat“. Sie führt weiter aus, dass „kreatives Denken nicht durch geografische oder politische Grenzen beschränkt“ sei und die literarische Arbeit dieser Autoren „ Orte des Denkens nicht in irgendeinem vorhersehbar nationalstaatlichen oder gar ethischen Sinn“ widerspiegle, sondern „viel eher Orte des Umdenkens, das heißt imaginative Räume, in denen kulturelle Orientierung radikal neu durchdacht wird“, eröffne.[31]

Diese letzte Ansicht kommt auch in den Worten der von Japan nach Deutschland emigrierten Schriftstellerin Yōko Tawada zum Ausdruck. Sie sieht im Zwischenraum „keine Grenze zwischen zwei deutlich voneinander abgegrenzten Welten […], sondern eine Schwelle, einen Ort, wo etwas Neues im Sichtfeld aufblitzt und sich das Bewusstsein dementsprechend neu gestaltet“.[32]

Ein vierter Beitrag zur aktuellen Kulturdebatte, den ich erwähnen möchte, stammt vom Autor von Gefährliche Verwandtschaft, Zafer Şenocak. Der als Kind mit seinen Eltern aus der Türkei nach Deutschland emigrierte Schriftsteller versteht sich selbst als Repräsentant des kosmopolitischen, transnationalen Aspektes der deutschen Kultur. Er situiert sein kulturelles Fundament in einer Mischung aus dem deutschen geisteswissenschaftlich-literarischen Umfeld und dem altosmanischen, muslimischen kulturellen Hintergrund.[33]

Şenocak fordert in seinen Essays „Der Dichter und die Deserteure“[34] und „Jenseits der Landessprache“[35] eine „negative Hermeneutik, die das vermeintlich Verstandene kritisch hinterfragt“. Er sieht in einer solchen Herangehensweise eine Möglichkeit, die „Wunden der Verständigung“, die durch Fremd- und Eigenperspektive entstehen und entstanden sind, zu heilen.

Adelson greift in ihrer Kritik am multi- und interkulturellen Ansatz Şenocaks Gedanken auf und meint in Anlehnung an ihn, dass „mehr Verständnis für unterschiedliche Kulturen fehl am Platz“ wäre,

„wenn das Verstehen diese Kulturen nur als ganz und gar unterschiedlich fixierte. Anstatt andere Kulturen als grundsätzlich fremd darzustellen, müssen wir Kultur selbst anders begreifen. Kultureller Kontakt ist heute keine ‚interkulturelle Begegnung’ zwischen der deutschen Kultur und etwas, was sich außerhalb von ihr befindet. Dieser Kontakt ist eher etwas, das innerhalb der deutschen Kultur stattfindet, nämlich zwischen der deutschen Vergangenheit und der deutschen Gegenwart.“[36]

Eine Aussage, die sich hier zwar ausschließlich auf die deutsche Kultur bezieht, die jedoch auch für alle anderen Kulturen gleichermaßen von Bedeutung sein könnte.

Mit all diesen Gedanken der gegenwärtigen Debatte nähern wir uns nun dem Konzept der Transkulturalität, das in Gefährliche Verwandtschaft und Murmures à Beyoğlu eine wichtige Rolle spielen wird.

1.4. Transkulturalität

In seiner zum ersten Mal 1991 publizierten Theorie der Transkulturalität postuliert der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch, dass „die Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken“ seien.[37]

Die bisher erwähnten Konzepte stellen für Welsch bereits dahingehend ein fundamentales Fehldenken dar, als dass sie alle auf der Hypothese kultureller Schranken und deren Akzeptanz basieren und diese damit aufrecht erhalten, ja sogar teilweise verstärken, anstatt sie zu überschreiten. Insofern tragen sie alle die permanente Gefahr der „Ghettoisierung und [des] Kulturfundamentalismus“ in sich und sind für das friedliche Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft äußerst bedrohlich.[38]

Er kritisiert des Weiteren die in ihnen fest verankerte Grundannahme der Homogenität einzelner Kulturen, indem er darauf hinweist, dass moderne Gesellschaften aufgrund von Globalisierung und Migration bereits von nationalkulturellen „Mischungen und Durchdringungen gekennzeichnet“[39], also „transkulturell“ sind und darüber hinaus eine innere Komplexität aufweisen, der diese Konzepte in keiner Weise Rechnung tragen, da einheitliche Lebensformen nicht mehr existieren:

„Sie sind vertikal differenziert: die Kultur eines Arbeitermilieus, eines Villenviertels und der Alternativszene weisen kaum noch einen gemeinsamen kulturellen Nenner auf. Und sie sind horizontal differenziert: Unterschiede von weiblicher und männlicher, heterosexueller oder homosexueller Orientierung können einschneidende Unterschiede in den kulturellen Mustern und Lebensformen begründen.“[40]

Welsch weist auch auf den psychoanalytischen Aspekt der Xenophobie hin, der dazu führt, dass man im Fremden hasst, was man an sich selbst zurückstößt. Er ruft durch die Theorie der Transkulturalität zu einer „Interaktion mit Fremdheit“ auf, bei der das Augenmerk nicht auf Differenzierung, sondern auf das Gemeinsame gelegt wird.

Dabei strebt er jedoch nicht Vereinheitlichung an, wie sie heute durch die Globalisierung propagiert wird, sondern eine Art Netzwerkkultur bestehend aus „kultureller Mannigfaltigkeit“, in der sowohl „Überschneidungen wie Unterschiede bestehen“ und in der jeder immer wieder auf seine eigenen kulturellen Quellen zurückgreift.[41] Ein Kulturverständnis also, das dem menschlichen Bedürfnis nach einer spezifischen Identität Rechnung trägt, ohne das Fremde ausgrenzen zu müssen.[42] Welsch beruft sich dabei vor allem auf Nietzsche, der festhielt, dass „in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und –Befruchten der eigentliche Werth und Sinn der jetzigen Cultur“[43] liege und auf Ludwig Wittgenstein, der Kultur als „geteilte Lebenspraxis“ ansah.[44]

Befürworter der Transkulturalität sehen in ihr vor allem einen theoretischen Ansatz, der auch die kulturelle Vielfältigkeit kultureller Nomaden, Kosmopoliten oder etwa der Nachkommen von Migranten berücksichtigt.

Ihre Gegner argumentieren in erster Linie mit einer „inhaltlichen Leere“, d.h. einer gewissen Oberflächlichkeit des Konzepts. Es sei praktisch nicht genug durchdacht, unterschätze das dem Menschen tief innewohnende, ausgeprägte Bedürfnis nach Differenzierung und sei aufgrund der bestehenden z.B. kulturell-moralischen Unterschiede auf gesellschaftlicher Ebene zum Scheitern verurteilt.[45]

Dem sei entgegenzuhalten, dass Welsch in seinem Aufsatz ausdrücklich von einem tiefen, radikalen Umdenken spricht, vom Umstellen des „inneren Kompasses“.[46] Indem er weiter ausführt, dass die Transkulturalität „natürlich […] beträchtliche Zumutungen gegenüber alten Gewohnheiten“ enthält, zeigt Welsch, dass er sich der kompromisslosen Neuheit dieses Prinzips bewusst ist und damit auch der Schwierigkeiten und Widerstände, die sich bei dessen sukzessiver Umsetzung offenbaren könnten.[47]

Was bei der Umsetzung auf der Makroebene der Gesellschaft schwierig erscheinen mag, könnte auf der Mikroebene des Individuums für ein neues Kulturverständnis allerdings richtungsweisend sein, wie die folgende vergleichende Analyse der Darstellung von kulturübergreifender Identitätssuche in Gefährliche Verwandtschaft und Murmures à Beyoğlu aufzuzeigen bemüht sein wird.

II. Entwurzelung und Identitätslosigkeit in Gefährliche Verwandtschaft und Murmures à Beyoğlu

Die nun zu untersuchenden Romane handeln beide von männlichen Figuren mit multikulturellem Hintergrund, die gleichzeitig auch als Ich-Erzähler auftreten. Die Frage nach ihrer eigenen kulturellen Identität stellt sich ihnen im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Auslösemoment für ihre Identitätssuche ist der Tod eines, bzw. beider Elternteile.

Angela Weber sieht im zentralen Motiv der Suche einen Hinweis, „dass etwas unwiederbringlich verloren gegangen ist“. „Die Nachricht des Todes“, schreibt Angela Weber weiter, „bringt die allgemeine Bedeutung der Erfahrung des Verlustes für das eigene Leben geradezu schockartig zu Bewusstsein. So ist das Verdrängte, Vergessene, unentrinnbar Verlorene zugleich Motor der Suche sowie deren unhinterfragter, unsicherer Grund des Erzählens.“[48]

Die Identitätssuche der Protagonisten beginnt also im Grunde mit der Bewusstwerdung von Identitätslosigkeit, die in scharfem Gegensatz zu ihrem eigentlich reichen, multikulturellen Hintergrund steht und deren Ursache u.a. in der Kindheit stattgefundenen kulturellen Entwurzelung gesehen werden kann.

Das Wiederfinden verlorener, bzw. verdrängter Erinnerung stellt dabei nicht nur den Motor der Suche dar, sondern wird darüber hinaus zur Nadel des „inneren transkulturellen Kompasses“. Als solche weist sie den bisher haltlos durchs Leben treibenden Protagonisten die Richtung, lässt sie Fremdes und Eigenes in einem neuen Licht sehen und eröffnet ihnen die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen den bis dahin losen Teilen ihrer polykulturellen Identität erkennen zu können und ein neues Verständnis dieser Identität zu entwickeln.

1. Narrative Strategien der Entwurzelung

Die Thematik der Entwurzelung, die der Identitätslosigkeit vorangeht, wird in beiden Romanen auf verschiedene Weise eingebracht und verarbeitet.

Sascha Muhteschem, der Ich-Erzähler von Gefährliche Verwandtschaft, ist der Sohn einer jüdisch-deutschen Mutter und eines türkischen Vaters. Er wird im Jahre 1954, kurz nach der Emigration seiner Eltern aus der Türkei, in München geboren.

Die Problematik seiner multikulturellen Herkunft besteht für ihn bereits darin, dass er durch deren Nicht-Tradierung aufgrund schwer belastender Vorkommnisse in den Generationen vor ihm von ihr abgeschnitten wurde und dadurch die innere Orientierung verloren hat.

Seine jüdisch-deutsche Familie wurde bis auf die Mutter und deren Eltern von den Nazis während des Holocausts ausgelöscht. Sein türkischer Großvater väterlicherseits dürfte aktiv am Völkermord an den Armeniern in der Türkei beteiligt gewesen sein, bevor er 1936 Selbstmord beging (40). Die genauen Hintergründe zu beiden Geschichten werden Sascha von seinen Eltern bewusst verschwiegen.

Die Mutter geht bei ihren Ausweichmanövern so weit, dass sie Verwandte, die ihr Sohn auf alten Photos entdeckt, als Fremde oder Bekannte ihres Vaters verleugnet (59). Sie möchte aus ihm einen „Deutschen“ machen, ihm ein „Leben zwischen zwei Welten“ ersparen und ihm durch ihr Schweigen über die Nazijahre Deutschlands die Entwicklung eines „ungebrochenen Verhältnisses“ zu Deutschland ermöglichen (60). Auch die Fragen des Kindes nach seinem türkischen Großvater bleiben unbeantwortet (9).

Der Roman greift mit dieser Mauer des Schweigens vonseiten der Täter und Opfer, mit der sich der junge Sascha konfrontiert sieht, eine Thematik auf, die für die Identitätsbildung der Nachfolgegeneration im Postnazideutschland von fundamentaler Bedeutung war und die bis heute nicht nur in der deutschen, sondern in jeder Gesellschaft, in der ein Genozid stattgefunden hat, besteht: Die Schwierigkeit eines Volkes, dessen kulturelles Gedächtnis durch Völkermord unterbrochen wurde und belastet ist, zu einer kohärenten Identität zurückzufinden.[49]

In der Türkei wird bis heute von offizieller Seite das Genozid an den Armeniern (1915-1916) geleugnet.

In der Geschichte Deutschlands wurde auf Täterseite die von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges angeordnete Entnazifizierung der Bevölkerung bereits Anfang der 1950er Jahre durch den beginnenden Kalten Krieg unterbrochen, was mit als Grund für die Verwischung der individuellen Schuld und für das Verhindern echter individueller Schuldaufarbeitung durch Verschweigen gesehen werden kann.

Sascha befindet sich also in der gleichen Situation wie viele der Täternachkommen: Um zur eigenen Identität finden zu können, wird er einen Weg finden müssen, die Frage der Schuld, über die er jedoch nichts Genaues weiß, zu klären.

Auf Opferseite haben sich laut den Studien des Psychologen Aaron Haas viele der Holocaustüberlebenden dazu entschieden, über die Ereignisse zu schweigen, sowie aus Angst oder Ärger nicht mehr nach ihrer Religion zu leben, um deren Auswirkungen auf ihr weiteres Leben auszulöschen und gleichzeitig auch zu verhindern, dass ihre traumatischen Erlebnisse und Ängste auf die Handlungs- und Denkweise ihrer Nachkommenschaft übertragen werden.[50]

Wie die Germanistin Katherina Hall festhält, handelt es sich dabei jedoch um ein zweischneidiges Schwert: Das Schweigen über die traumatische Vergangenheit, das Sascha einerseits schützen und ihm eine ungestörte Identitätsbildung ermöglichen soll, versperrt ihm andererseits den Zugang zu einem wichtigen Teil der Familiengeschichte, die fundamentaler Bestandteil seiner Identität wäre. Dadurch, dass er über die persönlichen Geschichten seiner jüdischen Vorfahren nichts weiß, kann er auch keine individuelle Beziehung zu ihnen aufbauen. Sie gehen als Individuen für ihn verloren.[51]

Eine weitere Folge dieser Entwurzelung durch Verschweigen scheint die Entfremdung Saschas von seinen Eltern zu sein. Sein Vater, der nach der Scheidung von der Mutter aus seinem Leben verschwand, bleibt bis zu dessen Tod ein Fremder für ihn und auch seine Mutter sieht er selten und hat fast keine Erinnerung an sie (24).

Diese Nicht-Beziehung und Fremdheit wird z.B. durch die kurze fast beiläufige Erwähnung des Todes der Eltern, der an und für sich ein entscheidendes Ereignis im Leben eines Menschen darstellt, unterstrichen. Der Tod der Eltern ist dabei weder Subjekt noch Objekt im Satz, sondern Adverbialbestimmung der Zeit. Subjekt ist das Pronomen „ich“, also Sascha, Objekt ein geerbter Silberkasten, der die Tagebuchaufzeichnungen seines väterlichen Großvaters, d.h. einen Teil Familiengeschichte enthält:

„Als ich nach dem Tod meiner Eltern, die obwohl schon seit Jahren geschieden, bei einem Verkehrsunfall im selben Auto ums Leben gekommen waren, beim Notar den silbernen Kasten in Empfang nahm, […], wunderte ich mich, dass dieser so schwer war.“ (11)

Der Tod der Eltern hat also nur die Bedeutung eines zeitlichen Orientierungspunktes. Der spätere Hinweis im Roman, dass Sascha zwar, selbst wenn er Schmerz empfunden hätte, kaum um sie getrauert habe, könnte als ein zusätzlicher Hinweis auf die Gefühlsabgeschnittenheit Saschas von ihnen verstanden werden (36). Wie seine Vorfahren sind auch sie für ihn aufgrund der Nicht-Tradierung ihrer Geschichte verloren gegangen.

Der Leser erfährt im Laufe der Erzählung nur wenig über den Vater und kaum etwas über die Mutter. Auf diese Weise bleiben sie ihm genauso fremd wie dem Erzähler.

Die daraus folgende innere Orientierungslosigkeit und Verwirrung wird gleichfalls durch den Erzählstil veranschaulicht.

Der Protagonist springt ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her und vermischt darüber hinaus Tatsachen mit Fiktion, was auch im Leser Orientierungslosigkeit und Konfusion erzeugt. Dies führt so weit, dass der Leser manchmal nicht mehr weiß, von wem der Ich-Erzähler spricht und wann die erzählten Ereignisse stattgefunden haben, ob in der Gegenwart oder in der Vergangenheit.

Ein Beispiel dafür befindet sich gleich am Beginn des Romans:

Im ersten Kapitel, in dem der Leser erfährt, dass der Ich-Erzähler in Erbschaftsangelegenheiten nach München gekommen ist, erwähnt der Protagonist ein kleines Haus:

„Ich wäre am liebsten noch […] bis nach Grünwald gefahren, wo der Vater meiner Mutter ein kleines Haus besaß, unser Haus.“ (9)

Der Leser hat also den Eindruck, dass der Großvater mütterlicherseits noch lebt. Dieser ist jedoch, wie Sascha später im Kapitel 12 erzählt, bereits verstorben, als er zwölf Jahre alt war (58).

Ohne weiteren Bezug auf den Großvater zu nehmen, beginnt das zweite Kapitel mit dem Satz: „Großvater hatte nur einen kurzen Abschiedsbrief hinterlassen.“ (11). Der Leser geht also davon aus, dass der Großvater mütterlicherseits doch verstorben ist und es sich um dessen Hinterlassenschaft handelt, wird aber schon durch den nächsten Satz verwirrt, in dem er vom Unfalltod beider Eltern erfährt.

Wer ist nun wann gestorben? Um wessen Hinterlassenschaft geht es?

Genau wie Sascha in Bezug auf seine als Kind unbeantworteten Fragen wird auch der Leser mit diesen Fragen alleine gelassen und erfährt vorerst nichts Näheres dazu. Ganz im Gegenteil wird seine Verwirrung noch größer, als er nach einem abrupten Themenwechsel, in dem Sascha über die Formalitäten der Erbschaftsabwicklung und über Geld spricht, plötzlich entdeckt, dass der Großvater nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Land lebte, das erst im Folgeabsatz als die Türkei identifizierbar wird. Was wiederum die Frage aufwirft, um welchen Großvater es sich nun hier tatsächlich handelt – um den Großvater mütterlicherseits oder väterlicherseits?

Der Leser befindet sich dadurch gleich von Beginn des Romans an in der gleichen Situation wie der Protagonist und die gleichen Gefühle werden für ihn erfahrbar: Absolute Verwirrung und Orientierungslosigkeit aufgrund unbeantworteter Fragen, einer Mauer des Schweigens und des Abschweifens in Alltägliches.

Er muss sich, so wie letztendlich der Protagonist auch, vorerst damit begnügen zu resignieren und abzuwarten („Ich will keine Rätsel lösen.“ 15).

Erst auf Seite 20 erfährt er, dass der Ich-Erzähler auf „Heimatsuche“ ist. Langsam tauchen immer wieder Hinweise auf dessen Fremdheit und Abgeschnittenheit auf, bis erst gegen Mitte des Romans, nach vielen Exkursen, die jüdisch-deutsch-türkische Herkunft des Protagonisten erwähnt und die Problematik deutlicher wird (53).

Auch bezüglich des Opfer- und Tätererbes Saschas wird dieselbe Strategie verwendet: Sascha stellt auf Seite 40 fest, dass er der „Erbe von Opfern und Tätern“ ist. Worin dieses Erbe jedoch genau besteht, bleibt, bis auf einige Andeutungen in Bezug auf Völkermord, vorerst ungeklärt.

Diese Verzögerung in der Erzählung erzeugt im Leser neben der Orientierungslosigkeit auch das Gefühl, dass etwas Schwerwiegendes vor ihm verborgen wird und die Ahnung, dass dieses „Etwas“ der Grund für seine Orientierungslosigkeit sein könnte. Es entsteht in ihm eine unbehagliche Neugier, die der des Protagonisten in Bezug auf die Tagebücher seines türkischen Großvaters sehr ähnlich ist.

Mittels dieser eben besprochenen Erzählstrategien, die die Gefühle der Entwurzelung des Protagonisten für den Leser erfahrbar machen, entsteht zwischen dem Leser und dem Ich-Erzähler ein Näheverhältnis, auf dessen Bedeutung ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch näher eingehen werde.

Im Gegensatz zu Sascha Muhteschem fühlt sich der fiktive Ich-Erzähler von Murmures à Beyoğlu als Kind zutiefst mit seiner türkischen Großfamilie und seiner Heimatstadt Istanbul verbunden (74). Diese Verbindung reißt jedoch jäh ab, als der Elfjährige seinem Vater nach Paris ins Exil folgen muss.

Es kommt zu einem inneren Bruch, der die Verwerfung seiner türkischen Wurzeln zur Folge hat: Er verdrängt jegliche Erinnerung an Istanbul, und seine türkische Muttersprache wird zur „anderen Sprache“, die er zwar noch versteht, die er sich aber weigert zu sprechen. Als Erwachsener sieht man ihm den Bruch in seiner Seele sogar manchmal an: „Parfois on me regardait comme ça à Londres. Comme un individu brisé, un homme qui était loin.“ (205).

Dieser Bruch spiegelt sich auf mehreren Ebenen des Romans wider. Auch hier werden, wie in Gefährliche Verwandtschaft, Erzählformen verwendet, welche die Gefühle des Protagonisten in Bezug auf seine Entwurzelung für den Leser erfahrbar machen:

Die Erzählperspektive teilt sich in zwei verschiedene Blickwinkel: den des Kind-Ich-Erzählers und den des erwachsenen Ich-Erzählers. Der Wechsel der Perspektive hat zur Folge, dass sich der Leser, der sich nach den ersten drei Kapiteln langsam ein Bild zu formen begonnen hat, plötzlich und völlig unvorbereitet mit Anfang des vierten Kapitels in einer neuen Umgebung sowie einem neuen Land wiederfindet und sich darüber hinaus mit bisher völlig unbekannten Nebenfiguren konfrontiert sieht. Er wird also in gewisser Weise, genau wie der Ich-Erzähler in seinem Leben, bereits kurz nach dem Beginn, d.h. nachdem die ersten Sicherheiten entstanden sind, „entwurzelt“.

Dieses Erfahren der jähen Entwurzelung aus dem gewohnten Umfeld und des Hineingeworfenwerdens in neue Zusammenhänge wird den ganzen Roman hindurch in unregelmäßigen Abständen durch den wiederholten Wechsel zwischen dem Blickwinkel des Erwachsenen und dem des Kindes im Leser erneuert und dadurch intensiviert.

Auch die Chronologie innerhalb beider Erzählungen wird immer wieder unterbrochen. Der Leser weiß nie, in welchen Teil der Kind- oder Erwachsenen-Ich-Erzählung er im nächsten Kapitel hineinkatapultiert werden wird: Ist es die Vergangenheit oder die Gegenwart des Kind- oder Erwachsenen-Ich-Erzählers? Dies macht es für ihn unmöglich, ein Zentrum zu finden oder einen festen Standpunkt einzunehmen.

Auf diese Weise gesellt sich zur intensiven Erfahrung der Entwurzelung, d.h. der momentanen Verloren- und Orientierungslosigkeit, die Erfahrung einer ruhelosen Unsicherheit.

Hinzu kommt, dass Vergangenheit und Gegenwart auf zeitlicher Ebene vertauscht werden. D.h. bei der Wiedergabe der Kindheitserinnerungen verwendet der Autor das französische Perfekt, das zu den Tempora des Präsens gehört, und bei der Erzählung des erwachsenen Ich-Erzählers die Tempora der Vergangenheit. Diese Zeitumkehrung von der Vergangenheit in die Gegenwart und der Gegenwart in die Vergangenheit erlaubt es, einerseits die Vergangenheit, die vom erwachsenen Ich-Erzähler verdrängt wurde, stilistisch zu aktualisieren, sie lebendig zu erhalten und dadurch ihre fortdauernde Wirkung auf die Gegenwart des erwachsenen Ich-Erzählers zu unterstreichen und andererseits die tatsächliche Gegenwart des erwachsenen Ich-Erzählers genau dieser Lebendigkeit zu berauben sowie zusätzlich die Chronologie der Zeit aufzuheben.

Für den Leser geht durch diesen letzten Aspekt auch der zeitliche Anhalts- und Orientierungspunkt verloren.

Er wird, so wie der Ich-Erzähler, entwurzelt und erfährt dessen innere Unruhe, Halt- und Orientierungslosigkeit – einen Gemütszustand, den der erwachsene Ich-Erzähler folgendermaßen in Worte fasst: „J’étais comme un vaisseau privé de quille et de boussole“ (13).

Im Leben des Protagonisten wird der Bruch u.a. besonders in der veränderten Beziehung zum Vater deutlich, dem nicht fiktiven Pertev Naili Boratav[52], und zu seiner in Istanbul lebenden Großfamilie:

Für den Jungen hat der Vater eine Vorbildfunktion. Er ist stolz auf ihn, sieht zu ihm auf, begleitet ihn oft bei seinen Spaziergängen oder Besorgungen im Stadtviertel, beobachtet ihn, lernt von ihm und unterstreicht, als dieser schon im Exil ist, seine liebende Bewunderung ihm gegenüber durch die Aussage: „Quoi qu’il advienne, même en cas d’espionnage, je serai toujours du côté du père.“ (45ff, 62, 213, 244).

Der erwachsene Ich-Erzähler dagegen hat kaum mehr Verbindung zu seinem Vater. Er empfindet das langjährige Schweigen zwischen seinem Vater und sich als Last (24). Dieser ist in seinen Augen das geheimnisvollste Wesen, das er jemals gekannt hat und er hat den Eindruck, dass seine Fragen an ihn ihm immer lästig waren (23). Er denkt, dass die Arbeit des Vaters nichts wert sei und hat auch nie eine von seinen international viel beachteten Veröffentlichungen von Gedichten und über türkische Erzählungen gelesen (169, 59).

Die gleiche jähe Distanzierung prägt auch das Verhältnis zu den Verwandten, die doch essentieller Bestandteil der Welt des Kind-Ich-Erzählers gewesen waren. Werden sie in ihrem Aussehen, ihren Geschmacksrichtungen und Überzeugungen in den Kapiteln „Yenikapı, 1935“, „Ömer“, „Belma“ und „Adnan“ vom Kind-Ich-Erzähler ausführlich beschrieben, so bleiben sie in der Erwachsenenerzählung völlig unerwähnt. Der erwachsene Protagonist scheint alle Gedanken und Gefühle, die ihn an die schmerzliche Erfahrung der Entwurzelung erinnern könnten, verdrängt zu haben und wird auch nicht versuchen, während seines Aufenthaltes in Istanbul, ca. vierzig Jahre später, den Kontakt zu ihnen wiederherzustellen (132).

Auch mittels der Ortsbeschreibungen wird der Leser mit zwei klar voneinander getrennten Erlebniswelten konfrontiert: Der Kind-Ich-Erzähler ist durch all seine Sinne mit seiner Welt verbunden, der jugendliche und erwachsene Ich-Erzähler dagegen treibt fremd, distanziert, gefühlstaub und ruhelos in der seinen umher.

Diese Verbundenheit des Kind-Ich-Erzählers kommt durch einen sehr lebendigen, kindlich - offenen Erzählstil zum Ausdruck. Der Leser begleitet den Kind-Erzähler, der sich als König Istanbuls fühlt, auf seinen detailliert erzählten, alle sechs Sinne ansprechenden Streifzügen durch die Stadt (161). Der Ort ist voller Farben, Geräusche, Geschmäcke, Gerüche und Geschichten (75f, 113f, 128, 160f, 212f).

Paris, die Exilstadt seiner Eltern und der Ort seiner Jugend, wird im Gegensatz dazu vom erwachsenen Ich-Erzähler als fremd beschrieben und als Stadt, die seinen ruhelosen Zustand reflektiert:

„À Paris […] je ne m’étais jamais senti chez moi, cela seyait à mon état et semblait coller aux symptômes de l’angoisse chronique que j’avais contractée ces derniers mois […] mon dégoût de Paris s’intensifia encore, comme si j’avais là à mes pieds les raisons […] de l’horreur que m’inspiraient les regards qu’on échangeait dans cette ville, la langue étrangère qu’on y parlait, la géographie encombrée, soi-disant rationnelle qui y régnait.“ (25)

Auch London, wo der Protagonist als Erwachsener lebt, vermittelt in seiner Beschreibung ein Gefühl der Unwirtlichkeit und Kälte. Das Fremdheitsgefühl ist zwar etwas schwächer, besteht aber weiterhin:

„Londres était une ville à l’humidité pétrifiante, une ville de brique et de ferraille, d’eau croupie et de sable noir, de doubles voies, de rues trop étroites et d’immeubles de verre ; […] Je me sentais moins étranger à Londres et à son cosmopolitisme nivelé que je ne l’étais à ma propre douleur.“ (42)

Diese Aufspaltung in zwei Leben weist darauf hin, dass es sich bei den im Roman viel thematisierten körperlichen und seelischen Beschwerden des erwachsenen Ich-Erzählers um posttraumatische Symptome im Sinne der Psychologie handeln könnte. Auch wenn dies mehrmals vom Protagonisten, der sein Leiden und seine gespaltene Persönlichkeit als Fatalität ansieht, angezweifelt wird, so unterstreicht die Psychoanalyse, der er sich unterzieht, die Vermutung (16, 20, 107f).

Besagte Symptome werden im Laufe des Romans immer wieder zur Sprache gebracht: Verdrängung der Erinnerung an das Leben vor dem Aufbruch ins Exil, weil es schmerzt (106), Weigerung, nach Istanbul zu reisen (58ff), Abstumpfung der Sinne (52), emotionale Taubheit (23f, 81), monatelange Schlaflosigkeit (13), vermehrte Wut auf die Mutter (102f), sowie gestiegene Wachsamkeit gegenüber Gefahrenreizen (13).

Damit wird deutlich, dass die Spaltung und daraus resultierende Identitätslosigkeit des Protagonisten nicht die Folge einer multikulturellen Identität ist, die sich durch ein zusätzliches Leben in Paris und London herangebildet hat, sondern, dass es sich um die Konsequenzen des Umgangs mit einem traumatischen Kindheitserlebnis handelt, dessen innerliche Tradierung vom Protagonisten selbst unterbrochen worden ist. Anstatt sein Leben als einheitlichen Prozess zu erfahren, ist der erwachsene Ich-Erzähler dadurch in der Dichotomie des Vorher und Nachher, des Eigenen und Fremden gefangen, worauf auch die mehrmaligen Anspielungen auf zwei Seelen in seiner Brust hinweisen (53f, 106).

Insofern ist in beiden Romanen die Ursache der Identitätslosigkeit der Protagonisten eine Folge der Nicht-Tradierung von Geschichte, auch wenn sie von den Autoren auf verschiedene Weise narrativ dargestellt wird.

[...]


[1] WEBER, Angela, Im Spiegel der Migrationen, Bielefeld, transcript Verlag, 2009. S. 10.

[2] Maulana Dschelaladdin Rumi (1207-1273) war einer der bedeutendsten persischen Dichter, Gelehrten und Mystiker des Mittelalters. Als seine Hauptwerke gelten das 25.700 Verszeilen umfassende Gedicht Mathnaw, die 35.000zeilige Dichtung Der Diwan von Shams-e Tabrizi und die Prosasammlungen einiger seiner Vorträge Von Allem und vom Einem und Madschalis-i Sab’a, aus der dieses Zitat stammt.

[3] Duden Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, Dudenverlag, 6. Auflage, 2007.

[4] ŞENOCAK, Zafer, Gefährliche Verwandtschaft, München, Babel Verlag, 1998. Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen verweisen auf diese Ausgabe.

[5] 1. Band: Der Mann im Unterhemd (1995), 2. Band: Die Prärie (1997), 4. Band: Der Erottomane (1999). Die vier Bände sind vor allem thematisch verknüpft. Sie behandeln auf unterschiedliche Weise die Identitätssuche von durch Migration kulturell gespaltenen Protagonisten.

[6] BORATAV, David, Murmures à Beyoğlu, Paris, Gallimard, 2009. Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen verweisen auf diese Ausgabe.

[7] HERDER, Johann Gottfried, Idées pour la philosophie de l’histoire de l’humanité - Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Coll. bilingue, Paris, Aubier éditions Montaigne, 1962.

[8] HERDER, J. G., Une autre philosophie de l’histoire - Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Coll. bilingue, Paris, Aubier éditions Montaigne, 1964.

[9] Vgl. ROUCHÉ, Max, „Einleitung“, in: HERDER, J. G., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 41 ff.

[10] Herder reagiert mit seinem Kulturbegriff u.a. auf die zu seiner Zeit auch in Deutschland dominierende universalistische Strömung der französischen Aufklärer (vgl. ROUCHÉ, Max, „Einleitung“, in: HERDER, J. G., Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, S. 8ff.). Er kritisiert den Universalismus, indem er z.B. in einem partikularistischen und religiösen Ansatz die von Gott gewollte Einzigartigkeit und Vergänglichkeit der unterschiedlichen Kulturen hervorhebt, sowie auch auf die Verschiedenheit der Geschichtsepochen hinweist. Sein Verständnis von „Nationalism“ unterscheidet sich durch seine religiös bestimmte, sich auf das ganze Universum beziehende, kosmopolitische Auffassung vom extremistischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts (vgl. ROUCHÉ, Max, „Einleitung“, in: HERDER, J. G., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 42).

[11] HERDER, J. G., Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, S. 182.

[12] SPEICH CHASSÉ, Daniel, „Die politische Philosophie der Nation bei Kant, Herder, Fichte und Hegel“, Manuskript, Zürich, 1997, S. 14ff.

[13] HERDER, J. G., Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, S. 184.

[14] ibid.

[15] ibid.

[16] SAID, Edward, Orientalism, New York, Vintage, 1979.

[17] Saids Untersuchung löste nach ihrem Erscheinen heftige Kontroversen aus. Sie bleibt aber trotz der Anfechtungen in ihren Grundzügen weiterhin ein wichtiger Beitrag in der Diskussion um ein neues Kulturverständnis.

[18] BOURGEON, Laurence, „Rencontre avec David Boratav“, Dez. 2009.

[19] Der „Lagarde und Michard“ wurde nach seinen Autoren, den Romanistikprofessoren André Lagarde und Laurent Michard, benannt, erschien zum ersten Mal 1948 im Verlag Bordas und zählt zu den meistedierten Handbüchern Frankreichs. Es handelt sich dabei das sechsbändige Standardwerk des französischen Literaturunterrichtes der Sekundarstufe, das vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert ausgewählte Textausschnitte der französischen Literatur präsentiert, kommentiert sowie direkte Fragen an die Schüler stellt. In den 1980er Jahren wurde der „Lagarde und Michard“ aus dem Unterricht entfernt, da die chronologische Herangehensweise der Autoren und die Textauswahl als zu konformistisch kritisiert wurden. Er gilt jedoch auch heute noch als Standardwerk und wird, inhaltlich unverändert, seit 2003 wieder neu aufgelegt. (Vgl: http://www.evene.fr/livres/actualite/lagarde-michard-bordas-1726.php)

[20] Zitiert nach GHADBAN, Ralph, „Der Multikulturalismus als Ideologie der Desintegration“, in: Conturen 3/4, Wien, Holos Verlag, 2005, S. 7.

[21] Vgl. GEIßLER, Rainer, „Multikulturalismus in Kanada – Modell für Deutschland?“, Das Parlament, Beilage: Politik und Zeitgeschichte, Nr. B26, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, 2003 und ALLOLIO-NÄCKE, Lars, „Multikulturalität“, in: ALLOLIO-NÄCKE, Lars, KALSCHEUER, Britta, MANZESCHKE, Arne (Hg.), Differenzen anders denken, Frankfurt/Main, Campus, 2005, S. 152.

[22] Vgl. „Merkel: Multikulti ist absolut gescheitert“, Süddeutsche Zeitung, 16.10.2010, FALLOON, Matt, „Multiculturalism has failed in Britain – Cameron“, Reuters, 05.02.2011, EQUY, Laure, „Multiculturalisme: Sarkozy déplace le débat“, Libération, 11.02.2011.

[23] TAYLOR, Charles, „Demokratie und Ausgrenzung“ (2002), in: ALLOLIO-NÄCKE, Lars, KALSCHEUER, Britta, MANZESCHKE, Arne (Hg.), Differenzen anders denken, Frankfurt/Main, Campus, 2005, S. 186ff.

[24] ibid., S. 189.

[25] ibid., S. 189.

[26] ibid., S. 190.

[27] ibid., S. 193.

[28] GHADBAN, R., „Der Multikulturalismus als Ideologie der Desintegration“, S. 7.

[29] Deutsche Werke von „Autoren mit Migrationshintergrund“ werden bis heute in der deutschen Literaturwelt als eine Art „Nischenphänomen“ behandelt und unter Begriffen wie „Migrationsliteratur“ oder „interkulturelle Literatur“ eingeordnet. Da diese Werke in vielen Fällen von Autoren aus der 1. oder 2. Generation stammen, die selbst nie migriert, sondern in Deutschland geboren und aufgewachsen sind bzw. oft andere Themen als das der Migration behandeln, ist diese Kategorisierung höchst problematisch und führt zu heftigen Kontroversen in der deutschen Literaturwissenschaft. Ein ähnliches Phänomen ist z.B. auch bei der Differenzierung von französischer und frankophoner Literatur sowie von britischer und Commonwealth Literatur zu beobachten.

[30] ADELSON, Leslie A., „Against Between - Ein Manifest gegen das Dazwischen“, in: ARNOLD, Heinz Ludwig (Hg.), TEXT + KRITIK - Literatur und Migration, München, Boorberg Verlag, 2006, S. 38f.

[31] ibid.

[32] Zitiert nach ADELSON, L. A., „Against Between - Ein Manifest gegen das Dazwischen“, S. 40.

[33] SEGELCKE, Elke, „Zafer Şenocak im Gespräch“, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies, Vol. XLVI, Nr. 1, Toronto, University of Toronto Press for the Association, 2010, S. 92ff.

[34] ŞENOCAK, Zafer, „Der Dichter und die Deserteure“, in: ders.: War Hitler Araber? IrreFührungen an den Rand Europas, Berlin, Babel, 1994, S. 28.

[35] ŞENOCAK, Z., „Jenseits der Landessprache“, in: ders.: Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation, München, Babel, 2001, S. 90.

[36] ADELSON, L. A., „Against Between - Ein Manifest gegen das Dazwischen“, S. 39.

[37] WELSCH, Wolfgang, „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“, in: SCHNEIDER, Irmela, THOMSON, Christian W. (Hg.), Hybridkultur: Medien, Netze, Künste, Köln, Wienand, 1997, S. 69.

[38] ibid., S. 70.

[39] ibid., S. 71.

[40] ibid., S. 68.

[41] ibid., S. 78.

[42] ibid., S. 71.

[43] COLLI, Giorgio, MONTINARI, Mazzino (Hg.), Friedrich Nietzsche. Nachlaß 1887 – 1889, München, dtv, 1999, S. 93.

[44] WELSCH, W. „Transkulturalität“, S. 77.

[45] Vgl. RATHJE, Stephanie, „Der Kulturbegriff. Ein anwendungsorientierter Vorschlag zur Generalüberholung“ in: MOOSMÜLLER, Alois (Hg.), Konzepte kultureller Differenz, Münster, Waxmann, 2009, S. 86f und UNTERHOLZNER, David, „Zum Begriff der ‚Transkulturalität’ bei Wolfgang Welsch“, Seminararbeit, Universität Wien, 2004, S. 17f.

[46] WELSCH, W., „Transkulturalität“, S. 75.

[47] ibid..

[48] WEBER, A., Im Spiegel der Migrationen, S. 53.

[49] Vgl. LITTLER, Margaret, „Guilt, Victimhood, and Identity in Zafer Şenocak’s Gefährliche Verwandtschaft “, in: The German Quaterly, Bd. 78, Nr. 3, Oxford, Wiley-Blackwell, 2005, S. 359.

[50] Vgl. HAAS, Aaron, In the Schadow of the Holocaust: The Second Generation, Cambridge, Cambridge University Press, 1990, S. 8.

[51] HALL, Katherina, „“Bekanntlich sind Dreiecksbeziehungen am kompliziertesten: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak’s Gefährliche Verwandtschaft “, in: German Life and Letters, Vol. 56/1, Oxford, Wiley Blackwell, 2003, S. 77.

[52] Pertev Naili Boratav (1907 – 1998) war ein international anerkannter türkischer Gelehrter, Folklorist, Übersetzer sowie Herausgeber und gilt als Vorreiter der Turkologie. Er war davon überzeugt, dass die Volksliteratur eine der wichtigsten Quellen der türkischen Kultur darstelle und konzentrierte seine Forschungsarbeiten auf die anatolische Tradition und die Tradition der Aşık (Geschichtenerzähler und Volksliedsänger). Zwischen 1938 und 1948 gelang es ihm durch seine vielen Reisen vor Ort eines der bis heute bedeutendsten Archive von mündlich überlieferten türkischen Volksmärchen, Kinderspielen, Volksliedern, lustigen Geschichten, Gedichten und Theaterstücken anzulegen. Ab 1946 bekleidete er den ersten Lehrstuhl für folkloristische Studien an der Universität Ankara. Politisch sprach sich Boratav für akademische Freiheit, Pressefreiheit und die Menschenrechte aus und musste 1948, nachdem er aufgrund seiner marxistischen Ansichten seiner Professur enthoben worden war, die Türkei verlassen. Nach einem zweijährigen Lehrauftrag an der Standford Universität in den USA, übersiedelte er nach Paris, wo er von 1952 bis zu seiner Rente 1974 Mitglied des CNRS (Centre national de la recherche scientifique) war.

Ende der Leseprobe aus 103 Seiten

Details

Titel
Literatur als Raum zur Entwicklung eines kulturenverbindenden Identitätsbewusstseins
Untertitel
"Murmures à Beyoğlu" von David Boratav und "Gefährliche Verwandtschaft" von Zafer Şenocak. Eine vergleichende Studie
Hochschule
Université de Picardie Jules Verne  (UFR de Cultures et Langues Étrangères, dep. Allemand)
Note
18/20
Autor
Jahr
2013
Seiten
103
Katalognummer
V369629
ISBN (eBook)
9783668479562
ISBN (Buch)
9783668479579
Dateigröße
1089 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Senocak, Literatur Identitätsfindung, Boratav, Gefährliche Verwandschaft, Transkulturalität, Migrationsliteratur, kulturüberschreitende Identität, Türkei Deutschland Armenien, grenzübergreifende Literatur, Literatur und kulturelle Grenzen, Murmures à Beyoglu, kulturelle Identität Literatur
Arbeit zitieren
Gerlinde Kössler (Autor:in), 2013, Literatur als Raum zur Entwicklung eines kulturenverbindenden Identitätsbewusstseins, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/369629

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Literatur als Raum zur Entwicklung eines kulturenverbindenden Identitätsbewusstseins



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden