Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Annäherung an das Thema sexualisierte Gewalt
2.1 Begriffsdefinition
2.2 Wer sind die Täterinnen?
2.3 Täterinnenstrategien
2.4 Sexualisierte Gewalt als Kindeswohlgefährdung
3 Auswirkungen von sexualisierter Gewalt aufKinder
3.1 Das Trauma
3.2 Geschichte der Bindungstheorie
3.3 Bindungs- und Beziehungsfähigkeit
3.4 Bindungsschwierigkeiten als Folge sexualisierter Gewalt
4 Professionelle Hilfe und Beziehungsgestaltung
4.1 Anforderungen an Fachkräfte (Sozialarbeiterinnen) als Bezugspersonen
4.1.1 Fachkompetenz
4.1.2 Methodenkompetenz
4.1.3 Sozial- und Selbstkompetenzen
6 Die Inobhutnahme als Ausweg
6.1 Rechtsgrundlagen
6.2 Möglichkeiten und Ziele
7 Fazit der Arbeit
8 Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Bekanntheitsgrad der Täterinnen (Prozentangaben)
Abbildung 2: Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täterin
Abbildung 3: Das Trauma in der Polyvagal-Theorie (PVT)
Abbildung 4: Kreis der Sicherheit
Abbildung 5: Die Episoden der Fremden Situation (nach Ainsworth et al. 1978)
Abbildung 6: Die Handlungskompetenzen
Abbildung 7: Inhalte zur Qualifizierung der Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen
1 Einleitung
„Nina, 2 Jahre, berichtet, dass der „Papa mit seinem Stritzer“ an ihrer Scheide gewesen war. Der Vater erklärt: ,, 'Während eines sexuellen Traums hatte ich einen Samenerguss. Dadurch wachte ich auf - und da lag Nina zufällig mit ihrer Scheide auf meinem Penis.“
,, Torsten, 3 Jahre, erlitt durch Analverkehr blutende Verletzungen. Sein Vater „Ich muss es wohl getan haben, aber ich weiß nichts mehr, hab einen Blackout.““[1] [2]
„Beate, 5 Jahre, hält das mit dem Stiefvater Erlebte für völlig natürlich: Sie fordert mich bei der Erstbegegnung auf, sie unten zu lecken, und versucht, mir an den Penis zu greifen.“[3]
Sexualisierte Gewalt ist ein verschwiegenes Thema. Die wenigsten Betroffenen können direkt offen über ihre Erfahrungen sprechen. Auch Kindern fällt das schwer, da sie oftmals von ihren Tätern stark beeinflusst werden und sie die sexualisierten Gewalterfahrungen nicht richtig einordnen können.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt innerhalb der Familie, zwischen Eltern und ihren Kindern und soll diese Problematik näher beleuchten.
Die sexualisierte Gewalt an Kindern durch ihre Eltern tritt in vielen unterschiedlichen Formen und Konstellationen auf. Die oben genannten Fallbeispiele sind nur ein Bruchteil an Auszügen von Erfahrungen der grausamen Taten, die Kindern tagtäglich in Deutschland und weltweit zugefügt werden.
In den obenstehenden Zitaten ist bereits zu erkennen, dass das Erlebte von den Kindern unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet wird. Die möglichen aus der sexualisierten Gewalt resultierenden Folgen und Auswirkungen sind aufgrund dessen sehr vielseitig und lassen sich nicht verallgemeinern. Welches Ausmaß die Folgen haben können, wird diese Arbeit zeigen.
Sie befasst sich mit den konkreten Auswirkungen auf die Bindungsfähigkeit der Kinder und stellt dar, wie diese durch sexualisierte Gewalt beeinflusst wird.
Hierzu wird zunächst eine Einführung in das Thema gegeben, um anschließend die betroffenen Personen und deren Umfeld näher betrachten zu können. Hierbei ist es von großer Bedeutung für das Gesamtverständnis neben den Opfern auch einen Blick auf die Täterinnen zu werfen. Nach Betrachtung der Täterinnen und deren Strategien und Vorgehensweisen in Bezug auf die sexualisierte Gewalt, werden die Auswirkungen auf die Kinder geschildert. Um den Bezug zur Bindungsfähigkeit herstellen zu können, bedarf es einer theoretischen Grundlage. Diese wird in den Unterkapiteln 3.1, 3.2 und 3.3 gelegt. Dieses bietet zum einen eine Definition und einen kurzgefassten Erklärungsansatz zum Thema Traumatisierung während der sexualisierten Gewalterfahrungen. Es wird erläutert, wie sich das Trauma auswirkt, um die Verbindung zur Bindungsfähigkeit herzustellen. Hierfür ist es zum anderen wichtig, die Grundzüge und Entstehungsgeschichte der Bindungstheorie zu kennen. Dazu werden im Unterkapitel 3.2 zwei bedeutende Charaktere der Bindungstheorie und Bindungsforschung und ihre Erkenntnisse vorgestellt. Auch ist es von Bedeutung zu wissen, was unter Bindungsfähigkeit verstanden und woran sie gemessen wird. Hierzu gibtKapitel 3.3 Aufschluss.
Sind die grundlegenden Kenntnisse zum Thema sexualisierte Gewalt, den Täterinnen und ihren Strategien, den Traumatisierungsprozess, der Bindungstheorie sowie der Bindungsfähigkeit gegeben, ist es möglich die Auswirkungen der Traumatisierung infolge von sexualisierter Gewalt auf die Bindungsfähigkeit zu beziehen.
Dies wird im Kapitel 3.4 genauer beleuchtet und analysiert, in welchem Kontext die Bindungsfähigkeit steht.
Im anschließenden Teil der Arbeit (Kapitel 4) geht es um die Zusammenarbeit mit den Betroffenen und die Anforderungen an die Sozialarbeiterinnen. Es sollen die benötigten Kompetenzen, die im Umgang mit Kindern, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, von Bedeutung sind, aufgezeigt werden. Hierbei bezieht sich die Arbeit auf Fachkräfte, unter anderem Sozialarbeiterinnen, die in Kindertagesstätten oder anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen tätig sind.
Handlungsmöglichkeiten bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch Symptome und Auffälligkeiten werden ebenso thematisiert wie die Situationen, in denen Kinder selbst von ihren konkreten Erfahrungen berichten. Da dies aber deutlich seltener der Fall ist, ist von umso höher Bedeutung, dass die Fachkräfte ausreichend dahingehend geschult und sensibilisiert sind Taten von sexualisierter Gewalt zu erkennen. Wie gut die Fachkräfte bereits geschult sind und ob das ausreichend ist, um betroffenen Kindern die benötigte Unterstützung bieten zu können, untersucht das vierte Kapitel. Es wird aufzeigen ob und wenn ja wie und in welcher Art und Weise Handlungsbedarf in Form von Qualifizierungsmaßnahmen für Fachkräfte, insbesondere Sozialarbeiterinnen besteht.
Die Herangehensweise der Sozialarbeiterinnen im Umgang mit den betroffenen Kindern wird hier unter dem Gesichtspunkt des lebensweltorientierten Ansatzes betrachtet. Die Grundlagen dieser Theorie werden für diese Arbeit vorausgesetzt und aufgrund dessen nicht näher erörtert.
Das letzte Kapitel der Arbeit beschreibt abschließend die weitere Vorgehensweise im Falle von sexualisierter Gewalt in Form einer Inobhutnahme. Dies ist in vielen Fällen des innerfamiliären Missbrauchs notwendig und eine Betrachtung ist somit in dieser Arbeit obligatorisch. Beschrieben werden hier die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Voraussetzungen und Ziele einer Inobhutnahme. Schlussendlich schließt die vorliegende Arbeit mit einem aus der Recherche gewonnenen Fazit.
2 Annäherung an das Thema sexualisierte Gewalt
2.1 Begriffsdefinition
Die Definitionen zum Thema sexualisierte Gewalt sind in der Fachliteratur vielzählig, aber zum Teil sehr verschieden dargestellt, was dazu führen kann, dass es „bei Diskussionen und bei der Interpretation von Daten und Fakten zu erheblichen Missverständnissen und Fehlinterpretationen [,..]“[4] kommt.
Somit wird im Folgenden der Begriff der sexualisierten Gewalt zunächst so definiert, wie er für die vorliegende Arbeit relevant ist.
Zum allgemeinen Verständnis und als Grundlage dieser Arbeit sind zunächst die Definitionen von Kindesmissbrauch und -misshandlung signifikanter Bedeutung. Hierzu gehören jegliche Formen der Behandlung von Kindern, „die zu einer tatsächlichen oder möglichen Schädigung der Gesundheit des Kindes, seines Überlebens, seiner Entwicklung oder seiner Würde führen.“[5] Kinder können auf ganz unterschiedliche Art misshandelt werden. Sexuelle, körperliche und psychische Gewalt und auch die Vernachlässigung zählen zu immer wieder vorkommenden Geschehnissen. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der sexualisierten Gewalt, weswegen auf diese Form im Folgenden genauer eingegangen wird.
Sexueller Missbrauch, sexuelle Ausbeutung, sexuelle (Kindes-)Misshandlung, Inzest, Pädosexualität, Seelenmord. Das alles sind Begrifflichkeiten die im Kontext sexualisierter Gewalt an Kindern verwendet werden.[6] Sie meinen jedoch unterschiedliche Handlungen und sind somit keineswegs synonym zu verwenden. So wird der sexuelle Missbrauch beispielsweise von Anne Dyer und Regina Steil in ihrem Werk „Starke Kinder“ wie folgt definiert:
„Als sexuellen Missbrauch bezeichnet man alle Handlungen, die eine ältere Person an einer jüngeren Person zur Befriedigung sexueller Interessen durchführt. Bei diesen Handlungen fehlt das Einverständnis. Es besteht keine Gleichheit zwischen den Beteiligten. Außerdem wird Zwang ausgeübt. Ein Übergriff findet also immer dann statt, wenn eine ältere Person eine jüngere auf irgendeine Weise dazu bringt, stillzuhalten oder etwas zu tun, was den eigenen sexuellen Interessen dient.“[7]
Hier wird als zentraler Punkt die Ungleichheit der betreffenden Personen beschrieben. Die Ungleichheit zeigt sich bei der Täter Opfer Konstellation von Erwachsenen und Kindern unter anderem in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis. Kinder sind emotional, rechtlich sozial und finanziell abhängig von den erwachsenen Personen, wodurch ein großes Beziehungs- und Machtgefälle entsteht. Aber auch anderswo, wo ungleiche Machtverhältnisse oder strukturelle Hierarchien bestehen, kommt es vermehrt zu sexuellen Übergriffen. Sexualisierte Gewalt ist also immer auch ein Machtmissbrauch.[8] Besonders gezeichnet hiervon sind, wie bereits genannt, Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, aber auch zwischen Betreuenden und Schutzbefohlenen sowie auch Frauen und Männern.[9] Außerdem sind in den Strukturen verschiedener Einrichtungen wie Schulen, Internaten, Heimen, Kirchen, Kliniken und Gefängnissen immanente Ungleichheits- und Machtverhältnisse wiederzufinden. Ebenso aber auch in Familien, worauf sich diese Arbeit speziell bezieht. Sobald ein Mensch die Macht über einen anderen erlangt, bietet sich die Möglichkeit für dessen Ausnutzung zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und auch zur Darstellung der eigenen Dominanz. Ist die Machtungleichheit von großer Bedeutung, steigt auch immer ein Stück weit die Gefahr eines sexualisierten Übergriffs.[10] Die sexuellen Handlungen werden von den Täterinnen eigennützig ausgeführt. Sexualisierte Gewalt definiert Deegener 2005 als „jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seiner körperlichen, emotionalen, geistigen oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann bzw. bei der es deswegen auch nicht in der Lage ist, sich hinreichend wehren oder verweigern zu können. Die Missbraucher/-innen nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition sowie die Liebe und Abhängigkeit der Kinder aus, um ihre eigenen (sexuellen, emotionalen und sozialen) Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen und diese zur Kooperation und Geheimhaltung zu veranlassen“.[11]
Ein Kind kann somit nie wissentlich ein Einverständnis geben, da es bei ihm an Unerfahrenheit und Kenntnissen mangelt und es sich in einer anderen psychosexueilen Entwicklungsstufe befindet und es somit nicht fähig ist abwägen zu können, wer der/die „richtige“ Sexualpartnerln sein kann. Zudem sind Kinder niemals in der Lage die Auswirkungen und Folgen der Handlungen einzuschätzen und dessen Folgen zu tragen. Die Entscheidung zu der Handlung wird also einzig und alleine von der älteren Person getroffen, welche hiermit ihre Macht über das Kind missbraucht.1213 Diese Arbeit verwendet bewusst den Begriff der sexualisierten Gewalt, denn dadurch wird verdeutlicht, dass sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern vorrangig eine Form von Gewalt bedeuten. Die sexuelle Handlung an sich steht dabei nicht im Vordergrund, sondern viel mehr die Macht, die durch die Gewalt verübt wird und die dadurch resultierende Abhängigkeit und das Ausgeliefertsein auf der Seite der Opfer.
2.2 Wer sind die Täterinnen?
Um das Ausmaß sexualisierter Gewalt richtig einschätzen zu können, ist es von herausragender Bedeutung neben den betroffenen Personenkreis auch ein Augenmerk auf den Kreis der Täterinnen zu legen. Hierbei stellt sich die Frage nach dem Bekanntheitsgrad der Täterinnen gegenüber ihren Opfern. Dieses Kapitel wird zeigen, dass es wichtig ist, bestimmte Personengruppen nicht als mögliche Täterinnen aufgrund ihrer Beziehung zum Opfer auszuschließen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Bekanntheitsgrad der Täterinnen (Prozentangaben)[12] [13] [14]
Die oben gezeigte Abbildung verdeutlicht, dass deutlich über 70% der Täterinnen von sexualisierter Gewalt an Kindern zu dem näheren sozialen Umfeld (Familienangehörige und Bekannte der Familie) des Kindes gehören. Der weitaus geringere Anteil an Tätern sind dem Kind unbekannte Personen (27%).[15]
1977 legte Wetzel mit seiner deutschen Studie mitunter den Grundstein im Wandel des Handelns gegen sexualisierte Gewalt indem er 3.289 Menschen zwischen 16 und 59 Jahren zu ihren Kindheitserfahrungen befragen ließ.
Von allen Befragten berichteten 29%, dass sie in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt durch einen Familienangehörigen erfahren haben. 2,6% der Frauen und 0,9% der Männer erfuhren vor ihrem 16. Lebensjahr sexualisierte Gewalt durch sehr nahestehende Angehörige, wie zum Beispiel (Stief-)Vater, Onkel, Großvater, Bruder. Die Täterinnen sind überwiegend männlichen Geschlechts, Frauen treten jedoch häufig als Mittäterinnen auf.[16] Bange beziffert den Anteil der weiblichen Täter bei Opfern weiblichen Geschlechts auf ca. 10% und bei Opfern männlichen Geschlechts auf 10% bis 20%. Zu erwähnen ist aber auch, dass es ebenso Studien gibt, bei denen der Frauenanteil an der Gesamttäterzahl deutlich höher ausfällt. Oftmals wird vermutet, dass die sexualisierte Gewalt von Frauen ausgehend deutlich harmloser ist als die der Männer. Dem ist keineswegs so, Frauen agieren meistens anders als Männer, was aber zumeist keinen Unterschied hinsichtlich der Folgen und Auswirkungen des Missbrauchs macht.[17]
Neben der eingangs genannten Studie von Wetzel aus dem Jahr 1977 stehen mittlerweile einige weitere Studien zum Verhältnis der Kinder zu den Täterinnen zur Verfügung:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täterin[18]
Diese Studien bestätigen die Aussagen von Wetzel und auch hier wird deutlich, dass der Anteil der Täterinnen, die aus dem sozialen Umfeld des Kindes kommen, bedeutend höher ist als der der Fremdtäter. Das Verhältnis liegt in allen Studien bei etwa drei Vierteln zu einem Viertel.
Zudem ist nennenswert, dass häufiger die weiblichen Kinder von sexualisierten Übergriffen in der Familie und die männlichen Kinder eher im außerfamiliären Nahraum, wie zum Beispiel in Institutionen, betroffen sind.[19] [20] [21] [22] Bei sexualisierter Gewalt innerhalb der Familie ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein wiederholtes Auftreten der Übergriffe stattfindet deutlich höher als bei der sexualisierten Gewalt durch fremde Täterinnen.202122
2.3 Täterinnenstrategien
Die Täterinnen haben in den meisten Fällen lange vor ihrer Tat bereits darauf hingearbeitet oder zumindest gedanklich das genauere Vorgehen geplant. So kann ausgeschlossen werden, dass sexualisierte Gewalt versehentlich oder auch ohne Absicht durchgeführt wird. Im Gegenteil: die Absicht hinter den Handlungen ist groß, sie dienen der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse der Täterinnen, nicht aber etwa der der Kinder. Die Täterinnen gehen oftmals gleich nach dem sogenannten „Grooming- Prozess“ vor. [23] Nach der gezielten Auswahl der Opfer verfolgen sie hierbei das Ziel eine Vertrauensbasis zu schaffen, um anschließend eine sexualisierte Beziehung zu ihnen aufzubauen.[24] [25]
Heiliger schreibt im Jahr 2000, dass die Täterinnen mit ihren Strategien zunächst das Ziel verfolgen an die Kinder zu gelangen, sie dann gefügig zu machen und zuletzt den Widerstand der Kinder zu durchbrechen. Als oberstes Ziel der Täterinnen steht jedoch das „Versteckthalten“ ihrer Tat. Sie verfolgen dieses unter anderem durch Geheimhaltung, Schuldzuweisungen und Drohungen gegenüber ihrem Opfer, um unbestraft zu bleiben und ihr Handeln gegenüber dem Kind weiter fortführen zu können.[26]
Die konkrete Vorgehensweise der Täterinnen ist jedoch immer einzelfallabhängig und lässt sich nicht verallgemeinern. Es gibt allerdings immer wieder ähnliche Verhaltensmuster in unterschiedlichen Fällen. So lassen sich folgende zwei Vorgehensmuster grob unterscheiden:
- Die einen Täterinnen benutzen die Strategie durch ruhiges, langsames und subtiles Verhalten die Gewöhnung des Kindes an die Situation der Übergriffigkeit zu erreichen und
- die anderen Täterinnen versuchen durch Drohungen und teilweise durch massive körperliche Gewalt ihre Opfer für Ihre Bedürfnisse gefügig zu machen.[27]
So unterschiedlich die beiden Verhaltensmuster sind, eines haben beide Tätergruppen gemeinsam: Sie möchten ihre Tat verheimlichen und unentdeckt lassen. Diese Verdeckungsabsicht ist Ursache dafür, dass die Taten meistens ohne Zeuginnen stattfinden und es eine Atmosphäre von Heimlichkeit zwischen Täterinnen und ihren Opfern herrscht. Genau dadurch werden die Kinder oftmals so hilflos, denn sie werden zum Schweigen gedrängt.[28] Im Fokus der Forschungen der vergangenen Jahre steht immer wieder die Auswertung der am häufigsten angewendeten, mit dem Ziel der sexuellen Gewaltausübung, Verhaltensmuster. So beschäftigten sich unter anderem Enders, Heiliger und auch die Geschäftsstelle der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs ausgiebig mit dieser Thematik. Enders weist im Rahmen dessen darauf hin, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den Täterinnenstrategien ist, um den Kindern glauben und anschließend richtig intervenieren zu können. Die Auswertungen der verschiedenen Forschungen geben Aufschluss über die folgenden am häufigsten verwendeten Strategien:
- „Gefügig machen durch Geschenke, Versprechungen oder mit besonderer Aufmerksamkeit;
- Vernebelung der Wahrnehmung des Opfers;
- Desensibilisierung des Opfers in Bezug auf körperliche Berührungen wie beispielsweise Tarnung der sexuellen Übergriffe als Spiel, Sport, Pflege oder Aufklärung;
- bewusste Wahl des Tatorts und Zeitpunkts (z.B. Ausnutzung von Situationen, in denen das Kind alleine (zuhause) oder in einer ungeschützten körperlichen Situation (Sauna, Urlaub) ist);
- Ignorieren und Übergehen des kindlichen Widerstands;
- Suggestion einer aktiven Beteiligung des Opfers oder Schuldzuweisung als Verführung („blaming the victim“);
- Aufwertung und Demütigung;
- Kombination mit häuslicher Gewalt oder Bestrafungsritualen;
- Filmen des Missbrauchs (auch als Instrument der Erpressung);
- Gewalt- und Mordandrohungen;
- Drohung mit dem Auseinanderbrechen der Familie;
- Isolation und Kontrolle des Opfers.“[29]
Die im ersten Punkt genannten Geschenke sind oftmals materielle Dinge wie Geld, Süßigkeiten, Spielzeug, Zigaretten, Bier und Drogen. Allerdings kommt es häufig auch zu Vorgehensweisen mit immateriellen Werten. Besonders gezielt gehen die Täterinnen auf eher schüchterne, ängstliche und unsichere Kinder zu, da sich diese oftmals ungeliebt fühlen und isoliert von der Außenwelt leben. Hier wird genau das zu Nutzen gemacht und die Täterinnen erkennen das Bedürfnis nach Zuwendung, schenken ihnen Aufmerksamkeit, Lob, Trost und Anerkennung, womit sie bei den Opfern das gewünschte Vertrauen erlangen. Einladungen zu Freizeitaktivitäten (zum Beispiel ins Kino/schwimmen gehen, Besuch im Freizeitpark/Zoo, Filme anschauen) werden von den Täterinnen eingesetzt, um die Kinder in ihren Bann zu ziehen. Insgesamt werden von den Täterinnen primär Opfer gewählt, die wehrlos wirken. Minderbegabte, körperbehinderte, sprachbehinderte oder auch sehr junge Kinder sind somit besonders gefährdet.[30] Bei denjungen Kindern ist es für die Täterinnen außerdem deutlich leichter die Taten zu verschleiern, denn jüngere Kinder sind noch nicht in der Lange zu differenzieren ob es sich bei der Berührung beispielsweise um das normale Waschen im Scheidenbereich handelt oder es sich bereits um sexualisierte genitale Berührungen handelt. Verstärkend kommt hinzu, dass sich bei jüngeren Kindern die Handlungen in Spielereien umbenennen lassen, wie beispielsweise:„„Wir machen jetzt ganz viel Schaum“ = das Glied bis zum Samenerguss reiben“[31], „Doktorspiele“ mit dem Kind zur eigenen Erregung oder auch „Prinz und Prinzessin“ im Bett.[32]
Die Täterinnen vermitteln den Opfern durch ihr manipulatives Verhalten außerdem falsche Normvorstellungen, die sich insbesondere junge Kinder sehr leicht einprägen. So wird ihnen beispielsweise eingeredet, dass liebe Kinder eben diese Dinge tun, wenn sie den Menschen lieb haben. Der vom Täter hier aufgebaute moralische Druck ist immens, denn junge Kinder wollen nicht schlecht oder böse sein und erst recht nicht wollen sie, dass andere davon erfahren. Die Täterinnen verstärken diesen Druck weiter durch Aussagen wie: „Wenn du dasjemanden erzählst, hört das der Nikolaus und steckt dich in den Sack“. Dadurch wird auch aus Sicht des Kindes ein Geheimnis aus der Handlung, von dem besser nichts erzählt wird. Kinder wissen zumeist, dass Freunde Geheimnisse haben und sehen das Verhältnis zum/zur Täterin als freundschaftlich an.[33] Als Resultat dessen, kommt es meistens zu den eigenen Schuldzuweisungen der Opfer.
Die Täterinnen rechtfertigen ihre Handlungen in einer Art und Weise, die die Kinder unsicher werden lassen. Sie denken oft, dass sie es nicht anders verdient haben so behandelt zu werden und berichten auch, dass die Täterinnen so taten, als sei es ihre Idee gewesen oder auch von Gefühlen die sich schuldig und falsch aber gleichzeitig gut anfühlten, was zu großer Verwirrung geführt hat. Die beschriebenen Täterinnenstrategien werden sowohl von Fremdtätern als auch bei sexuellen Übergriffen innerhalb der Familie umgesetzt.[34] Innerhalb der Familie besteht zwar meistens schon lange vor der Tat eine Grundbasis zwischen Täter und Opfer, allerdings wird diese zunächst ebenso vertieft und das Vertrauen zum Kind soweit gewonnen, bis die Täterinnen sich sicher fühlen, dass ihre Handlungen unentdeckt bleiben.
2.4 Sexualisierte Gewalt als Kindeswohlgefährdung
Unter dem Begriff der Kindeswohlgefährdung wird die gewaltsame psychische, physische oder seelische Beeinträchtigungen von Kindern durch ihre Eltern oder andere Erziehungsberechtigte verstanden.[35] Hier wird auch von einer Verletzung der kindlichen Grundbedürfnisse gesprochen. Die Grundbedürfnisse eines jeden Kindes bestehen zum einen aus dem Bedürfnis der Existenz, das Bestreben nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Versorgung, zum anderen aus dem Wachstum, was das Bedürfnis nach Exploration und Interaktion mit einer aktiven, erfüllenden Umwelt ist und der sozialen Bindung, dem Bedürfnis nach einer beständigen und liebevollen Beziehung zu einer Bezugsperson.[36]
Durch Handlungen, aber auch durch Unterlassungen seitens der Eltern können Beeinträchtigungen, die zur Kindeswohlgefährdung führen, entstehen. Unterlassungen wie beispielsweise emotionale und physische Vernachlässigung oder Handlungen wie körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch haben erhebliche Folgen für das Kind. Das Grundbedürfnis der sozialen Bindung zu einer Bindungsperson ist davon nicht selten betroffen.[37] Dieser Aspekt wird im nächsten Kapitel genauer betrachtet.
3 Auswirkungen von sexualisierter Gewalt aufKinder
Kinder, die sexuelle Gewalt erfahren haben, teilen zwar die Erfahrungen, die sie erleiden mussten, jedoch nicht zwangsläufig auch die daraus resultierenden Auswirkungen. Die Auswirkungen sexualisierter Gewalt können verschiedene Ausmaße auf die psychische, physische und geistige Entwicklung der Kinder haben. Es gibt kein spezifisches Missbrauchssyndrom[38], auch wenn seit Jahren genau danach geforscht wird. Trotz dieser Erkenntnis ist Frage nach typischen Auffälligkeiten die einem solchen hypothetischen Syndrom zugeordnet werden könnten immer wieder Gegenstand neuer Forschungen. Als Folge von sexualisierter Gewalt sind fast alle als Verhaltensauffälligkeiten in Erscheinung getreten. Diese „reichen von Kopf- und Magenschmerzen ohne erkennbare organische Ursachen, über Essstörungen, Schlafstörungen, Sprachstörungen, depressiven Reaktionen, Suizidgedanken und -versuchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch bis hin zu (sexuell) aggressiven V erhaltensweisen.“[39]
Nicht nur die Art der Auswirkungen sind von Kind zu Kind unterschiedlich, sondern auch die Dauer. Manche leiden ein Leben lang dauerhaft unter den Folgen, andere wiederum schaffen es den oder die Übergriff/e zu verarbeiten und leiden „nur“ vorübergehend. Darüber hinaus gibt es Opfer denen nach Außen hin keine Auffälligkeiten anzumerken sind.[40]
Mannigfaltige Faktoren, die kumulativ und wechselseitig aufeinander wirken, beeinflussen das Ausmaß der Auswirkungen und Folgen.[41] Die vorliegenden Umstände während der sexuellen Übergriffe spielen hierbei eine wichtige Rolle. Eine Pauschalisierung, dass die Auswirkungen schlimmer werden, je schwerwiegender der Missbrauch ist, ist hingegen nicht zulässig. Vielmehr spielt hier unter anderem die Reaktion des nichtmissbrauchenden Elternteils nach der Aufdeckung der sexuellen Übergriffe eine übergeordnete Rolle. Wird hier Einfühlsamkeit, Verständnis und Empathie entgegen gebracht, so kann sich dies mildernd auf die Folgen auswirken.[42] Die Erfahrungen durch sexualisierte Gewalt wirken oftmals traumatisierend. Ob und inwieweit diese traumatischen Erfahrungen verarbeitet werden können ist abhängig von dem Entwicklungsstand des Kindes bevor es die Erfahrungen der sexualisierten Gewalt gemacht hat und zum anderen, wie es das Geschehene selbst bewertet.
Eine Studie, in der eine Gruppe von Kindern mit schweren Missbrauchserfahrungen, jedoch ohne jegliche klinische Auffälligkeiten, untersucht wurde, hat ergeben, dass diese Kinder im Vergleich zu der Gruppe mit Kindern, die nicht missbraucht wurden und anderen missbrauchten Kindern ein sehr hohes Selbstbewusstsein haben und 3 Auswirkungen von sexualisierter Gewalt aufKinder meistens aus Familien kommen, in denen es wenige Konflikte gibt. Zudem setzen sie vergleichsweise eher weniger Vermeidungsstrategien ein. Dies führt folglich dazu, dass die Schutzfaktoren ein ebenso wichtiger Punkt sind. Auch wenn die Kinder zunächst resilient wirken und mit Schutzfaktoren gewappnet scheinen, bleibt es wichtig, das Augenmerk auf diese Kinder nicht zu verlieren. Die Folgen des Missbrauchs können auch schleichend verspätet eintreten, die sogenannten „sleeper effects“. Eine von Anfang an gute und unterstützende Betreuung des Kindes oder auch später des Jugendlichem, des Erwachsenen und dessen Eltern erhöht die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass die gravierenden negativen Folgen des Missbrauchs, wie eine Traumatisierung, gering gehalten oder gar vermieden werden können.[43] Wie genau diese Hilfeleistung aussehen kann und was von Seiten der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit dazu beigetragen werden kann, wird im Kapitel 5 genauer erläutert. Zunächst soll nun der Fall betrachtet werden, was passiert, wenn ein Trauma in Folge sexualisierter Gewalt eintritt. Hier ist es dem Kind nicht möglich das Erlebte zu verarbeiten und es wird die Frage behandelt wie sich dies auf die Bindungsfähigkeit des Kindes auswirkt.
3.1 Das Trauma
Wie bereits im vorherigen Unterkapitel kurz erläutert, ist eine der am häufigsten auftretenden Folgen sexualisierter Gewalt die Traumatisierung. Dieses Unterkapitel bietet eine kompakte Übersicht über das Entstehen eines Traumas sowie den hierfür typischen Symptomen.
„Unter Trauma (griechisch: Wunde) versteht man eine Verletzung, eine Wunde, die sowohl körperlich als auch psychisch bedingt sein kann. Bei einer psychischen Traumatisierung handelt es sich um eine psychische Erschütterung, die durch äußere Gewalteinflüsse, eine bedrohliche Situation verursacht wird, aus der eine Person weder fliehen noch gegen sie ankämpfen kann und die sich negativ auf die weitere Entwicklung auswirkt.“[44]
Ein Trauma entsteht demnach im Falle einer Überforderung der körpereigenen Schutzmechanismen und die daraus resultierende Folge ein sogenannter „Freeze“ Status ist. Dieser ist charakterisiert durch die Überforderung des Bewältigungssystem und die betroffene Person fühlt sich hilflos, überwältigt, ohnmächtig und wie eingefroren.[45]
[...]
[1] Deegener 2010: 13
[2] Deegener 2010: 13
[3] Deegener 2010: 13
[4] Bange 2011: 12
[5] Dyer, Steil 2012: 11
[6] Vgl. Bange 2004 zit. n. Gebrande 2014 (I): 21
[7] Dyer, Steil 2012: 12
[8] Leuzinger-Bohleber, Burkhardt-Mußmann2012: 188
[9] Vgl. Roth 1997 zit. n. Gebrande 2014 (II): 16
[10] Vgl. Gebrande 2014 (II): 16
[11] Deegener2005:38
[12] Vgl. Gebrande 2014 (II): 12
[13] Vgl.Deegener2010: 20
[14] Dyer, Steil 2012: 25
[15] Vgl. Abbildung 1
[16] Vgl. Dyer, Steil 2012: 25
[17] Vgl. Bange 2011:20
[18] Eigene Abbildung, vgl. Gebrande 2014(I):32
[19] Vgl. Fegert 2011 zit. n. Gebrande 2014 (I): 32
[20] Vgl. Dyer, Steil 2012: 25
[21] Vgl. Deegener2010: 33
[22] Vgl. Dreisömer2011: 61
[23] Vgl. Roth 1997 zit n. Gebrande 2014 (I): 32
[24] Vgl. Gebrande 2014 (I): 32
[25] Vgl. Bange 2011: 118
[26] Vgl. Heiliger2000 zit. n. Gebrande 2014 (I): 32
[27] Vgl. Moser 2009 zit n. Gebrande 2014 (I): 32
[28] Vgl. Gebrande 2014 (I): 32-33
[29] Gebrande 2014 (I): 33
[30] Vgl. Deegener2010: 133
[31] Deegener2010: 138
[32] Vgl. Deegener2010: 138
[33] Vgl.Deegener2010: 138
[34] Vgl. Deegener2010: 139
[35] Vgl. §1666 BGB
[36] Vgl. Netzwerk für Kinderschutz und Frühe Hilfen: 2-4
[37] Vgl. Schmid, Meysen2006: 21
[38] Vgl. Hébert, Parent, Daignault, Tourigny 2006 zit. n. Bange 2011: 22
[39] Bange 2011: 21-22
[40] Vgl. Gasteiger-Kliepera2009: 31
[41] Vgl. Engfer 2005 zit. n. Gebrande 2014 (II): 26
[42] Vgl. Gebrande 2014 (I): 34
[43] Vgl. Bange 2011:25
[44] Gründer, Stemmer-Lück2013: 40-41
[45] Vgl. Gründer, Stemmer-Lück2013: 41