Der Bruch von Erwartungshaltungen im Alltag. Ein soziologisches Krisenexperiment mit Blick auf Goffman und Garfinkel


Bachelorarbeit, 2016

59 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Theorie der Warteschlange
2.2 Erving Goffman
2.3 Harold Garfinkel
2.4 Zur Aktualität von Ethnomethodologie
2.5 Vergleich: Krise bei Goffman und Garfinkel

3 Methodik
3.1 Probanden, Experimentatoren und Design
3.2 Verfahrensweise
3.3 Messinstrument und Typisierung

4 Ergebnisse

5 Zusammenfassung und Fazit

Literaturverzeichnis

ANHANG

I Erhebungsorte

II Standardisierter Antwortenkatalog

II Beobachtungsprotokolle Krisenexperiment

III Beobachtungsprotokolle Kontrollgruppe

1 Einleitung

Die analytische Betrachtung von Werten und Normen zieht sich seit den Anfängen der Soziologie wie ein roter Faden durch die Geschichte dieser Disziplin. So befassten sich schon Klassiker der Soziologie wie Talcott Parsons mit der Thematik und stellten fest, dass ohne Erwartungshaltungen keine soziale Interaktion möglich wäre (Parsons 1951: 15).[1] Unser Alltag ist durch zahlreiche implizite Regeln geprägt und unterliegt einer starken Rahmung durch soziale Normen. Eine Nichteinhaltung dieser führt zu starken Irritationen bei den Beteiligten. Beispielsweise gilt an der Universität die unausgesprochene Norm, dass ein Dozent nicht unterbrochen werden darf, wenn er referiert. Ein Bruch dieser Norm würde zu Ablehnung und eventuell auch Sanktionen, etwa in Form des Verweises des Unterbrechendem aus dem Seminar, führen.

Akteure orientieren sich hier an Erwartungsstrukturen, da Interaktion so deutlich reibungsloser und kontrollierter erfolgt, im Gegensatz zu einer Situation, in der keiner der beteiligten Handelnden wüsste, was er oder sie von den jeweils anderen Handelnden zu erwarten hätten. Werden diese Erwartungsstrukturen jedoch gebrochen, so kommt es bei den Betroffenen zu einer Krise – so lautet die These von den Autoren Harold Garfinkel und Erving Goffman.

Im Laufe meines Studiums wurde anhand gängiger soziologischer Literatur die Thematik Normen und Alltagsstrukturen ausführlich behandelt. Mein Eindruck ist es, dass der Bruch eben dieser alltäglichen Handlungsstrukturen bisher nicht ausreichend erschlossen wurde. Deshalb soll sich der Fokus in dieser Arbeit auf den Normbruch mit Hinblick auf die Autoren Garfinkel und Goffman gelegt werden, wobei sich explizit mit folgender Frage befasst werden soll:

Welche Konflikte entstehen, wenn Erwartungshaltungen im Alltag gebrochen werden und welche Folgen entstehen dadurch für das erwartende Individuum?

Um die Forschungsfrage angemessen beantworten zu können, soll zu Beginn der Arbeit der theoretische Zugang zur Thematik erläutert werden. Zunächst wird die von Werner Zimmermann begründete Theorie der Warteschlange dargestellt, um ein theoretisches Grundgerüst für die nachfolgende Erhebung zu schaffen. Anschließend sollen zwei Autoren, Harold Garfinkel und Erving Goffman herangezogen werden. Einige wesentlichen Elemente der Theorien von Goffman und Garfinkel sollen dargestellt und anschließend einige ihrer Annahmen, die mit dieser Arbeit in Zusammenhang stehen, detaillierter erläutert werden. Es wird sepziell auf die Aktualität der Ethnomethodologie eingegangen um einen ganzheitlicheren Überblick über die Thematik zu erlangen, außerdem wird auch die Relevanz erläutert, die die Theorie Goffmans und Garfinkels in Bezug auf soziale Normen aufweist und expliziert, wieso Goffmans und Garfinkels Annahmen zueinander in Relation gesetzt werden sollen.

Folgend werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Annahmen und Vorgehensweisen der Autoren dargestellt. Es wird nicht der Versuch unternommen, die theoretischen Annahmen der Autoren vollständig darzustellen, da diese für den Rahmen der Arbeit zu umfangreich wären, die Annahmen können lediglich schematisch wiedergegeben werden. Auch wenn diese Arbeit damit den Autoren nicht gerecht wird, soll der Vergleich ihrer Annahmen auf das jeweilige Konzept von Krise eingeschränkt werden. Anhand dieser theoretischen Grundüberlegungen sollen Krisenexperimente durchgeführt werden. Es handelt sich dabei um eine Methodik, die von Harold Garfinkel eingeführt wurde. Ziel von Krisenexperimenten ist es, soziale Normen sichtbar zu machen. Dies erfolgt Garfinkel zufolge entweder durch übertriebene Einhaltung oder durch offensichtliche Missachtung von sozialen Konventionen (Garfinkel 1963: 190).

Es sollen dadurch die Praktiken aufgezeigt werden, welche bei der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit eine zentrale Rolle spielen.

Im Rahmen der Arbeit werden Krisenexperimente in Bezug auf Warteschlangen angewendet. Es handelt sich dabei um ein Experiment zum Schlangestehen an Kassen, durchgeführt in verschiedenen Supermärkten und Drogeriemärkten in den Städten Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt und Pocking in Niederbayern. Dokumentiert wird das Verhalten der Versuchspersonen anhand eines standardisierten Beobachtungsbogens, der anhand vorher definierter Kriterien Wortwechsel, Mimik und Bewegungsabläufe der Interaktionssequenzen festhält, um diese dann rekonstruktiv zu interpretieren. Anschließend sollen die Ergebnisse dargestellt und die wesentlichen Aussagen der Arbeit zusammengefasst werden. Mögliche offen stehende Fragen werden genannt und die Thematik in einen größeren soziologischen Rahmen gefasst. Zunächst soll auf die theoretischen Grundüberlegungen der Arbeit eingegangen werden.

2 Theoretische Grundlagen

Sowohl Harold Garfinkel als auch Erving Goffman haben sich mit dem Thema der Krise ausführlich beschäftigt. Folgend soll deshalb das theoretische Konstrukt der Krise anhand der Eckpfeiler der theoretischen Annahmen von Garfinkel und Goffman in Einklang gebracht werden. Dabei handelt es sich lediglich um eine schematische Darstellung der Theorien. Zunächst soll ein Ausschnitt der Annahmen Erving Goffmans dargestellt werden, um ein Grundverständnis für seine Begrifflichkeiten zu schaffen. Dabei geht es zunächst um allgemeine Grundbegriffe. Dies dient den Zweck, einen Überblick zur Thematik zu schaffen.

Anschließend soll auf Goffmans Verständnis zu Normen und Erwartungshaltungen eingegangen und spezifische Begriffe erläutert werden, um diese anschließend in Relation zu Begrifflichkeiten Garfinkels zu setzen. Garfinkel befasste sich mit den Methoden, die von Personen genutzt werden, um ihren Alltag zu reproduzieren. Er wurde in die Arbeit miteinbezogen, da er sich anhand von Krisenexperimenten ausführlich mit dem Thema Normbruch befasst hat. Dabei wird primär Bezug zu seinem Werk „Studies in Ethnomethodology“ genommen, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass es sich dabei um keine explizite Theorie handelt, sondern lediglich um eine Aneinanderreihung einzelner Studien. Zunächst soll jedoch die von Werner Zimmermann begründete Theorie der Warteschlange dargestellt werden. Durch Sozialisation kommt es in der westlichen Gesellschaft dazu, dass sich Personen an einer Kasse hintereinander in eine Reihe stellen. Dies ist keinesfalls in jeder Kultur üblich. Was also ist überhaupt eine Warteschlange und aus welchen Einheiten besteht sie? Diese Fragen sollen im folgenden Abschnitt geklärt werden.

2.1 Theorie der Warteschlange

Die Warteschlangentheorie entstammt der Wahrscheinlichkeitsforschung und wird überwiegend in Unternehmen eingesetzt. Sie gibt Rückschlüsse auf die Zahl der Wartenden im Schlangensystem, die benötigte Personalanzahl in Unternehmen, der voraussichtlichen Wartezeit der sich in der Schlange befindenden Personen und über mögliche Unregelmäßigkeiten im Abfertigungsprozess. Zimmermanns Theorie dient der Optimierung von Wartebereichen in Supermärkten. Ich mache mir diese Theorie für die Beschreibung eines Alltagsphänomens aus soziologischer Perspektive zu eigen.

Warteschlangen kommen Werner Zimmermann zufolge dann zustande, wenn es vor einer oder mehrerer Abfertigungsstationen in einer bestimmten Zeiteinheit mehr Einheiten eintreffen als im gleichen Zeitraum abgefertigt werden können (Zimmermann 2001: 361).

Die Wartenden empfinden häufig Unbehagen, da für sie ein Zeitverlust entsteht, auf den sie keinen Einfluss nehmen können (Zimmermann 2001: 361). Dieses Unbehagen kann anhand Alfred Schützs und Thomas Luckmanns Annahmen in „Strukturen der Lebenswelt“ erläutert werden. Sie unterschieden in dem Werk zwischen innerer und äußerer Zeit: „die Struktur der Lebensweltlichen Zeit baut sich in Überschneidungen der subjektiven Zeit des Bewusstseinsstroms, der inneren Dauer, mit der Rythmik des Körpers wie der 'biologischen Zeit' überhaupt mit den Jahreszeiten wie der Welt-Zeit überhaupt und dem Kalender, der 'sozialen Zeit'“ (Schütz, Luckmann 1979: 75). Es existiert also eine Differenz zwischen innerer, äußerer und auch sozialer Zeit. Des weiteren führt Zimmermann den Begriff des Warteschlangensystems ein, welches besagt, dass die Ankunft oder Reihenfolge der Einheiten in einem System und die Abfertigung dieser stochastisch verteilt sind, d.h. durch viele zufällige Variablen variieren (Zimmermann 2001: 361). Es handelt sich um kein Warteschlangensystem, wenn Ankunft und Abfertigung streng determiniert sind wie beispielsweise bei der Fließbandabfertigung (ebd.). Ein Warteschlangensystem besteht dabei aus folgenden Elementen: Der ankommenden, der wartenden und der gerade bedient werdenden Einheit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Warteschlangensystem. Eigene Darstellung in Anlehnung an Zimmermann 2001: 361.

Jede Warteschlange enthält einen Kanal welcher auch als Bedienungs- und Abfertigungsstation bezeichnet wird (Zimmermann 2001: 361). Der Kanal kann lediglich eine Einheit aufnehmen, wurde diese bedient, ist der Kanal leer und kann die nachfolgende Einheit einlassen. Die zeitlichen Abstände zwischen den ankommenden Einheiten und die Zeit, die eine Einheit im Kanal verbringt, sind dabei zufällige Variablen.

Die gängige Bewegung in Warteschlangen erfolgt vorwärts in Richtung des Kanals. Zunächst sollen nun die für diese Arbeit relevanten Aspekte in Goffmans Theorie genauer darstellt werden.

2.2 Erving Goffman

Definierend an der Arbeit Goffmans ist vor allem sein Augenmerk auf die Facetten des Alltagshandelns. Er untersuchte Passanten im Straßenverkehr, Patienten sozialer Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Altenheimen, genauso wie Gefängnisinsassen. Dabei ging es ihm nicht lediglich um die soziologische Frage, warum menschliches Handeln zustande kommt, sondern er berücksichtigte auch, wie genau diese Handlungsweisen aussehen.

Bekannt wurde Goffman vor allem durch sein Werk „The presentation of self in everyday life“ (1959), welches in Deutschland unter dem Titel „Wir alle spielen Theater“ erschien. Goffmans Grundidee war es, eine dramaturgische Analyse durchzuführen, um soziale Interaktionen im Alltagsleben zu untersuchen und die sozialen Konstruktionen des Selbst zu erforschen (Krallmann, Ziemann 2001: 233). Goffman ist ein Vertreter des symbolischen Interaktionismus, genau wie George Herbert Mead. Eine umfassende Eingliederung von Goffman ist kaum möglich, ohne auf die Vorarbeit von Mead hinzuweisen, dessen Schriften Goffman wesentlich geprägt haben. Es soll also zunächst auf den Begriff der Interaktion bei Mead und folgend bei Goffman dargestellt werden. Mead geht vom bewusst interagierendem Individuum aus (Mead 1968: 74), anders als im Tierreich, in dem vor allem die Instinkte zentrale Bedeutung haben. Menschen agieren Mead zufolge mittels vielfältiger Zeichen, Gesten und Symbole (Mead 1968: 53f.). Die Bedeutungsvielfalt wird mittels Sprache noch weiter erhöht, so kann ein Satz je nach Tonlage differiert wahrgenommen werden kann.

Beispielsweise kann die Frage „wohin gehst du?“ je nach Tonlage als angenehmes Interesse oder auch als aggressiver Angriff verstanden werden. Der Mensch erschließt sich seine Einstellung zur Welt primär über Symbole, insbesondere über die Sprache. Eine eigene Identität bildet sich erst durch Interaktion mit Mitmenschen aus. Erving Goffman wurde wesentlich von diesen Annahmen zur Interaktion beeinflusst. Er definiert Interaktion als eine wechselseitige Handlungsbeeinflussung (Goffman 1969: 18). Er unterscheidet dabei ein aktives Miteinander und ein passives Beieinander (Goffman 1959: 32). Ein passives Beieinander wäre beispielsweise das Warten vor einer Kasse in einem Supermarkt. Die wartenden Personen interagieren nicht aktiv miteinander, kommunizieren beispielsweise nicht zwingend, dennoch sind sich die Personen der Anwesenheit der anderen bewusst. Voraussetzung für ein aktives Miteinander ist lediglich ein gemeinsamer Nenner, beispielsweise können zwei Personen sich zum gemeinsamen Einkaufen verabreden, um zusammen die Zutaten für ein Abendessen einzukaufen. Beide Personen verfolgen in diesem Fall ein gemeinsames Ziel und sind sich der gemeinsamen Interaktion bewusst (ebd.).

Das Konzept der Rolle wurde durch George Herbert Mead entwickelt und von Goffman übernommen. Bei Mead ist der Begriff Rolle in sein Modell der Rollenübernahme eingebettet. Mead geht von einem „generalisierten Anderen“ aus, damit drückt er einen Vorstellungshorizont aus, den ein jeder verinnerlicht hat und der vorgibt, was ein jeder für gewöhnlich tut oder unterlässt (Abels, König 2010: 77).

Nach Goffman erfüllt jeder Teilnehmer einer Interaktion eine gewisse Rolle auf einer Bühne. Beispielsweise hätten Personen, die im Supermarkt Waren aus den Regalen ziehen und auf den Boden werfen, die Rolle von Unruhestiftern inne. Der Sicherheitsmann, der in den Supermarkt eilt, um die Ruhe wiederherzustellen, hätte die Rolle des Ordnungshalters inne.

Außerdem finden bei Goffman Interaktionen auf zwei getrennten Ebenen statt, Goffman nennt das die Vorder- und die Hinterbühne (Goffman 2003: 104). Interaktionen unterscheiden sich wesentlich dadurch, auf welcher Ebene sie stattfinden. Beispielsweise hat eine ältere Frau im Supermarkt die Rolle der Kassiererin inne, zugleich ist sie jedoch auch Mutter von zwei Kindern. Die Frau wird sich in ihrer Rolle als Kassiererin anders verhalten, als in ihrer Rolle als Mutter. Sie interagiert somit auf zwei verschiedenen Bühnen, mit verschiedenen Handlungsweisen. Nach Goffman wechselt die Rolle eines Menschen und damit seine Selbstdarstellung mehrmals am Tag (ebd.: 156). Je nach Rolle variiert ein Individuum seine Sprache, Gestik, Mimik oder sein Verhalten. Verhalten ist also sozial abgestimmt.

Eine soziale Norm stellt eine „durch soziale Sanktionen abgestützte Richtschnur des Handelns“ dar (Goffman 1971: 138). Aus normkonformen Verhalten resultieren positive Sanktionen wie Anerkennung und Belohnung, während normverletzendes Verhalten negative Sanktionen wie Bestrafung und Abwertung zur Folge hat (ebd.:). Unter Sanktionen versteht Goffman Techniken für die Absicherung von Konformität, wobei er zwischen formellen und informellen Sanktionen unterscheidet. Eine formelle Sanktion wird durch eine offizielle Stelle legitimiert, die anhand eines festgelegten Regelwerks die passende Sanktion auswählt (ebd.: 139). Beispielsweise kann in Deutschland ein Diebstahl je nach Schweregrad mit Geld- oder Freiheitsstrafe sanktioniert werden. Eine informelle Sanktion hingegen erfolgt primär aus Selbstinteresse einer Person heraus, beispielsweise könnte Diebstahl durch soziale Sanktionen wie Ausschluss aus einer Gruppe geahndet werden. Unser Alltag wird durch allgemeine Grundregeln des Handelns strukturiert. Goffman beschreibt dies folgendermaßen: „Wenn Personen in geregelte Beziehungen zueinander treten, so bedienen sie sich sozialer Gepflogenheiten oder Praktiken, d. h. strukturierter Anpassungen an die Regeln“ (Goffman 1971: 11). Verschiedene Anpassungsstrukturen fasst Goffman unter dem Begriff soziale Ordnung zusammen und definiert sie als Verhaltensmuster und Erwartungen, die mit Grundregeln verknüpft sind und die Routinehandlungen konstruieren (ebd.). Wird eine dieser Erwartungen gebrochen, kommt es zu Wiederherstellungsmaßnahmen (Goffman 1963: 157). Außerdem wird versucht werden, das normschädigende Verhalten zu unterbinden oder den Schaden zu reparieren (ebd.). Dies geschieht durch die betroffene Person selbst oder durch Kontrollorgane. Versagt die Person dabei, ihre normativen Erwartungen wiederherzustellen, kommt es zu einem Angriff der psychologischen Integrität des Individuums (ebd.: 158). Außerdem wird derjenige, der Normen nicht aufrechterhält, weniger anerkannt und akzeptiert werden (ebd.: 159).

Bezogen auf diese Arbeit[2] müsste es also dazu kommen, dass die Versuchsperson (folgend VP) versucht, den Tester dazu zu bringen, sich wieder normkonform zu verhalten und sich in der Warteschlange vorwärts zu bewegen. Die VP könnte auch versuchen, Kontrollorgane, beispielsweise Angestellte zu Hilfe zu rufen oder andere Kunden miteinzubeziehen. Auf jeden Fall jedoch wird eine Reaktion bei der VP erzeugt, die darauf abzielt, die normativen Erwartungen wiederherzustellen. Außerdem wird die normverletzende Person negativ bewertet werden. Nachdem einige grundlegende Annahmen zu Goffman dargestellt wurden, soll nun auf die Theorie Harold Garfinkels eingegangen werden.

2.3 Harold Garfinkel

Harold Garfinkel war der Begründer der Ethnomethodologie, einem phänomenologisch orientierten Ansatz. Die Phänomenologie will die beobachtbaren, objektiven Eigenschaften der sozialen Wirklichkeit auf subjektive Konstitutionsprozesse zurückführen (Matthes, Schütze 1973: 16). Betont werden besonders die verschiedenen Erlebnisströme von Beobachtendem und Handelndem (ebd.). Die Ethnomethodologie befasst sich mit der Beziehung von Wissen und Interaktion aus theoretisch-empirischer Perspektive (Matthes, Schütze 1973: 17). Harold Garfinkel war ein Schüler Parsons, er besuchte Kurse Parsons in Harvard. Garfinkel hegte eine starke Antipathie gegen Parsons Systemtheorie (Garfinkel 1967: 40). Er hielt die Vorstellung Parsons für falsch, nach der sich soziale Tatbestände aus individuellen Norm- und Wertvorstellungen zusammensetzen. Stattdessen geht er von einem Basiswissen aus, dass jedes Individuum im Zuge der Sozialisation verinnerlicht hat und dass voraussetzt, dass alle täglichen sozialen Kontakte dieses Basiswissen internalisiert haben (Garfinkel 1981: 189).

Einige von Garfinkels Begrifflichkeiten wurden von der Theorie Alfred Schütz´ übernommen, einem sozialwissenschaftlichem Grundlagentheoretiker aus Österreich. Übernommen wurden beispielsweise die Begriffe Alltagswissen oder Alltagswelt (Matthes, Schütze 1973: 17). Schütz definiert Alltagswissen als den Wissensbestand, den sich Gesellschaftsmitglieder gegenseitig als selbstverständlich unterstellen müssen, um interagieren zu können (ebd.: 20). Nicht gemeint sind die Ergebnisse, die etwa bei einer Markt- oder Meinungsforschung erhoben wurden, da es sich bei den abgefragten Themen oft nicht um alltägliche Tätigkeiten handelt (ebd.). Schütz geht von wechselseitigen Unterstellungen von Interagierenden aus, einer gemeinsamen Verständigungsbasis (ebd.). Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen Matthes und Schütze definieren Alltagswissen als „de[n] Bestand an tagtäglichem Wissen, auf dessen Grundlage die gesellschaftliche Wirklichkeit erfahren wird“ (Matthes, Schütze 1973: 16).

Dies entspricht Garfinkels „common-sense knowledge“, dass er folgendermaßen definiert:

„We shall call such knowledge of socially organized environments of concerted actions common sense knowledge of social structures and everyday life“ (Garfinkel 1967: 76).

Harold Garfinkel ist der Begründer von Krisenexperimenten. Es handelt sich um eine explorative Methode der Erkenntnisgewinnung. Die Grundüberlegung dabei ist es, dass Menschen, die in einer Gesellschaft oder Gruppe dauerhaft zusammenleben, im Verlaufe ihrer Sozialisation Regeln des Zusammenlebens internalisiert haben, deren objektiver Sinn und Bedeutung ihnen verborgen ist (Merkens 1992: 227). Soziale Normen werden als Grundlage für den Zusammenhalt der Gesellschaft gesehen. Weil sich Alltagsstrukturen meist als praktikabel erweisen, werden sie in der Regel nicht gebrochen oder hinterfragt. Durch sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation können wir uns über vertraute Systeme verständigen und uns auch in neuen Situationen zurechtfinden. Das soziale Geschehen wird folglich durch gemeinsame Erwartungshaltungen stark vereinfacht. Obwohl Erwartungshaltungen ein so allgegenwärtiges Phänomen sind und Erwartungen innerhalb des Alltags stark strukturiert sind, fällt es schwer zu reflektieren, was man selbst für festgesetztes, unhinterfragtes Wissen hält. Durch den Bruch von informellen Normen sollen unbewusste Interaktionsregeln explizit zum Vorschein gebracht werden. Deshalb soll in dieser Arbeit ein neuer Blick auf Altbekanntes geworfen werden.

Garfinkel zeigt in seinem Werk „Studies of Ethnomethodologie“ drei Bedingungen auf, die eingehalten werden müssen, um einen Bruch mit der erlebten Wirklichkeit zu erreichen. Werden die Bedingungen befolgt, ist es einer Person nicht möglich, das Erlebte in einen Witz oder ein Experiment umzudeuten oder die Situation plötzlich zu verlassen.

Die drei Bedingungen lauten (Garfinkel 1964: 236):

1. Ausweichverbot
2. Zeitmangel
3. Isolation

Unter Ausweichverbot versteht Garfinkel das Verhindern des Ausbrechens aus einer Situation. Diese darf keinesfalls von der VP als nicht ernst oder legitim wahrgenommen werden und die VP soll nicht den Eindruck erhalten, unter Beobachtung zu stehen. Auch sollte es der Person nicht möglich sein, die Situation zu verlassen. Bezogen auf das durchgeführte Krisenexperiment an einer Warteschlange bedeutet dies, dass keiner der am Versuch Beteiligten die Ernsthaftigkeit in Frage stellen darf, etwa durch Lachen. Auch darf der VP nicht klar werden, dass es sich um ein Experiment handelt, die Dokumentation darf nicht bekannt werden. Das Ausbrechen wurde durch das Experiment an einer Warteschlange verhindert, hier ist ein Ausweichen erschwert, da es nur durch den Wechsel in eine andere Warteschlange oder das Verlassen des Gebäudes ermöglicht wird.

Unter der zweiten Prämisse, dem Zeitmangel, versteht Garfinkel ein möglichst knappes Zeitfenster, dass der VP zusteht, um die Situation zu normalisieren. Da die VP durch das Experiment in Bedrängnis gerät, wird sie zunächst versuchen, die Situationen ihren Vorstellungen anzupassen, um sie wieder in einen geregelten Rahmen einordnen zu können. Im durchgeführten Warteschlangenexperiment versuchten manche VP durch Aussagen wie „Warten Sie noch auf jemanden?“ dem Verhalten des Experimentators vor ihr einen Sinn zu geben. Dies wurde durch die erfolgte Antwort („Nein, ich warte auf niemanden“), verhindert. Der zeitliche Rahmen wurde gleichzeitig begrenzt, da die VP zeitlich effektiv an ihr Ziel, die Kasse, gelangen möchte.

Das letzte Kriterium, die Isolation, bezieht sich auf die Voraussetzung der fehlenden sozialen Unterstützung. Die Person, die sich in einer Krisensituation befindet, darf keinerlei Hilfe durch andere erfahren, da diese die Krise abschwächen oder als Witz umdeuten könnten. Für das durchgeführte Experiment bedeutet dies, dass explizit VP ausgewählt werden, die sich ohne Begleitung befinden. Werden diese Prämissen eingehalten, sollten die Chancen der Person der Krise auszuweichen oder umzudeuten, minimiert werden. Es soll zunächst auf die Aktualität von Ethnomethodologie eingegangen werden, da dies einen wichtigen Baustein des theoretischen Grundgerüstes darstellt.

2.4 Zur Aktualität von Ethnomethodologie

Die Ethnomethodologie ist der Ursprung verschiedener Forschungsrichtungen. Die Grounded Theory als ein wichtiges Element praktischer Soziologie baut letztendlich auch essentiell auf den Grundlagen der Ethnomethodologie Garfinkels auf, bei welcher zuerst empirisches Material aus z.B. Transkriptionen von Gruppendiskussionen gewonnen wird. Beim Codieren dieses empirischen Materials wird dann induktiv soziologische Theorie abgeleitet.

Weiterhin auf der Ethnomethodologie aufbauend ist als neuere Strömung die Akteur-Netzwerk-Theorie zu nennen. Bruno Latour verlieh ihr damit eine eher theoretisch ausgeprägte Ausrichtung. Die dokumentarische Methode wird als wichtiger Bestandteil bei der Betrachtung der Verhaltens- und Handlungsweisen zwischen mehreren Akteuren aufgeführt. Bis hin zu ihren neuesten Weiterentwicklungen ist die Ethnomethodologie häufig in einer „prinzipiellen Frontstellung gegenüber der traditionellen Soziologie“ (Weingarten/Sack 1976: 19f.) aufgetreten. Das Besondere an der Ethnomethodologie ist insofern zu sehen, dass andere soziologische Ansätze tendenziell als unangebracht gelten, theoretische Modelle oft unpassend sind und gewonnenes Wissen nicht zielführend ist, da die Theorie der Praxis sozusagen übergestülpt wird. Das heißt, dass die theoretischen Ansätze der komplexen Realität so nicht gerecht werden. Insgesamt kann man zusammenfassen, dass die praktisch orientierte Ethnomethodologie und induktive sinnverwandte soziologische Ausprägungen im relativen Gegensatz zu „gängigen“, eher theoretisch orientierten soziologischen Fachrichtungen stehen. Folgend soll auf auf einen Vergleich des Krisenbegriffs eingangen werden.

[...]


[1] Parsons 1951:15: „[...]the action of each other is oriented to the expectations of the other“. Sowie Kaegi 2012: 72: „Verhalten erzeugt […] Strukturen, welche zu Konsequenzen im Kontakt mit anderen führen, was dann die impliziten und expliziten Werte beeinflusst.“

[2] Zum genauen Ablauf des Krisenexperiments siehe Punkt 3.2 Verfahrensweise, S. 21

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Der Bruch von Erwartungshaltungen im Alltag. Ein soziologisches Krisenexperiment mit Blick auf Goffman und Garfinkel
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Philosophisches Institut I)
Veranstaltung
Bachelorarbeit, Soziologie
Note
1,3
Jahr
2016
Seiten
59
Katalognummer
V370875
ISBN (eBook)
9783668547063
ISBN (Buch)
9783668547070
Dateigröße
693 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Praktische Arbeit, Dozenten waren beide begeistert von der Idee sowie der Umsetzung. Es zeigt die Anwendung von Soziologie im Alltag
Schlagworte
Krisenexperimente Goffman Garfinkel praktisch Theorie
Arbeit zitieren
Anonym, 2016, Der Bruch von Erwartungshaltungen im Alltag. Ein soziologisches Krisenexperiment mit Blick auf Goffman und Garfinkel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370875

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