Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Zusammenfassung
2 Einführung
3 Gesundheitliche Ungleichheit und deren Ursachen
3.1 Wesentliche Begrifflichkeiten
3.2 Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit
4 Methodik
5 Einfluss des sozialen Status auf den Medikamentenkonsum – konzeptioneller Rahmen zur Wirkungsweise
6 Medikamentenkonsum und sozialer Status – Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse der systematischen Literaturrecherche
6.1 Überblick
6.2 Allgemeine Medikamentennutzung bei Erwachsenen und Senioren
6.3 Qualitätsunterschiede der Medikamente und Polypharmazie bei Erwachsenen und Senioren
6.4 Medikamentennutzung bei Kindern und Jugendlichen
6.5 Nutzung von Psychopharmaka und Kopfschmerztabletten
6.6 Medikamentennutzung bei Patient/inn/en mit Herz-Kreislauferkrankungen und anderen Zivilisationskrankheiten
7 Conclusio
8 Anhang
8.1 Tabellarischer Gesamtüberblick über identifizierte Studien
8.2 Abbildungsverzeichnis
8.3 Tabellenverzeichnis
9 Literaturverzeichnis
1 Zusammenfassung
Anliegen: Erstellung eines systematischen Literaturüberblicks über den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Status und Medikamentenkonsum unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes in OECD-Staaten. Ergebnisse des aktuellen Forschungsstandes zu diesem Zusammenhang werden vorgestellt und das Vorliegen etwaiger horizontaler Ungerechtigkeiten diskutiert. Methode: Recherche in den Datenbanken “Social Sciences Citation Index” und “Pub Med”. Ergebnisse: Insgesamt wurden 24 quantitative Studien identifiziert. Die Studien variieren in Forschungsschwerpunkt, zugrunde liegendem Datenmaterial, Messgrößen, Methodik sowie kontextuellen Rahmenbedingen und liefern mitunter inkonsistente Ergebnisse. Eine eindeutige Ableitung horizontaler Ungerechtigkeit ist aus den Resultaten der Studien daher nicht möglich. Tendenziell wiederkehrende Themen der Studien sind jedoch die positive Auswirkung von Versicherungsschutz, der positive Zusammenhang zwischen Bildung und Medikamentenkonsum, insbesondere im Bereich der rezeptfreien und präventiven Medikamente, sowie mögliche Qualitäts-unterschiede nach sozialer Klasse bei verschriebenen Medikamenten. Schlussfolgerung: Die Ergebnisse der Studien zeigen ein differenziertes Bild und müssen immer unter Berücksichtigung des jeweiligen institutionellen Hintergrundes bzw. Gesundheitssystems betrachtet werden.
2 Einführung
Zahlreiche internationale Studien liefern Evidenz dafür, dass sowohl hinsichtlich der Sterblichkeit als auch des Auftretens vieler Krankheiten Personen unterer Gesellschaftsschichten stark benachteiligt sind (vgl. Mielck 2005: 7). So zeigen Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozialen Status, verglichen mit sozial besser gestellten Bevölkerungsschichten, in allen Lebensphasen eine wesentlich höhere Krankheitsbelastung wie auch eine schlechtere subjektive Gesundheit (vgl. Noack 2001: VII). In den entwickelten Ländern weisen ärmere Menschen Sterberaten auf, die zwei- bis viermal über denen der wohlhabenderen Personen in derselben Gesellschaft liegen (vgl. Wilkinson 2001: 4). Diese Zusammenhänge sind in der Regel linear: je ungünstiger der sozioökonomische Status, desto höher Mortalität und Morbidität (vgl. Richter/Hurrelmann 2009: 19).
Vergleicht man unterschiedliche Gesellschaften miteinander, so erscheint jedoch beachtenswert, dass eine Gesamtbevölkerung mehr als doppelt so reich sein kann als eine andere, ohne dabei gesünder zu werden, sobald eine bestimmte kritische Einkommensschwelle überschritten wurde (vgl. Wilkinson 2001: 4). Der absolute materielle Wohlstand einer Gesellschaft erscheint somit nicht ausschließlich als ausschlaggebend, vielmehr scheint auch der „relative“ Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft für Gesundheit oder Krankheit determinierend zu sein (vgl. Wilkinson 2001: 4). Auch für Österreich gilt, dass ein niedriger sozialer Status mit höherer Krankheitsprävalenz verbunden ist (vgl. Burkert et al. 2012). Gesundheit scheint somit in erheblichem Maße von der sozialen Stellung der/des Einzelnen, sowie dem Ausmaß sozialer und wirtschaftlicher Unterschiede innerhalb der gesamten Bevölkerung bestimmt (vgl. Wilkinson 2004: 4). Einkommen, Bildung und Berufsstatus stellen damit zentrale Determinanten der Gesundheit dar – der genaue Wirkungsmechanismus ist bis heute jedoch unzureichend verstanden (vgl. Richter/Hurrelmann 2009: 20).
Die Schichtunterschiede im Gesundheitszustand zu erkennen und zu verstehen stellt eine wesentliche Grundvoraussetzung für die Gestaltung gesundheitsfördernder und präventiver Maßnahmen im Rahmen der Gesundheitspolitik dar (vgl. Knopf et al. 1999: 170). Die Problematik gesundheitlicher Ungleichheit findet jedoch nur zögerlich Eingang in die politische Diskussion, und das diesbezügliche Wissen reicht nur bedingt um als „ guide for action “ dienen zu können (vgl. Richter/Hurrelmann 2009: 25). Im Hinblick darauf kommt der Suche nach Ursachen dieser Ungleichheiten besondere Bedeutung zu, da etwaige Maßnahmen ein Verständnis der ursächlich wirksamen Phänomene voraussetzen.
Eine Reihe theoretischer Ansätze versucht die komplex zusammenhängenden Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit zu erklären, so wird unter anderem auch die gesundheitliche Versorgung als möglicher beeinflussender Faktor gesehen. Hierunter fallen beispielsweise die gesundheitliche Aufklärung, der Besuch von Allgemeinmediziner/inn/en und Fachärzt/inn/en oder die medikamentöse Behandlung bestehender Krankheiten (vgl. Mielck 2005: 49). Über die generelle Inanspruchnahme medizinischer Leistungen von Personen mit unterschiedlichem Sozialstatus liegen vorwiegend quantitative Studien vor, die diesen Zusammenhang in verschiedenen OECD-Staaten untersuchen. Diese stellten u.a. einheitlich fest, dass sozial schlechter gestellte Individuen deutlich seltener Fachärzt/inn/en aufsuchen (vgl. u.a. Hansen et al. 2012, Stirbu et al. 2011, van Doorslaer 2004).
Zu dem Zusammenhang zwischen Medikamentenkonsum und sozialem Status liegen bisher wenige Studien vor, darüber hinaus liefern die vorliegenden Arbeiten inkonsistente Ergebnisse (vgl. Gundgaard 2005, Nordin et al. 2010). Unterschiede in den untersuchten Populationen, der Methodik, den zugrunde liegenden Messgrößen und Rahmen-bedingungen werden als Ursachen hierfür gesehen (vgl. u.a. Nordin et al. 2010).
Die vorliegende Arbeit soll einen Überblick über vorhandene empirische Evidenz zum Zusammenhang zwischen Medikamentenkonsum und sozialem Status schaffen. In diesem Sinne stehen folgende Forschungsfragen im Mittelpunkt der Arbeit:
1.) „Welche empirische Evidenz liegt vor, die einen Zusammenhang zwischen Medikamentenverbrauch und sozioökonomischen Status untersucht?“
2.) „Welche Ungleichheiten können aufgrund dieser vorliegenden Evidenz in der Medikamentennutzung nach sozioökonomischem Status der Nutzer/inn/en festgestellt werden?“
Vorab erfolgt eine kurze Erörterung der grundlegenden Begriffe im Zusammenhang mit gesundheitlicher Ungleichheit und verschiedener theoretischer Erklärungsansätze für dieses Phänomen (Kapitel 2). Folgend auf eine detaillierte Beschreibung der Vorgehensweise (Kapitel 3) wird ein Rahmen zum Verständnis des Zusammenhanges zwischen sozialem Status und Arzneimittelgebrauch geschaffen (Kapitel 4). In Form einer systematischen Literaturrecherche wurden empirische Studien, deren Forschungsinteressen sich mit obigen Forschungsfragen decken, identifiziert und im Anschluss nach Forschungsschwerpunkten gegliedert und diskutiert (Kapitel 5). Zielsetzung der Arbeit ist es, einen soliden Überblick über die internationale Evidenz zu dieser Thematik zu schaffen, welcher zusätzlich anhand einer tabellarischen Übersicht präsentiert wird (Anhang). Letztendlich werden Schlussfolgerungen aus der Analyse der Literatur gezogen und weiterer Forschungsbedarf aufgezeigt (Kapitel 6).
3 Gesundheitliche Ungleichheit und deren Ursachen
3.1 Wesentliche Begrifflichkeiten
Soziale Ungleichheit bezeichnet generell jede Art von unterschiedlichen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe gewisser Personengruppen bzw. deren ungleicher Verfügung über gesellschaftlich relevante Ressourcen (vgl. Krause 2007: 686). Der soziökonomische Status bezeichnet die Position eines Individuums, gemessen an Beruf, Bildung und Einkommen (vgl. Mielck 2005: 8). In einem Gesellschaftsgefüge, in welchem soziale Ungleichheit herrscht, determiniert der soziale Status die Verfügung über gesellschaftlich relevante Ressourcen bzw. sind in einer solchen Gesellschaft ungleiche Zugangswege zu diesen Ressourcen vorhanden (vgl. Lampert/Kroll 2009: 310). Soziale Vor- und Nachteile, welche durch den sozioökonomischen Status bedingt sind, stellen das primäre Interesse der sozialepidemiologischen Ungleichheitsforschung, wie auch der in dieser Arbeit diskutierten Studien, dar (vgl. Lampert/Kroll 2009: 310). „Horizontal“ zu diesen hierarchisch gegliederten, berufsspezifischen Ungleichheiten verlaufen Begünstigungen und Benachteiligungen nach Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Ethnizität (vgl. Lampert/Kroll 2009: 311).
In der Soziologie wird das Konzept „der sozialen Schichten“ gemessen an Beruf, Bildung und Einkommen mitunter nicht (mehr) für adäquat befunden, um die Komplexität der Struktur postmoderner Gesellschaften abzubilden – anstatt dessen werden Lebenslagenmodelle[1] vorgeschlagen (vgl. Hradil 2008: 228ff). Mielck (2005: 8) betont jedoch, dass in zahlreichen sozial-epidemiologischen Studien (wie bereits oben erwähnt) immer wieder gezeigt wurde, dass der soziale Status einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesundheit und Lebenserwartung eines Menschen in der Gesellschaft haben kann. Bei Verwendung des sozialen Status als Variable erscheint es jedoch als sinnvoll, diesen als „kontextabhängig“ zu betrachten. Dies bedeutet zu berücksichtigen, dass das jeweilige Sozialsystem, in welches das Individuum eingebettet ist, durch Transferleistungen Einfluss auf die mit dem Sozialstatus verbundenen Vor- und Nachteile nehmen kann. Bei Heranziehung des sozialen Status als Messgröße für soziale Unterschiede ist weiters zu beachten, dass die sozialen Vor- und Nachteile eines Einzelnen nicht nur durch den momentanen Status definiert werden, sondern im Lebensverlauf veränderbar sind – hierbei spricht man von „sozialer Mobilität“ (vgl. Hradil 2008: 225). Verbleibt jemand lange in einer bestimmten Statuslage, so prägt diese die Person nachdrücklicher, als nur ein kurzes Verweilen in dieser Position (vgl. Hradil 2008: 225). Diese Kritikpunkte sollen deutlich machen, dass es wichtig ist, den sozialen Status nicht als gänzlich festgelegte, starre und ohne weiteres vergleichbare Größe zu betrachten, sondern ihn in einem gewissen Maß auch als kontextabhängig und dynamisch anzusehen.
Der Begriff „gesundheitliche Ungleichheit“ benennt den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit (vgl. Richter/Hurrelmann 2009: 13). Die genaue Terminologie, welche verwendet wird, um die gesundheitsrelevanten sozialen Unterschiede in der Gesellschaft zu beschreiben, kennt vier zentrale Begriffe: social variations („Variationen“) in health, social disparities („Unterschiede“) in health, social inequalitites („Ungleichheiten“) in health und social inequities („Ungerechtigkeiten“) in health (vgl. Siegrist/Marmot 2008: 19). Während die ersten beiden Begriffe lediglich allgemeine Bezeichnungen der gesundheitlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten aufgreifen, so weist der Begriff „Ungleichheiten“ zusätzlich auf die Unterschiede in Macht und Ressourcen hin, die mit einem bestimmten sozioökonomischen Status einhergehen und die vertikale soziale Stratifizierung einer Gesellschaft ausmachen (vgl. Siegrist/Marmot 2008: 19).
Mielck (2005: 7) betont, dass ausschließlich health inequalities einen (gesundheits-) politischen Handlungsdruck erzeugen, die als health inequities wahrgenommen werden. Die Bezeichnung „Ungerechtigkeiten“ in der Gesundheit (health inequities) hat normativen Charakter und orientiert sich an der Idee sozialer Gerechtigkeit in der Gesundheit (vgl. Siegrist/Marmot 2008: 19). Sie impliziert, dass jede Person eine faire Chance hat ihr volles Gesundheitspotential zu erreichen, da eine faire Verteilung grundlegender Lebenschancen gegeben ist (vgl. Siegrist/Marmot 2008: 19). Horizontale Gerechtigkeit in der Gesundheit geht der Frage nach, ob Personen unterschiedlicher sozialer Schichten, jedoch mit vergleichbarem medizinischen Bedarf, auch gleiche bzw. gleichwertige medizinische Behandlungsmöglichkeiten erhalten (vgl. Bambas/Casas 2003: 324). Vertikale Gerechtigkeit hingegen stellt die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse und verfügbaren Ressourcen verschiedener sozialer Schichten mit unterschiedlichem medizinischen Bedarf in den Vordergrund (vgl. Bambas/Casas 2003: 324). Die meisten OECD-Staaten verfolgen in der Gesundheitspolitik primär das Prinzip „ equal access to equal care for equal need “ (de Looper/Lafortune 2009: 31). Die Frage nach horizontaler, gesundheitlicher Gerechtigkeit im Medikamentenkonsum steht ebenso bei den in dieser Arbeit diskutieren Studien im Mittelpunkt.
3.2 Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit
Eindeutige Ursache-Wirkungszusammenhänge zu gesundheitlicher Ungleichheit sind bis heute nicht bekannt (vgl. Bauer et al. 2009: 15; Mielck 2005: 47). Eine Reihe theoretischer Ansätze versucht jedoch die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit zu erklären – in der aktuellen Literatur (vgl. u.a. Bauer et al. 2009: 16f, Siegrist/Marmot 2008: 22f; Richter/Hurrelmann 2009: 21f; Mielck 2005: 50f) findet man hierbei in den Grundzügen vorwiegend folgende erklärende Faktoren:
Erstens wird der Mangel materieller Ressourcen bzw. Einwirkungen durch eine schädliche Wohn- und Arbeitssituation genannt; dies beinhaltet beispielsweise ungesunde Nahrungsmittel oder Gefährdungen am Arbeitsplatz (materieller Ansatz). Zweitens wird eine geteilte Kultur, welche mit bestimmten schichtspezifischen Präferenz- und Verhaltensmustern einher geht und u.a. gesundheitsschädliches Verhalten, wie Bewegungsmangel, Tabak- und Alkoholkonsum fördert, als relevant angesehen (kulturell- verhaltensbezogener Ansatz). Darüber hinaus werden psychosoziale Phänomene für den sozialen Gradienten verantwortlich gemacht (psychosozialer Ansatz). Diese beinhalten übermäßigen Stress und seelische Belastungen und auch die vergleichsweise eingeschränkte Möglichkeit der erfolgreichen Bewältigung dieser Probleme. So wird angenommen, dass Angehörige niedriger sozialer Schichten mit größeren objektiven Belastungen konfrontiert sind (z.B. finanzielle Sorgen, Angst vor Arbeitslosigkeit, Existenzängste) und zudem über weniger taugliche „Ressourcen“ (z.B. soziale Unterstützung) verfügen, um diese zu verarbeiten. Neuere theoretische Modelle bieten einen zusammenfassenden Blick auf die Problematik und versuchen das komplexe Zusammenspiel mehrerer Faktoren abzubilden (vgl. Mackenbach 2006: 32).
Ein weiterer Forschungsansatz, welcher für diese Arbeit von zentraler Bedeutung ist, sieht Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung als wichtigen Bestimmungsfaktor gesundheitlicher Ungleichheit an. Dieser Ansatz wird jedoch kontrovers diskutiert (vgl. Richter/Hurrelmann 2009: 21): Während einige Autor/inn/en die Einflussnahme von Qualität und Zugang zu gesundheitlicher Versorgung explizit als weniger ausschlaggebend betrachten, da sie vor allem psychosozialen Faktoren große Bedeutung schenken (vgl. Richter/Hurrelmann 2009; Siegrist/Marmot 2008), erachtet Mielck (2005: 52f) Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung als zentrale Determinante gesundheitlicher Ungleichheit. Dieser Aspekt beinhaltet u.a. gesundheitliche Aufklärung, präventive Maßnahmen (z.B. Vorsorgeuntersuchungen), Konsultationen von Allgemeinmediziner/inn/en und/oder Fachärzt/inn/en wie auch die medikamentöse Behandlung bestehender Krankheiten. Mielck (2005: 52f) weist in diesem Zusammenhang auch auf unterschiedliche Verhaltensmuster bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, unterschiedliche Fähigkeiten bei der Kommunikation mit Ärzten und unterschiedliche Möglichkeiten im Umgang mit Krankheit hin. Selbst für den Fall, dass das Solidaritätsprinzip einer gesetzlichen Krankenversicherung theoretisch für gleiches Angebot sorgt, können somit noch immer schichtspezifische Unterschiede in der Inanspruchnahme existieren; hier stellt sich insgesamt die Frage über deren Ausmaß und Wirksamkeit im Hinblick auf gesundheitliche Ungleichheit (vgl. Mielck 2005: 73).
Andersen (1995: 1ff) bietet in einem von ihm entwickelten Verhaltensmodell[2] einen theoretischen Erklärungsansatz dazu, welche Faktoren, darunter auch der soziale Status, sich auf die Nutzung medizinischer Leistungen auswirken. Demnach wirken in einem ersten Schritt prädisponierende Merkmale, darunter demographische Merkmale (z.B. Alter, Geschlecht), sowie sozialstrukturelle Merkmale (z.B. Bildung, Beruf). Letztere bestimmen nicht nur den Status in der Gesellschaft, sondern geben Aufschluss über Ressourcen, um bestehende Probleme zu bewältigen und über gesundheitsförderliche oder -schädliche Umweltbedingungen. Weiters werden Annahmen über Gesundheit, sowie Annahmen über medizinische Leistungen als prädisponierende Merkmale betrachtet.
In einem zweiten Schritt sind befähigende Ressourcen notwendig, damit eine Nutzung medizinischer Leistungen stattfindet. Hier müssen allgemein medizinische Einrichtungen und entsprechendes Personal vorhanden sein, aber auch auf persönlicher Ebene bedarf es an Mitteln und Knowhow, um diese nutzen zu können (z.B. Einkommen und Krankenversicherung). Andersen unterscheidet in einem dritten Schritt einerseits den wahrgenommenen Bedarf, welcher sich auf das subjektive Erleben etwaiger Krankheitssymptome und die Notwendigkeit medizinische Behandlung hierfür in Anspruch zu nehmen bezieht, andererseits den untersuchten Bedarf, welcher stärker an tatsächlichen biologischen Erfordernissen und dem Stand der Medizin für etwaige Behandlungsmöglichkeiten ausgerichtet ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Verhaltensmodell zur Nutzung medizinischer Leistungen, übersetzt aus Andersen (1995: 3)
Betrachtet man nun dieses Modell und die darin wirksamen Faktoren, so liegt nahe, dass der soziale Status vermutlich nicht nur auf der Ebene der prädisponierenden Merkmale (direkt Sozialstruktur, indirekt auch möglicherweise Annahmen über Gesundheit) wirksam werden kann, sondern auch auf der Ebene der allgemeinen Ressourcen (z.B. Wohnort in Gegend mit geringer medizinischer Infrastruktur) und persönlichen Ressourcen (Einkommen, Krankenversicherung, Zusatzversicherung). Auch Unterschiede im wahrgenommen Bedarf könnten schichtspezifisch unterschiedlich sein und eine etwaige unterschiedliche Nutzung medizinischer Leistungen erklären. Diese Unterschiede wurde empirisch nachgewiesen: So zitiert Mielck (2005: 74) in diesem Zusammenhang deutsche Studien, welche eine geringere Inanspruchnahme verschiedener Vorsorgeuntersuchungen niedriger sozialer Schichten zeigten, sowie gleichermaßen überwiegend einen geringeren Impfschutz. Bereits in den Neunziger Jahren lagen für Deutschland empirische Daten vor, die verdeutlichten, dass von unteren Einkommensgruppen zumeist ausschließlich Allgemeinmediziner/innen konsultiert, Fachärzt/inn/e/n hingegen überproportional selten besucht wurden (vgl. Mielck 2005: 76). Gleichermaßen kommt auch eine aktuelle norwegische Studie zu diesem Ergebnis (Hansen et al. 2012) und bestätigt damit auch die Erkenntnisse vergangener Arbeiten, die sich ebenso mit der Inanspruchnahme fachärztlicher Leistungen in zahlreichen europäischen bzw. OECD-Ländern beschäftigten und hierbei analoge signifikante Unterschiede in der Nutzung spezialisierter Fachärzt/inn/e/n fanden (siehe beispielsweise van Doorslaer 2004, Stirbu et al. 2011). Über den Einfluss schichtspezifischer Unterschiede auf die Nutzung von Medikamenten (als relevanten Teilaspekt der medizinischen Versorgung) ist bisher wenig bekannt (Gundgaard 2005; Mielck 2005: 78) bzw. fehlt eine systematische Aufarbeitung der Literatur, dieser Zusammenhang stellt folglich den zentralen Untersuchungsgegenstand der folgenden Kapitel dar.
4 Methodik
Um Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Medikamentenverbrauch und sozioökonomischem Status zu bekommen, wurden in Form einer systematischen Literaturrecherche in einem ersten Schritt Arbeiten, die diesen Zusammenhang empirisch untersuchen, identifiziert. Hierbei lag das Augenmerk auf englischsprachigen Studien, welche in den vergangenen fünfzehn Jahren in OECD-Staaten durchgeführt wurden bzw. sich (auch) auf diese beziehen. Wesentliche Zielsetzung war es, Studien zu finden, welche Unterschiede im Hinblick auf etwaige Versorgungsunterschiede bei Betrachtung des Medikamentenkonsums verschiedener sozialer Schichten zu identifizieren.
Es erscheint naheliegend, dass der Gesundheitszustand eine Hauptdeterminante für den Konsum von Medikamenten darstellt. Dieser steht jedoch, wie oben erläutert, mit dem sozioökonomischen Status in Zusammenhang (vgl. Mackenbach et al. 2008). Personen niedriger sozialer Schichten leiden, wie oben ausführlich diskutiert, häufiger unter einem schlechten Gesundheitszustand. Daher gilt die Anforderung an die selektierten Studien, dass der individuelle Gesundheitszustand berücksichtigt (sprich: als Kontrollvariable inkludiert) wird. Dies ist notwendig, um nicht indirekt den bereits bekannten Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialem Status zu untersuchen (vgl. Nordin et al. 2012: 106; vgl. Nielsen et al. 2003: 677).
Der sozioökonomische Status soll in den Studien auf individuellem Level, d.h. direkt an der Person, gemessen werden. Daher dienen ausschließlich die Indikatoren Bildung, Beruf und/oder Einkommen als geeignete Messgrößen. Im Gegensatz dazu werden Studien, welche die Wohngegend (z.B. über die Postleitzahl) der untersuchten Population als Indikator für sozioökonomischen Status gewählt hatten, ausgeschlossen.
Zusammengefasst lauten die Auswahlkriterien wie folgt:
- Sprache (Englisch)
- Zeitpunkt (nach 1998 veröffentlicht)
- Land der Durchführung („OECD-Staat“)
- Berücksichtigung des Gesundheitszustands als Kontrollvariable
- Messung des sozioökonomischen Status anhand der Kriterien „Einkommen, Bildung oder Beruf“
Die Datenbanken „Social Sciences Citation Index®“ und „PubMed“ wurden manuell nach folgenden Paramatern durchsucht:
- Topic: socioeconomic factors AND Title: medication use
- Title: socioeconomic factors AND Topic: medication use
- Title: socioeconomic AND Title: medication
- Title: socioeconomic AND Title: drug utilization
- Title: socioeconomic AND Title: drug therapy
- Title: socioeconomic AND Title: drug use
- Title: socioeconomic AND Title: drug (nur PubMed)
- Title: socioeconomic AND Title: medicine
- Title: social class AND Title: medicine use
- Title: income AND Title: medicine
- Title: inequalities AND Title: medicine
- Title: inequalities AND Title: drug
- Title: socio-economic AND Title: medicine
- Title: social determinants AND Title: medicine
- Topic: inequalities AND Title: medicine use
- Title: income AND Title: inequalities AND Title: drugs
Die Suche in der Datenbank „Social Sciences Citation Index®“ lieferte 46 verfügbare Studien, nach genauerer Durchsicht und Überprüfung der oben spezifizierten Auswahlkriterien schienen lediglich 16 Studien als relevant. Durch die ergänzende Suche in der Datenbank „PubMed“ wurden 18 weitere Studien identifiziert, wovon 7 den Kriterien entsprachen und in die Arbeit aufgenommen wurden. Ergänzt wurde dies durch eine Freitextsuche in der Suchmaschine „Google“ nach der Schlagwortkette „ socioeconomic differences in use of medication “ (hierbei wurden die ersten 10 Ergebnisseiten berücksichtigt) durch die ebenso 1 relevante Studie herausgefiltert wurde. Die gewählte Suchstrategie sollte sicherstellen, ein möglichst breites Feld relevanter Studien zu dieser Thematik zu identifizieren.
5 Einfluss des sozialen Status auf den Medikamentenkonsum – konzeptioneller Rahmen zur Wirkungsweise
Betrachtet man den Zusammenhang zwischen Medikamentenkonsum und sozioökonomischen Größen, so stellt sich die Frage, inwiefern diese wirksam werden können. Vor der Diskussion der identifizierten Studien soll deshalb ein theoretischer Rahmen geschaffen werden, der zum besseren Verständnis des Einflusses des sozialen Status auf den (verschreibungspflichtigen) Medikamentenkonsum beiträgt. Weitoft et al. (2008) stellen zur Untersuchung dieses Zusammenhanges und auch anderen demographischen Variablen einen Bezugsrahmen auf, welcher in Abbildung in 1 dargestellt ist. Dieses Konzept veranschaulicht die einzelnen Teilaspekte, über welche sich Bildung, Beruf und Einkommen direkt und indirekt auf die Konsumation von Medikamenten auswirken können.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Konzeptioneller Rahmen zum Verständnis des Einflusses des sozialen Status auf den Medikamentenkonsum, aus Weitoft et al. (2008)
Gleichzeitig werden jedoch auch (andere) demographische Faktoren, wie u.a. Alter oder Geschlecht als Einflussgrößen auf den Konsum von Arzneimitteln gesehen. So besteht zwischen Alter und verschreibungspflichtigen Medikamentenkonsum ein positiver Zusammenhang (vgl. u.a. Nielsen et al. 2003: 682).[3] Frauen wird ebenso eine höhere Medikamentennutzung zugeschrieben, wobei mögliche Ursachen in höheren Morbiditätsraten bei nicht-tödlichen, chronischen Krankheiten, einer erhöhten Sensibilität auf Symptome und einer größeren Bereitschaft sich Hilfe zu holen, gesehen werden (vgl. Bardel et al. 2000: 637).
Betrachtet man nun die Einwirkung des sozialen Status auf den ersten Teilschritt der Reihe burden of disease (A in Abbildung 2), so ist der eingangs ausführlich diskutierte „soziale Gradient“ in der Morbidität zu erwähnen. Dieser besagt, dass Personen aus niedrigen sozialen Schichten häufiger krank sind und daher vermutlich auch einen höheren Bedarf an Medikamenten aufweisen. Durch Kontrolle auf Gesundheitszustand bei den untersuchten Studien soll dieser Zusammenhang berücksichtigt werden.
Auch die Ausgestaltung des jeweiligen nationalen Gesundheitssystems (B) kann eine mögliche Ursache für etwaige sozioökonomische Differenzen in der Medikamentennutzung darstellen. So liegen in jedem OECD-Staat nicht nur verschiedene Möglichkeiten der medizinischen Versorgung vor, auch können unterschiedliche Zugangsbarrieren zur Nutzung medizinischer Leistungen durch eingeschränkten Krankenversicherungsschutz oder Selbstbeteiligungen bestehen (vgl. de Looper/Lafortune 2009: 31). Diese Barrieren können in Folge finanzielle Hindernisse für wirtschaftlich benachteiligte Schichten darstellen einen Arzt aufzusuchen und dadurch indirekt auf den Medikamentenkonsum einwirken. Unabhängig davon können ebenso Rezeptgebühren oder eine hohe Selbstbeteiligung an Medikamentenkosten eine direkte Hürde für einkommensschwächere Personen darstellen, welche diese von der Konsumation des Medikamentes abhält (vgl. Butterworth et al. 2013: 2; vgl. Nordin et al. 2013: 109). Arzneimittelkosten sind üblicherweise in geringerem Maße als andere medizinische Leistungen über Versicherungsleistungen abgedeckt, hier sind in den meisten OECD-Staaten entsprechende Zahlungen seitens der Patient/inn/en zu leisten (vgl. Paris et al. 2010: 21). Um Personen mit erhöhten Gesundheitsrisiken oder als besonders schützenswert erachtete Personen abzusichern, sind in einigen OECD-Staaten Individuen mit bestimmten Erkrankungen, Senioren, Kinder oder schwangere Frauen von Zuzahlungen ausgenommen (vgl. Paris et al. 2010: 23). Darüber hinaus haben mehrere OECD-Staaten auch Obergrenzen für medizinische Selbstbehalte festgelegt, zumeist im Verhältnis zu dem individuellen bzw. Haushaltseinkommen (vgl. Paris et al. 2010: 23). Auch werden mitunter besonders einkommensschwache Personen von Zuzahlungen ausgenommen (vgl. Paris et al. 2010: 23). Das Zusammenspiel der Gestaltung des Gesundheitssystems, des Versicherungsschutzes sowie vorgeschriebener Selbstbeteiligungen (und entsprechender Ausnahmeregelungen) unterliegt somit auch innerhalb verschiedener OECD-Staaten maßgeblichen Unterschieden, daher ist die Beurteilung soziökonomischer Differenzen in der Medikamentennutzung auch immer nur unter Miteinbeziehung der Rahmenbedingungen des jeweiligen Gesundheitssystems möglich.
[...]
[1] Als Lebenslage wird die jeweilige Konstellation vorteilhafter und nachteiliger Lebensbedingungen bezeichnet. Die „Lebenslage“ hängt davon ab, welche Determinante die (un)vorteilhaften Lebensbedingungen hauptsächlich bestimmt z.B. berufliche Stellung als Angestellte/r oder die Stellung als Student/in. Hradil (2008) argumentiert, dass die verlängerten Bildungsphasen und der hohe Anteil derer, die von staatlichen Transfermaßnahmen leben (z.B. Pensionierte, Arbeitslose, Studierende) die Lage der Einzelnen oft weniger nach der beruflichen Stellung als z.B. nach wohlfahrtstaatlichen Versorgungsleistungen bemessen (vgl Hradil 2008: 228ff).
[2] Hier wird auf das „Initial Behavioral Model“ aus den 1960er Jahren Bezug genommen (vgl. Andersen 1995: 1ff)
[3] Der Zusammenhang zwischen Alter und rezeptfreiem Medikamentenkonsum hingegen weist in vielen Studien keinen eindeutigen Trend auf, tendenziell nimmt der diesbezügliche Arzneimittelverbrauch mit zunehmendem Alter ab.