Leseprobe
Inhalt
Einleitung
1 Die Kritikpunkte
1.1 Kritik an der Person Arendts
1.2 Kritik an der Haltung Arendts
1.3 Kritik am Inhalt und am Zeitpunkt des Arendt’schen Urteils .
2 Das Urteilen: Arendts Verständnis politischer Freiheit
Fazit
Einleitung
Der Austausch zwischen dem Religionshistoriker Gershom Scholem und der politischen Denkerin Hannah Arendt ist in ihrem Briefwechsel aus dem Jahr 1963 dokumentiert. Über vier Briefe tauschen sich die Adressaten offen und freundlich miteinander aus, wobei man nur schwer von einem wahren Dialog sprechen kann. Im Zentrum steht dabei Arendts kurz zuvor erschienenes Buch Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil1 und der Eichmann-Prozess selbst.
Die voliegende Hausarbeit fasst zunächst die einzelnen Kritikpunkte und Repliken zusammen. Dabei wird die Thematik des Zeitpunkts des Arendt’schen Ürteils bzw. Berichts näher untersucht. Als Ausgangspunkt hierfär dient Scholems These, diese Generation durfe noch nicht äber die Handlungen im Holocaust urteilen. Ziel ist es herauszuarbeiten, warum Arendt die Handlung des Ürteilens ins Zentrum stellt. Ihr eigenes Ürteil bringt sie — entgegen eigener Behauptung es handle sich lediglich um einen Prozessbericht — in Eichmann in Jerusalem klar zum Ausdruck.
Dem Ürteil, das primär als Handlung verstanden wird, spricht Arendt eine starke politische Bedeutung zu, so die These, die im Folgenden untersucht wird. Üm die politische Dimension des Ürteilens selbst zu realisieren, stellt Hannah Arendt ihr moralisches Ürteil über die Handlungen einzelner Personen wahrend des Holocaust öffentlich zur Diskussion. Fur Arendt liegt in der Veröffentlichung der eigenen Meinung und somit dem eigenen Ürteil, die politische Freiheit, da nur durch solch ein Handeln ein Meinungsaustausch im oäffentlichen Raum stattfinden kann. Arendt nimmt demnach in Eichmann in[1]
Jerusalem ihre eigene politische Freiheit wahr und handelt politisch, indem sie urteilt.
1 Die Kritikpunkte
Scholem kritisiert in seinem Brief vom 23.06.1963, Arendt habe den Juden die Verantwortung für ihren eigenen Untergang zugeschrieben und gleichzeitig Eichmanns Verantwortung für die Durchführung der Endlüsung heruntergespielt. Aufgrund „voellig einseitiger Akzentsetzung“ wirke der Bericht von der Banalitat des Bosen, so Scholem, selbst „bitterboese“.[2] Desweiteren unterstellt er ihr eine fehlende Liebe zum jüdischen Volk, eine antizionistische Grundhaltung sowie einen Mangel an Herzenstakt. Lediglich ein positives Urteil führt Scholem zu Eichmann in Jerusalem an, nümlich, dass Arendt darin ,,[...] ein durchaus lebenswichtiges Problem aufgeworfen [...]“ habe.[3] Um die Kritik Scholems nüher zu analysieren, wird diese in drei Teilaspekte unterteilt: Die Kritik an der Person Arendts (1), die Kritik an der Haltung Arendts (2) und die Kritik am Inhalt und am Zeitpunkt der Arendt’schen Darstellung (3). Die einzelnen Aspekte lassen sich nicht klar voneinander unterscheiden, sondern beeinflussen sich gegenseitig und besitzen fließende Ubergünge. Neben dieser Unabgrenzbarkeit, liegt in der Mehrdimensionalitüt der Thematik eine weitere Problemstellung. Beide Adressaten wechseln hüufig ihre Aussageperspektive, sodass die heutige Leserschaft zur Frage gezwungen ist: „Geht es um eine Diskussion der historischen Tatsachen [...] oder um eine Schilderung durch die verschiedenen Teilnehmer des Eichmann-Prozesses [...] oder um Hannah Arendts Bericht vom Verlauf des Prozesses?“[4]
1.1 Kritik an der Person Arendts
Scholem beginnt seine Kritik mit der emotionalen Feststellung, Arendts Buch habe ein Gefuehl der Bitterkeit und Scham [...]“ in ihm hervorgerufen, das sich ,,[...] nicht ueber das Referierte, sondern ueber die Referentin [...]“ erstreckt. Dieses Gefühl wird, so Scholem, durch Arendts Ton und durch ihre fehlende Liebe zu den Juden bei ihm hervorgerufen. Ihr Ton sei herzlos und hamisch und damit sei Eichmann in Jerusalem der Thematik ganz unangemessen, im Stil der Leichtherzigkeit geschrieben und frei von Herzenstakt.[5] Dieser fehlende Takt des Herzens, so vermutet Scholem, sei vorallem auf Arendts fehlende Liebe zu den Juden, ,,[...] was die Juden Ahabath Israel nennen [...]“ (Hervorh. im Original),[6] zurückzuführen.
Arendt geht sowohl auf die Kritik ihres Stils, als auch auf ihre angeblich fehlende Liebe zu den Juden ein. Den ersten Punkt begründet Arendt in ihrem Brief vom 20.07.1963 damit, Ironie genutzt und diese auch deutlich gemacht zu haben.[7] In der englischen Originalausgabe ihres Buches führen insbesondere drei Textstellen zur Kritik: erstens, ihre Bezeichnung von Leo Baeck[8] als >Jewish Führer<[9], ihre Darstellung des Armbindenverkaufs durch judische Funktionäre unter Berufung auf die Darstellung Raoul Hilbergs und ihre Bezeichnung Eichmanns als Zionist.
In ihrer oben genannten Replik geht Arendt lediglich auf die Textstelle über Eichmann ein, die folgendermaßen lautet: „Von nun an war er für immer >Zionist«. Seit damals, das wiederholte er immer wieder, habe er kaum etwas anderes im Kopf gehabt als die politische Lösung« der Judenfrage.“[10] In ihrem Brief an Scholem betont Arendt nochmals, die Ironie dadurch gekennzeichnet zu haben, dass es ,,[...] deutlichst in indirekter Rede [...j“[11] stehe. Während Arendt diese Texstelle zumindest noch glaubt grammatikalisch verteidigen zu kännen, streicht Arendt die nazisprachliche Bezeichnung Leo Baecks in der deutschen und der zweiten englischen Ausgabe - allerdings bleibt der Ausdruck selbst auch weiterhin bestehen: In der Textpassage über den Armbindenverkauf[12] bleibt sie erhalten. Dort schreibt Arendt, dass die ,,[...] Rolle der jädischen Fuhrer bei der Zerstärung ihres eigenen Volkes [...] fur Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte [sei].“ (Hervorh. d. A.)[13] Arendt scheint hier keine Notwendigkeit zur Erklärung ihrer Person oder der Textselle gegenüber Scholem zu sehen.
Ein moäglicher Grund, dass Arendt teilweise der Stilkritik Scholems folgt und eine der drei diskutierten Textstellen streicht, aber in ihrer Replik nicht ausführlicher darauf eingeht (oder sich bei ihm entschuldigt), findet sich im Rundfunkinterview mit Joachim Fest vom 09.11.1964. Darin begründet sie ihre ironische Haltung damit, dass dies für sie Souveränität bedeute, nämlich immer noch lachen zu kännen, auch nach den Verbrechen des Holocaust.[14] Sie versteht zwar die Einwände gegen eine solche Haltung bzw. gegen diesen Weg der Verarbeitung, kommt jedoch zu dem Fazit: Was soll ich dagegen machen? Die mägen mich halt nicht.“[15] Es zeigt, dass Arendt in der EichmannKontroverse nicht an einer Verteidigung ihrer persoänlichen Haltung bzw. ihrer
Person interessiert ist, oder besser gesagt eine solche überhaupt für möglich hält. Worüber sie dennoch diskutieren, nachdenken und kritisieren müchte, sind Meinungen und Urteile - ein Aspekt auf den im nächsten Kapitel naher eingegangen wird.
Scholems Begriff des „Ahabath Isreal“ war Arendt unbekannt, sodass sie sich nach der Wortherkunft und dessen Bedeutung bei ihm erkundigt. Trotz ihrer Unkenntnis antwortet sie auf diese Kritik in zwei Aspekten: zum einen, ist sie zu keiner Liebe von Kollektiven, egal ob Glaubens- oder Volksgemeinschaft, fähig: „Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe vällig unfahig.“[16] Zum anderen, gehärt für sie das Jüdin-Sein zu ihrer Person, zu ihrer „Substanz“ und dadurch würde eine Liebe zu den Juden für sie eine Art der Selbstliebe darstellen.[17] Damit antwortet Arendt unter einem politischen, als auch unter einem personalen Aspekt. Diese lassen sich jedoch nur dann nachvollziehen, wenn man „Ahabath Isreal“ - wie Hannah Arendt - als Ausdruck einer partikularistischen, nationalistischen und exklusiven Liebe zum judischen Volk auffasst. Es existieren jedoch weitere Aspekte dieses Ausdrucks, die durch die ostjüdische Kultur geprügt wurden und „[...] als Synonym für «Mitgefühl«, «Teilnahme an den Leiden des judischen Volkes« [...]“[18] verstanden werden. Dieser Aspekt war Arendt zum damaligen Zeitpunkt unbekannt, was sich auf die unterschiedlichen Biografien und kulturellen Hintergruünde der beiden Diskutierenden zuruückfuühren laüsst. Im Gegensatz zu Arendt, hatte Scholem kulturellen Zugang und Kenntnis uber diesen Bedeutungsaspekt.
1.2 Kritik an der Haltung Arendts
Wie bereits erwähnt, kritisiert Scholem Arendts unausgewogene Darstellung, die nur die Schwachen der Juden aufzeige.[19] Neben dieser schwachen Darstellung des jädischen Verhaltens in der Zeit der sogenannten „Endlösung“ - welche ja schon an sich zu einer unausgewogenen Darstellung fähre - zeige sie zusatzlich ein „ausartendes Overstatement“ zu Gunsten der Deutschen[20] und insbesondere zu Gunsten Adolf Eichmanns.[21] Scholem sieht die Ursache für diese Unausgewogenheit in Arendts These, dass ,,[...] durch die bekannten Manoever der Nazis die klare Scheidung zwischen Verfolgern und Opfern gelitten haette und verwischt worden waere [...].“[22] Dadurch wurde der Eindruck entstehen, so Scholem, dass ,,[...] die Juden selber [...] ihren > Anteil« an dem Judenmord [...]“[23] [24] [25] gehabt hätten.
In ihrer Antwort hält Arendt auch weiterhin an dieser These fest. Dabei bekräftigt sie nochmals die verwischte Grenzziehung, die ein Element des totalitären Systems in den Konzentrationslagern gewesen sei. Hierfür ist den Opfern, so Arendt, keine Schuld zu geben.24 25
Die zweite vermeintlich falsche Haltung Arendts sei ihr Hass auf den Zionismus.
Sie pflege, so Scholem, ,,[...] ein so tiefes Ressentiment auf alles [...], was mit dem Zionismus zusammenhaengt [...].“[26] Er bezieht sich bei dieser Kritik auf Texstellen, in denen Arendt den Staat Isreal, dessen Präsident Ben Gurion und den Staatsanwalt Gideon Hausner kritisiert. Weiterhin ist die oben genannte (ironische) Texstelle gemeint, die Eichmann als konvertierten Zionisten beschreibt. Arendt entgegnet dieser Kritik recht emotional, indem sie Scholem harsch verdeutlicht, dass sie unabhangig sei, „ohne Gelander denke“ und auch organisatorisch niemandem verpflichtet sei. Kurz, ,,[...] dass nur Selber-Denken fett macht und dass, was immer Sie gegen die Resultate einzuwenden haben, Sie selbige nicht verstehen werden, wenn Ihnen nicht klar ist, dass sie auf meinem Mist gewachsen sind und niemandes sonst.”[27] Sie möchte ihre Person, ihre Haltung und ihr Urteil nicht in einer dichotomischen Kategorisierung eingeordnet wissen.
1.3 Kritik am Inhalt und am Zeitpunkt des Arendt’schen Urteils
Scholem trifft die Annahme, Eichmann in Jerusalem drehe sich um zwei zentrale Themen.[28] Zum einen, um die Juden und deren Haltung wahrend des Holocaust; zum anderen, um Adolf Eichmann und dessen Verantwortung för seine Taten. Gerade in dieser Annahme wird die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalitöt des Briefwechsels deutlich: Scholem und Arendt stehen weder auf einer gemeinsamen inhaltlichen Ebene, noch auf einer gleichen Perspektivenebene.
Aus Scholems Sicht, ist über den ersten Themenkomplex, die jüdische Haltung wöhrend der Katastrophe, kein historisches Urteil möglich, da es dieser Generation an Distanz fehle.[29] Ihm ist der Zeitpunkt fur ein historisches Urteil zu frnh. Das juristische Urteil uber Eichmann, das bereits gesprochen wurde, hätte Scholems Ansicht nach nicht vollzogen werden sollen. Er befürchtet, Eichmann würde hierdurch zur Opfergabe der Deutschen werden und dies künnte die deutsche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erleichtern.[30] Neben dem historischen und juristischen Urteil, hält er Arendts Verurteilung des jüdischen Verhaltens während des Holocaust nicht nur für falsch, sondern auch für „voellig irreal”.[31]
Die Falschheit in Arendts Urteil scheint der Religionshistoriker damit be- gruünden zu wollen, dass Arendt persoünlich nicht dabei gewesen sei. Er schreibt uber sein eigenes Urteil: „Ich weiss nicht, ob sie [die Entschhisse der Judenrüte; Anm. d. A.] richtig oder falsch waren. Ich masse mir kein Urteil an. Ich war nicht da.”[32] Für Scholem ist die persünliche Anwesenheit bei Ereignissen ein Maßstab dafür, ob geurteilt werden dürfe oder nicht. Offen bleibt dabei, welche Art von Urteil er meint. Offensichtlich, da er über sein eigenes Urteil spricht und damit Arendts Urteil kritisiert, das persoünliche Urteil. Damit würe die Urteilsperspektive geklärt, wahrend die Art des Urteils - ob er sich auf ein historisches, moralisches, politisches oder juristisches Urteil bezieht - weiterhin unklar bleibt.[33]
Die Irrealitüt in Arendts Urteil erwüchst fur Scholem aus Arendts These der non-participation, dass Personen auch wahrend der Katastrophe einen Freiraum hatten, um nicht zu handeln, nicht mitzumachen. Scholem versteht dies so, dass Arendt hierdurch einen einheitlichen Maßstab an alle europäischen Juden anlegen wolle. Dies erscheint Scholem realitätsfern und nur im Nachhinein in die Vergangenheit hineinprojizierbar.[34]
Ein weiterer Dissens folgt auf die Frage, äber was geurteilt wird. Womit der zweite Themenkomplex, die Verantwortung Eichmanns, angesprochen wird. Beide sind sich darin einig, dass Arendt äber Eichmann und seine Verantwortung für seine Taten schreibt. In ihrem Dialog zeigt sich jedoch, dass Scholem dabei weniger die Person Eichmanns im Blick hat, als ihn vielmehr als einen Vertreter des NS-Systems anzusehen und damit das nationalsozialistische System in Anklage stellt. Durch diese Kollektivsichtweise, wird der Gegenstand woruber geurteilt wird, der Holocaust; die Klager sind dann alle Juden. Diese Art der nicht-singulären Sichtweise, die sich mit der Prozessfuhrung des Staatsanwalts deckt, stimmt insofern nicht mit der Arendts uberein, als dass sie mit der ,,[...] Beurteilung des einzelnen, nicht des Systems [...]” beschäftigt war.[35] Auch in Eichmann in Jerusalem bekräftigt sie, es gehe im Prozess „[...] um seine [Eichmanns; Anm. d. A.] Taten und nicht um die Leiden der Juden; ihm wird hier der Prozeß gemacht, nicht dem deutschen Volk oder der Menschheit, nicht einmal dem Antisemitismus und dem Rassenhaß.”[36] Für Arendt liegt der Vorteil eines juristischen Urteils darin, dass ein einzelner angeklagt wird, dass äber einen einzelnen verhandelt wird und dass sich eine Person dafur verantworten muss.[37]
Inhaltlich analysiert Arendt die Argumente der Juden und der Deutschen, wie sie sich vor sich selbst und vor anderen rechtfertigten. Uber diese hervorgebrachten Argumente, so Arendt, steht uns ein Urteil zu.[38] Wichtig ist ihr dabei, dass es sich auch hier um Argumente einzelner Personen handelt. So erinnert sie Scholem in ihrem letzten Brief eindringlich: „Ich möchte nochmals den Unterschied betonen in der Beurteilung der Judenröte auf der einen Seite und der Masse des jüdischen Volkes auf der anderen Seite.”[39] Zentral för die Vorgehensweise ihres Urteilsfindungsprozesses ist es, nicht uber ein Kollektiv, sondern öber einzelne Personen zu urteilen. Sowohl das juristische Urteil uber Eichmanns Taten, als auch ihr moralisches Urteil öber die Taten der Mitglieder der Judenröte, setzen dies voraus. Darum schatzt sie auch die Frage, die vom Staatsanwalt an die Juden gerichtet wurde: „«Warum habt ihr nicht Widerstand geleistet?«, «Warum seid ihr in den Zug eingestiegen?« [...]”[40] als „grundfalsch” ein. Es geht ihr gerade nicht darum, was Scholem ihr vorwirft, den eigenen jödischen Anteil am Judenmord aufzuzeigen, sondern uber das Verhalten einzelner sich ein Urteil zu erlauben.
Dieser Punkt bringt die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Schreiber zum Vorschein. Arendt korrigiert in ihrem zweiten Brief die beiden von Scholem ausgemachten Zentren. Sie habe sich gar nicht mit der jödischen Haltung während des Holocaust auseinandergesetzt, sondern, so Arendt, nur mit ,,[...] der Kooperation judischer Funktionare [...] und zwar zu Zeiten der Endlösung.”[41] Und diese Thematik hatte sich nur dudurch ergeben, so Arendt weiter, dass uöber diese Sache im Prozess gesprochen wurde und sie es also nicht vermeiden konnte.[42] Desweiteren wollte sie wohl auch aus eigener
Motivation darüber schreiben, da sie in dieser Kooperation das Stück
>unbewältigte Vergangenheit«, das uns angeht [...]” sieht.[43] [44] Arendt urteilt in ihrem Buch Uber das Verhalten der Mitglieder des Judenrates. Dieses moralische Urteil lautet, es hat auch wahrend der Endlüsung Raum für den freien Entschluss und für freies Handeln, also die Müglichkeit zur non-participation, gegeben. Diesen Maßstab der non-participation legt sie jedoch nicht, wie Scholem kritisiert, an allen Juden an - da sie nicht über das System urteilt und die Kollektivsicht einnimmt - sondern an einzelnen Personen. Sie begründet diese singulare Perspektive damit, dass nicht das NS-System auf der Anklagebank sitzt, sondern ein Einzelner. Darum kritisiert Arendt auch die Prozessführung durch den Staatsanwalt Gideon Hauser, der ,,[s]tatt des Angeklagten [...] die Geschichte [des Antisemitismus; Anm.d.A] selbst auf den Prüfstand [stellte und damit] eine Geschichte für deren Verlauf Eichmann [...] nur begrenzt verantwortlich war.”[45]
2 Das Urteilen: Arendts Verständnis politischer Freiheit
Dieses Kapitel untersucht welche politische Dimension Arendt dem Urteilen zuspricht. In einem Essay uber den Arendt’schen Freiheitsbegriff wird zusammenfassend festgehalten, ,,[...] dass Freiheit für sie gleichbedeutend ist mit Politik - mit politischem Handeln in der Öffentlichkeit.“[46] Man muss daher bei Arendt das Urteilen als eine politische Handlung verstehen, die zwar nicht ausschließlich politisch ist, allerdings eine politische Dimension erhält, sobald sie öffentlich vollzogen wird. Diese Veröffentlichung einer Meinung bzw. eines Urteils, verleiht dem beispielsweise ursprünglich rein moralischen Urteil eine politische Dimension. Durch die Öffentlichkeit des Urteils, wird eine üffentliche Sphäre erzeugt. Hierin kann sich eine offentliche Meinung bilden, da ein üffentlich gesprochenes Urteil der Anlass zu einem Meinungsaustausch ist. Innerhalb eines solchen Austauschs der Meinungen soll und darf kritisiert werden. Allerdings sollen weniger die Personen kritisiert werden, als die Meinung, die sie vertreten.
Durch diese üffentliche Diskussion um getroffene Urteile, wird ein Perspektivenpluralismus sichtbar. Für Arendt bedingen sich das Handeln und die Pluralitüt von Perspektiven gegenseitig: zum einen ist Handeln in einem isolierten Dasein unmüglich, da ,,[...] jede Isoliertheit, ob gewollt oder ungewollt, beraubt der Fahigkeit zu handeln.“[47] Zum anderen, erzeugt Handeln die menschliche Pluralitat. So schreibt Arendt: „Erst durch das gesprochene Wort fügt sich die Tat in einen Bedeutungszusammenhang [...].“[48] Sie begreift unter dem Begriff der Natalitat, das Handeln als den Antrieb und die Initiative etwas Neues anzufangen, als eine Fahigkeit die dem Menschen qua Geburt gegeben ist: ,,[D]er Antrieb scheint vielmehr in dem Anfang selbst zu liegen, der mit unserer Geburt in die Welt kam, und dem wir dadurch entsprechen, daß wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen.“[49] Der oben zitierte Bedeutungszusammenhang, der sich aus Pluralitat und Natalitat unter den Menschen bildet, konstituiert schließlich fur Arendt die Öffentlichkeit und damit „[...] die gemeinsame Welt [,die ] den allen gemeinsamen Versammlungsort bereitstellt [...].“[50]
Innerhalb dieser „Versammlung“ bleibt dennoch jede und jeder einzigartig und nimmt einen anderen Platz und dadurch eine einzigartige Perspektive ein: „Das von Anderen Gesehen- und Gehörtwerden erhalt seine Bedeutsamkeit von der Tatsache, daß ein jeder von einer anderen Position aus sieht und hört.“[51] Hierdurch entsteht die wechselseitige Bedingtheit des Handelns und der Pluralitöt: Indem Menschen verschieden zueinander sind, haben sie eine Meinung und können bzw. mössen sich sprechend und handelnd verstöndigen; gleichzeitig konstituiert der Mensch, in dem er mit anderen sprechend und handelnd in Verbindung tritt, diesen Weltzusammenhang.
Für Arendt gibt es noch eine weitere Konsequenz, die sich aus dem öffentlichen sprechen und handeln ergibt: die menschliche Einzigartigkeit wird sichtbar.
Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens [...].“[52] Hierunter scheint sie auch ihren Stil der Ironie zu zöhlen, wenn sie zu Joachim Fest sagt: „Denn der Stil, in dem äußert sich doch die Person - nämlich das, was man selber nicht weiß.“[53]
Nur dadurch, dass Menschen ungleich und einzigartig sind, konnen bzw. mussen sie in Kommunikation zueinander treten, denn [o]hne Verschiedenheit, [...] bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verstandigung;“[54] In der offentlichen Sphare, in der Meinungen geaußert werden, werden Gegenmeinungen gesprochen und gehort. Es zeigen sich andere Standpunkte, Gegenmeinung und Andersdenkende. Durch diese Wahrnehmung der Anderen beginnt ein Prozess der Reflexion. Diese ist in totalitaren Systemen meist ausgeschaltet, da die öffentliche Sphare minimiert wird. Damit lässt sich sagen, dass der Meinungsaustausch in der öffentlichen Sphäre einer Gedankenlosigkeit entgegewirkt: „Es [das Verantwortungsbewusstsein; Anm. d. A.] kann sich nur bilden in dem Moment, wo man reflektiert - nicht über sich selbst, sondern öber das, was man tut.“[55] Eine Gedankenlosigkeit, die sie bei Eichmann festzustellen und zu erleben scheint. Im öffentlichen Raum exponiert sich der oder die Urteilende und setzt sich der Kritik Andersdenkender aus. Durch diese Kritik wird ein Reflektionsprozess angesprochen, der daräber nachdenken lässt, was man durch seine Handlung des öffentlich urteilens bzw. sprechens getan hat.
Negativ formuliert lasst sich sagen, dass ohne offentliche Urteile - und damit ohne die politische Freiheit dies zu tun - keine politischen Handlungen existieren wärden, da fär Arendt das Sprechen und Handeln die primarsten politischen Tätigkeiten sind. Es existiert dadurch auch kein Austausch von Meinungen, sodass keine Person exponiert ist und kritisiert werden kann. Es existiert dadurch kein Pluralismus der Perspektiven zu einem Thema, der dann erkannt werden kann. Es wird dadurch keine offentliche Sphäre kostituiert. In letzter Konsequenz fährt diese inexistente politische Sphäre zur Inexistenz von Reflektionsprozessen - sowohl kollektiver, als auch persänlicher. Ohne diesen Prozess der Reflexion kann, wie oben zitiert, kein Verantwortungsbewusstsein entstehen und damit auch keine Aufarbeitung und Übernahme von Verantwortung statt finden: weder singular wie bei Eichmann, noch kollektiv wie bei den Deutschen und den Juden.
[...]
[1] deutsche Ausgabe: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen
[2] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 429.
[3] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 450.
[4] Moses, „Das Recht zu urteilen: Hannah Arendt, Gershom Scholem und der EichmannProzeß“, S. 78.
[5] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 429-431.
[6] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 429.
[7] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 441.
[8] Leo Baeck, 1873-1956, Berliner Oberrabbiner und 1933-1943 Vorsitzender der Reichsvertretung Deutscher Juden. Anschließende Deportation und Inhaftierung in das Konzentrationslager Theresienstadt.
[9] Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, New York, 1965, S. 105
[10] Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bosen, S. 115.
nArendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 441.
[12] vgl. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalitat des Bösen, S. 209.
[13] Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalitat des Bosen, S. 209.
[14] Hierzu ist auch das einleitende Zitat von Berthold Brecht zu erwähnen, das Eichmann in Jerusalem vorangestellt ist: ,,[...] Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man. Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer.[...]“
[15] Arendt und Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespröche und Briefe, S. 60.
[16] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 439.
[17] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 440.
[18] Moses, „Das Recht zu urteilen: Hannah Arendt, Gershom Scholem und der EichmannProzeß“, S. 81.
[19] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 429.
[20] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 431.
[21] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 453.
[22] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 431.
[23] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 432.
[24] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 442.
[25] In Eichmann in Jerusalem findet man Arendts These auf Seite 212 belegt: „Vor allem aber hätte das Gesamtbild der Anklage insofern gelitten, als es durchgängig eine scharfe Trennungslinie zwischen Verfolgern und Opfern zog, obwohl die Rolle des Kaposystems in allen Lagern und die Funktion der judischen Sonderkommandos vor allem in Auschwitz ja allgemein bekannt sind.“
[26] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 433.
[27] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 443.
[28] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 428.
[29] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 429.
[30] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 452.
[31] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 452.
[32] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 452.
[33] Hierzu nimmt Arendt in der Vorrede der deutschen Ausgabe ganz klar Stellung. Sie schreibt: „Das Argument, daß man nicht urteilen kann, wenn man nicht dabeigewesen ist, überzeugt jedermann überall, obwohl es doch offenbar sowohl der Rechtsprechung wie der Geschichtsschreibung die Existenzberechtigung abspricht.”Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bosen, S. 65
Und außerdem: „Die einzigen wirklich Schuldigen, [...] waren Leue wie Hochhuth und ich, die sich ein Urteil erlaubten; denn keiner könne urteilen, der nicht in der gleichen Lage gewesen sei [...]. Dieser Standpunkt übrigens deckte sich auf eigenartige Weise mit Eichmanns Sicht dieser Dinge.”Arendt, Uber das Bose. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, S. 24
[34] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 452.
[35] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 442.
[36] Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bosen, S. 72.
[37] „Das sprachlose Entsetzen [...] lost sich im Gerichtssaal auf, wo wir es mit Personen in dem geordneten Diskurs von Anklage, Verteidigung und Urteilsspruch zu tun haben.”Arendt, Uber das Bose. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, S. 24
[38] vgl. Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 442.
[39] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 458.
[40] Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bosen, S. 80.
[41] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 441.
[42] Inwiefern hier noch über eine Berichterstattung gesprochen werden kann, ist auch weiterhin unklar. Es ist anzunehmen, dass Arendt das Arguments der Berichterstattung immer dann anführte, wenn sie sich als Person nicht weiter verteidigen wollte bzw. um Kritik abzuwehren.
[43] Arendt und Scholem, Der Briefwechsel, S. 441.
[44] Es ist anzunehmen, dass Arendt mit diesem ,,uns”die europäischen Juden meint.
[45] Vowinckel, Arendt, S. 56.
[46] Wendler, Hannah Arendts Freiheitsbegriff, S. 3.
[47] Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, S. 324.
[48] Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, S. 218.
[49] Arendt, Vita activa. oder Vom tatigen Leben, S. 215.
[50] Arendt, Vita activa. oder Vom tatigen Leben, S. 71.
[51] Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, S. 71.
[52] Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, S. 219.
[53] Arendt und Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe, S. 60.
[54] Arendt, Vita activa. oder Vom tatigen Leben, S. 213.
[55] Arendt und Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe, S. 54.