Expressionismus. Annäherung an eine Epoche anhand des Dichters Georg Trakl


Intermediate Examination Paper, 1997

48 Pages, Grade: 1,3

Nathalie Verden (Author)


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der Expressionismus - Annäherung an eine Epoche
1.1. Der Expressionismus als historisches Phänomen
1.1.1. Der historische Hintergrund
1.1.2. Der wissenschaftliche Hintergrund
1.1.3. Der soziale Hintergrund
1.1.4. Der geistig - philosophische Hintergrund
1.1.5. Die chronologische Abfolge
1.2. Der Expressionismus als Bewegung
1.2.1. Die Geisteshaltung der Expressionisten
1.2.2. Das literarische Leben
1.2.3. Stil und Thematik des Expressionismus
1.3. Das Ende der Epoche und die daran anschließende Kritik

2. Georg Trakl und sein Werk
2.1. Biographie eines kurzen Lebens
2.2. Die lyrische Welt Trakls
2.2.1. Die Farben
2.2.2. Lebewesen und Gestalten
2.2.3. Raum- und Zeitstruktur
2.3. Die Entwicklung der lyrischen Formen in Georg Trakls Werk

Schlußwort

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, die Epoche des literarischen Expressionismus, die sich als ein „Konglomerat unterschiedlicher Themen, Formen, ideologischer und stilistischer Tendenzen“[1] erweist, auf ihre Grundtendenzen hin zu untersuchen. Die Aufdeckung dieser Eigenschaften schafft eine Basis, von der aus die Vielfalt der expressionistischen Erscheinungsformen - sowohl thematisch als auch stilistisch - überblickt werden kann.

Um die Überblicksfunktion der Arbeit zu gewährleisten, ist das erste Kapitel einer groben Zweiteilung unterzogen. Nach dem Versuch einer Annäherung an das Phänomen „Expressionismus“ werden im ersten großen Abschnitt die allgemeinen zeitgeschichtlichen Hintergründe beschrieben, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Expressionismus wirkten. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der vorherrschenden Geisteshaltung im Lager der expressionistischen Dichter und die daraus resultierenden Ziele, Merkmale und Ausdrucksformen ihrer Kunst- richtung.

Nach der Besprechung der Gründe, die zum Scheitern des Expressio-nismus führten und somit Boden für die daran anschließende Kritik bieten, befaßt sich das zweite Kapitel mit einem Vertreter der expressionistischen Dichter: Georg Trakl.

Er steht exemplarisch als Repräsentant einer Dichtergeneration für eine Spielart expressionistischer Dichtung, deren Bogen vom religiös-pathetischen Ton Franz Werfels bis zu den nihilistischen Tendenzen Gottfried Benns gespannt ist.

Obwohl dieses weitgesteckte Feld die Vermutung aufwirft, daß es „sehr fragwürdig [ist] von ihm [dem Expressionismus] als einheitliche Bewegung zu sprechen“[2], soll in den nun folgenden Ausarbeitungen versucht werden, einige grundlegende Aspekte des literarischen Expressionismus aufzuzeigen.

1. Der Expressionismus - Annäherung an eine Epoche

Aufgrund der angedeuteten Anhäufung unterschiedlicher Themen, Stile und Tendenzen erscheint es schwierig, eine klare Definition des Expressionismus zu entwerfen. Nur soviel ist klar: Er war „Symptom und Ausdruck einer Weltkrise auf allen Gebieten“[3], der sich die jugendliche Generation gegenübergestellt sah. Auf die Unsicherheit ihrer Zeit reagierte sie mit einer Revolte gegen alles Bestehende und Überlieferte, das für sie Symbol einer rückhaltlosen Gegenwart war. Mit stürmischer Gebärde und radikalisiertem Lebensgefühl bäumten sich die Jugendlichen gegen die Wirklichkeit auf, um dieser den Gegenentwurf einer neuen Welt entgegenzustellen.

Um den Expressionismus als Erscheinung in seiner Vielfalt besser fassen zu können - es existiert neben dieser revolutionären Einstellung nämlich auch das genaue Gegenteil, eine pessimistisch-nihilistische Einstellung - erscheint es sinnvoll, eine literaturhistorische Eingrenzung der verschiedenen Phasen und Erscheinungsformen des Expressionismus vorzunehmen. Einen ungefähren Rahmen bietet die Aufspaltung der Epoche in drei Phasen: Früh-, Hoch- und Spätexpressionismus.[4]

Der Frühexpressionismus erfährt im allgemeinen eine Datierung auf die Jahre 1910 bis 1914. In dieser Phase sandte vor allem die Malerei neue Impulse aus, an denen sich die Literaten orientierten.[5] So ging die Vereinfachung und Steigerung der Ausdrucksformen Hand in Hand mit einem neuen Stilbewußtsein in der Literatur. Die junge Generation sagte sich los von jeglicher Passivität und proklamierte ein neues

Lebensgefühl, eine Aufbruchsstimmung voll Enthusiasmus und Elan. Einen Einbruch erlitt diese dynamische und literarisch fruchtbare

Entwicklung am 1.8.1914 mit Ausbruch des ersten Weltkrieges.

Hier setzte die zweite Phase des Expressionismus ein, die den zeitlichen Rahmen von 1915 bis 1920 umfaßte und ganz im Schatten des Krieges stand. Die anfängliche Kriegsbegeisterung der jungen Expressionisten, die durch den Krieg eine Befreiung aus dem durch Kaiser und Bürger bestimmten Alltag erhofften, schlug ab 1915 in eine Hinwendung zum Pazifismus um. Ausgelöst durch die Grausamkeiten des Krieges, der auch in den Reihen der Expressionisten viele Opfer forderte, herrschte in dieser zweiten Phase ein Thema vor: Die Verbrüderung der Menschheit in einer neuen, friedlichen Welt. Die im Frühexpressionismus auf einen kleinen Kreis beschränkte Bewegung wurde nun zu einer breiten Modeströmung, die eine Schwerpunktverlagerung von der früheren Betonung der Lyrik hin zu der Vorherrschaft von Prosa und Dramatik mit sich brachte.

Ab 1920 fand der Übergang vom Hoch- zum Spätexpressionismus statt. Die Phase des Nachkriegsexpressionismus war gekennzeichnet durch eine Hinwendung zum Theater. Die Bühne avancierte zur moralischen Anstalt, der Schauspieler zum Verkünder des neuen Menschen. „Das Revolutions- geschehen auf der Bühne sollte der Revolution schlechthin zur Hilfe kommen.“[6] Die deutsche Wirklichkeit aber ließ das Ende der Epoche sichtbar werden. Angesichts des stabilisierten Bürgertums erfüllte sich die expressionistische Hoffnung auf veränderte Lebensverhältnisse und der Sehnsucht nach Frieden nicht. Der verzweifelte Schrei nach Veränderung verhallte ungehört.

Nach diesem ersten Überblick über die Epoche scheint es aufgrund der ihr innewohnenden Komplexität sinnvoll, sich zuerst der rein sprachlichen

Verwendung des Begriffes zuzuwenden und dessen Herkunft zu durchleuchten.

Verfolgt man den Ausdruck bis zu seinen Wurzeln zurück, dann finden sich erste Hinweise im Umfeld der Malerei. So wurde sowohl in der englischen Zeitung „Tait´s Edinburgh Magazine“ im Jahre 1850 als auch in einem Vortrag von Charles Rowley 1880 in Manchester von einer

expressionistischen Schule moderner Malerei gesprochen. Diese Schule bezeichnete jene Maler, deren Absicht darin lag, ihre Gefühle und Leidenschaften auszudrücken: „When we come to the expressionists, those who undertake to express special emotions or passions, the list is enormous.“[7]

Im literarischen Zusammenhang wurde der Begriff erstmals in dem amerikanischen Roman „ The Bohemian“ von Charles de Kay erwähnt, der 1878 in New York veröffentlicht wurde. Bis der Ausdruck schließlich auch in Europa auftauchte, vergingen einige Jahre. 1901 fand er in Frankreich erneut Verwendung, als der französische Maler Julien-Auguste Herve im „Salon des Independants“ in Paris acht seiner Bilder ausstellte. Da sich der Begriff im geläufigen französischen Wortschatz nicht durchsetzen konnte, wurde er 1911 in Deutschland im Zusammenhang mit der Berliner Sezession neu eingeführt. Hier wurden - wie auch auf der Ausstellung des „Düsseldorfer Sonderbundes westdeutscher Künstler und Kunstfreunde“ im Juli 1911 - Werke junger französischer Maler gezeigt, die als „Expressionisten“ betitelt wurden. Danach erlebte der Begriff „Expressionismus“ als Gegenbegriff zum schon bekannten „Impressionismus“ eine rasche Verbreitung. So übertrug man den bis dahin auf die französischen Maler begrenzten Terminus im Herbst 1911 auf die moderne Malerei im allgemeinen, die sich als Reaktion zum Impressionismus begriff.

Der Übergang von der Kunst in die Literatur erfuhr der „Expres-sionismus“ im Juli 1911 durch Kurt Hiller. Er wandte den Ausdruck auf die Dichter an, die ein bestimmtes Ziel verfolgen: „Wir sind Expressionisten. Es kommt uns wieder auf den Gehalt, das Wollen, das Ethos an.“[8]

Die „Vaterschaftsfrage“ ist allerdings nicht eindeutig geklärt. Während

einige den Ursprung bei Hiller sehen, betonen andere sowohl Wilhelm Worringers als auch Ernst Cassierers[9] Beitrag zur Verbreitung des Begriffes. Einigkeit herrscht darüber, daß das Wort „Expressionismus“ im deutschen Sprachgebrauch seit 1911 Fuß faßte und seitdem eine rasche Verbreitung fand.

1.1. Der Expressionismus als historisches Phänomen

In diesem Kapitel sollen die zeitgeschichtlichen Hintergründe vorgestellt werden, die zur Entstehung des Expressionismus beigetragen haben. Diese Vorgehensweise scheint sinnvoll, um eine allgemeine Basis zu schaffen, von der aus der Expressionismus als Bewegung verstanden werden kann.

1.1.1 Der historische Hintergrund

Der politisch-historische Hintergrund wurde vor allem durch den in Deutschland herrschenden Wilhelminismus bestimmt, der sowohl das Bürgertum als auch die Industrie prägte.

So war das Leben der von den Expressionisten kritisierten Bürger in erster Linie durch passives Festhalten an alten Werten und Traditionen

bestimmt: „Ein bisher nie gekannter Nimbus von Weltgeltung, nationalistischen Großmachtgefühlen prägten die Ideologie nicht nur des Kleinbürgertums, [...]. Deutsches Wesen, deutsche Zucht und Ordnung, deutsche Marschmusik erweckten ein gesteigertes Selbstwertgefühl der Untertanen, [...].[10] Sie verbrachten ihre Tage vor einer Kulisse repräsentationsträchtiger Kaisermanöver, Stapelläufe und Flottenparaden, deren einzige Funktion darin bestand, die Position Wilhelm des II. zu bekräftigen.

Ökonomisch gesehen erlebte Deutschland seit der Reichsgründung

1871 einen wirtschaftlichen Aufschwung, der ein Anwachsen des Real-einkommens sowie die militärische Aufrüstung mit sich brachte. Rückschließend von dieser Tatsache erklärt sich das Verhalten der Bürger, die sich - abgesichert durch die stabile Wirtschaftslage[11] - ganz ihrem kleinbürgerlichen Lebensstil hingeben konnten.

Auch in industrieller Hinsicht brachte der Aufwärtstrend in der Wirtschaft einige Veränderungen mit sich. So fand eine rasche Industrialisierung statt, in deren Verlauf die Maschine die Produktion, und somit den gesamten Arbeitsprozeß, immer mehr beherrschte. Der Mensch geriet in die Abhängigkeit einer zweiten Natur: der Technik. Durch die Tatsache, daß der Übergang zu einer kapitalistischen Wirtschaftsform in Deutschland nicht von langer Hand geplant, sondern abrupt und gleichsam über Nacht stattfand, standen sich im Bewußtsein der Menschen „das Vertraute und das Unbekannte [...], das Heimliche und das Unheimliche, Gemeinschaft und Gesellschaft“[12] gegenüber. Die wachsende Abstraktheit fand ihren Niederschlag nicht nur in der Anonymität des Arbeitsver- hältnisses, sondern auch in der steigenden Kommerzialisierung des kulturellen Angebotes und dessen Integration in den kapitalistischen Warenmarkt.

Neben Arbeit und Kultur wurde auch das alltägliche Leben der Menschen durch einen rapiden Anstieg der Bevölkerung und die daraus folgende Konzentration der Massen in den Städten, die ihnen einen Arbeitsplatz und Wohnraum boten, immer unpersönlicher. So wurden die Grundlagen für die Entstehung einer modernen Massengesellschaft geschaffen, in der sich die Menschheit „ ganz und gar abhängig [...] von ihrer eigenen Schöpfung, von ihrer Wirtschaft, von Technik, Statistik, Handel und Industrie“[13] gemacht hatte.

Durch die Augen der expressionistischen Dichter betrachtet stand die gesamte abendländische Zivilisation „im Zeichen jener Unpersönlichkeit der anonymen und kollektiven Apparaturen und Maschinen wie Staat und Justiz, Wirtschaft und Bürokratie [...], die den Einzelmenschen zum willenlosen und wehrlos funktionalisierten Sklaven einer durch rückhaltlose Rationalisierung und Mechanisierung kalt versachlichten Erwerbs- und Massengesellschaft entmächtigen und entwürdigen.“[14]

1.1.2. Der wissenschaftliche Hintergrund

Betrachtet man das wissenschaftliche Klima im Expressionismus, dann fallen zwei Tendenzen ins Auge: Einerseits die Hinwendung zu der durch Siegfried Freud vertretende Psychoanalyse, auf deren Grundlage das Unbewußte zum irrationalen Wert stilisiert wurde, anderseits die Verunsicherung des Selbstverständnisses der Naturwissenschaften. Freuds Einfluß auf die Dichtergeneration ist dadurch zu erklären, daß er die These der Vorherrschaft des Bewußtseins in Frage stellte und eine neue, bis daher weitgehend unerforschte Seite in den Vordergrund rückte, das Irrationale.

Er wandte sich gegen die im 19. Jahrhundert dominierende Auffassung der auf Descartes basierenden Trennung von Ich und Bewußtsein. Durch seine Lehre „vom komplizierten Zusammenspiel von Es - Ich - Überich, von Unbewußtem, Vorbewußtem und Bewußtsein“[15] hob Freud diese Trennung auf und eröffnete den jungen Dichtern so eine Einsicht in unbewußte Triebansprüche, Traumsphären und das Reich des Unterbewußten.

Neben Freud leistete auch Bergson einen weiteren Beitrag zur Erschließung des Irrationalen. Er führte 1896 die Trennung des Erkenntnisbegriffes in zwei verschiedene Bereiche ein: „Materie“ und „Gedächtnis“. „Materie“ steht dabei für das analysierende Erkennen, das den Gesetzen der Physik unterworfen ist. Im Gegensatz dazu wirkt das „Gedächtnis“ als intuitive Instanz, durch deren „introspektive Intuition der Lebens- und Zeitstrom im Bewußtsein, und damit Leben und Bewußtsein selbst adäquat erkannt werden können.“[16]

In dem Maße, in dem die Psychoanalyse nun in der Wissenschaft Fuß faßte, verlor die mechanische Naturwissenschaft an Einfluß. Ausgelöst durch die These Kants, „daß Erkenntnis von Wirklichkeit immer durch das erkennende Subjekt und seinen Erkenntnisapparat vermittelt

ist“[17], geriet die Naturwissenschaft in eine Grundlagenkrise. Der bis dato unangezweifelte Anspruch der Wissenschaft auf das unabhängige Erkennen einer objektiven Wirklichkeit geriet immer mehr ins Wanken. Es wuchs die Einsicht, daß die Wirklichkeit abhängig von menschlichen Erkenntnis- und Bewußtseinsformen ist und das wissenschaftliches Feststellen von Gegebenheiten immer eine schon vorhandene Theorie voraussetzt. Das Erkennen einer einzig „wahren“ Wirklichkeit erschien nicht mehr faßbar.

So bildeten die Psychoanalyse und die Krise in der Naturwissenschaft den Unterbau für eine antirationalistische Kritik, die nach emotionalen Erkenntnismöglichkeiten suchte und das Schöpferische gegen das Mechanische stellte, die Intuition gegen den Intellekt. Kurzgesagt: Der Mensch sollte wieder zum Mittelpunkt werden.

1.1.3. Der soziale Hintergrund

Aus der sozialen Perspektive betrachtet lassen sich einige Merkmale finden, die bei einer Vielzahl expressionistischer Dichter übereinstimmen.

Auffällig ist zuallererst, daß es sich bei den Dichtern um eine Generation von Zwanzigjährigen handelte, die allesamt aus bürgerlichem Hause stammten. Ihre Väter waren beispielsweise Anwälte, Bankiers, Fabrikanten, Ärzte oder Pfarrer. Diese Konstellation führte bei auffällig vielen Familien zu starken Binnenspannungen, die sich in ausgeprägten Vater-Sohn-Konflikten niederschlugen. Georg Heym brachte diesen Konflikt folgendermaßen zum Ausdruck: „Ich wäre einer der größten Dichter geworden, wenn ich nicht solch schweineren Vater gehabt hätte.“[18] In der Tat muß das bürgerliche Elternhaus als Repräsentations- fläche des wilhelminischen Reiches mit seinen veralteten Werten und Traditionen für die jungen Expressionisten ein Entsetzen

gewesen sein. Ihre Gegenwehr drückten sie thematisch in einigen Stücken aus, wie zum Beispiel in Hasenclevers „Sohn“ oder Bronnens „Vatermord“, in welche die Figur des autoritären Vaters einging.

Neben der familiären Situation führte auch der von den Dichtern einge-schlagene Bildungsweg in eine ähnliche Richtung. So umfaßte der „typische“ Werdegang das Durchlaufen des Gymnasiums mit daran anschließendem Studium an der Universität. Auch in diesem schulischen Umfeld trafen die Dichter im Gymnasiallehrer auf ein Pendant zum Vater. Galt der Vater als Vermittler überkommener Werte im häuslichen Bereich, dann verkörperte der Lehrer im schulischen Bereich eine Repräsentations- figur „eines derart kultur-konservativen Denkens, das, der Wirklichkeit entfremdet, die traditionellen ´Bildungsgüter` predigte, ohne sie noch mit Leben füllen zu können.“[19] Genau gegen diese sinnentleerten Bildungsnormen - vertreten durch Schule und Elternhaus - protestierten die expressionistischen Dichter. Material für ihren Widerstand lieferte ihnen unter anderem Otto Groß, der sich - aufbauend auf Freud und Nietzsche - mit dem „Konflikt des Eigenen und Fremden, des angeborenen Individuellen und des Suggerierten“[20] beschäftigte. Er kritisierte, daß die Grundtriebe eines Kindes durch Familie und Schule gehemmt und verdrängt werden. Gross setzte sich für die natürliche Freiheit aller Individuen, losgelöst von allen autoritären Zwängen, ein. Aufbauend auf diesem Ziel entwarf er eine Revolutionsutopie, in der er sich einerseits gegen die Autorität des Vaters in der Familie wandte, andererseits ein Programm zur politischen Bildungs- und Schulungsarbeit aufstellte, das den gesamten Schulkomplex revolutionierte.

Die Anwendung der Psychoanalyse durch Otto Gross fand unter den Dichtern eine schnelle Verbreitung, da „der Angriff gegen Institutionen des gesellschaftlichen Überbaus, gegen die herrschende Moralauffassung und ein ´Revolutions`-Konzept, das auf die Freiheit und Ungebundenheit des Individuums gerichtet war, [...] innerhalb der anarchistischen literarischen Boheme auf eine gleichgerichtete Tradition“[21] traf. Aus diesem Grund ist auch die Tatsache zu erklären, daß Otto Gross als verschlüsselte Figur in zahlreiche autobiographische Romane der Expressionisten eingegangen ist.

1.1.4. Der geistig - philosophische Hintergrund

In philosophischer Hinsicht steht das expressionistische Fundament auf vier elementaren Stützen: Friedrich Nietzsche, Darwin, Freud und Christus.

Nietzsches Übermenschen-Epos „Also sprach Zarathustra“ galt als eines der Schlüsselbücher im Expressionismus. Die Hauptperson Zarathustra - ein Halbgott- begibt sich unter die Menschen und „predigt den Ehrgeiz und die Freiheit des Geistes, das Wollen gegen das Sollen, die Auflehnung gegen die Autorität, die neuen Werte gegen die Tradition.“[22] In Zarathustras Aufruf zur ungehemmten Auslebung aller Leidenschaften und die Negierung jeglicher Autorität - einschließlich der Allmacht Gottes[23] - spiegelte sich das expressionistische Gedankengut wieder.[24]

Neben Zarathustra fanden die Expressionisten auch im Christus des neuen Testaments ein Verkünder des „Übermenschen“. Die christliche

Vorstellung faszinierte die Expressionisten allerdings in anderer Hinsicht. Hier verlagerte sich der Schwerpunkt von der Verkündigung totaler Autorität hin zum Glauben an einen gewandelten Menschen, der spezielle Eigenschaften wie Friedfertigkeit, Bescheidenheit und Nächstenliebe in sich vereint.[25]

Die Voraussetzung für eine solche Wandlung fanden die Expressionisten bei Verhaltensforscher Darwin. In seinem 1859 erschienenen Buch „The Origin of Species By Mean of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“ beschäftigte er sich mit der Idee der Entwicklung aller Lebewesen. Als Paradebeispiel diente hier die Schilderung des Evolutionsprozesses vom Affen bis zum heutigen Menschen. Ausgehend von dieser These sahen sich die Dichter in ihren Hoffnungen auf eine Entwicklung hin zum Ideal des „neuen“ Menschen bestärkt.

Freuds philosophischer Beitrag zur Grundhaltung im Expressionismus beruhte - neben der im vorangegangenen Kapitel geschilderten Einführung des Irrationalen - auf seiner Beschäftigung mit dem Einfluß der Triebe auf den Menschen. Betrachtet man rückblickend die dominante Rolle der menschlichen Triebe bei Otto Gross und die von Zarathustra geforderte freie Auslebung der Bedürfnisse, dann wird der große Einfluß Freuds auf die Vertreter des Expressionismus abermals deutlich.

1.1.5. Die chronologische Abfolge

Im nun folgenden Abschnitt soll ein kurzer Blick auf die Einordnung des Expressionismus in den chronologischen Ablauf der Epochen geworfen werden.

Die dem Expressionismus vorangehende Strömung ist der Naturalismus, der auf die Jahre 1880 bis 1900 datiert werden kann. Hier herrschten vor allem gesellschaftlich beeinflußte Themen und Motive vor, wie beispiels- weise die Darstellung der Armut in den städtischen Elendsquartieren. Die Künstler dieser Epoche zeigten die Menschheit in ihrer Abhängigkeit von der Umwelt. In der Darstellung dieser Abhängigkeit beschränkten sie sich auf das sinnlich Feststellbare und ließen als Ausgangspunkt der Erkenntnis nur das real Gegebene gelten, der Aspekt des Irrationalen wurde völlig in den Hintergrund gestellt. Die naturgetreu abgebildete Wirklichkeit war allerdings eine sehr schmerzvolle: „Schwer und unentrinnbar lastete solche Wirklichkeit auf den Menschen - als Gefangener irrte er einsam und wehrlos in einer allseitig beklemmenden Welt. Die Antwort waren Schmerz und Resignation, Mitleid oder Flucht in das Reich der jenseitigen Träume.“[26] Als Reaktion auf diese Strömung betonten der Impressionismus und die Neuromantik eine völlig andere Seite der Wirklichkeit. Hier war man auf der Suche nach einer schöneren Welt. Die Neuromantik erschuf diese, indem sie sich nicht mit der problematischen Realität auseinandersetzte, sondern in ein „Dasein in Schönheit, Farben, Rausch, innerer Freiheit und beseelter Harmonie [...]“[27] floh.

Auch die Impressionisten beschränkten sich darauf, Augenblicke wiederzugeben, in denen das Leben offenbar wurde. Sie erlebten sich „als eine höchst empfindsame, auf alles reagierende, den überwältigenden Eindrücken zart und passiv hingebende Seele, die [...] sich selbst zum unergründlichen Rätsel, zum dunklen und schönen Geheimnis wird.“[28] Die Epoche des Expressionismus, die sich in dem zeitlichen Rahmen der Jahre 1910 bis 1925 bewegt, setzte dieser sinnlich-subjektiven Schau des Lebens eine Dichtung entgegen, die in ihren Augen die Funktion einer alles umreißenden Kraft, einer formenden und schöpferischen Energie besaß.

Als die Bewegung des Expressionismus ab 1925 an Einfluß verlor und ihre pathetisch geforderten Ziele einer besseren Welt am stabilisierten Bürgertum zerbrachen, formte sich eine andere Richtung. Die „Neue Sachlichkeit“, die den Expressionismus als Epoche ablöste, beschränkte

sich auf die nüchterne Wiedergabe des Vorgefundenen, ohne jegliche subjektive Stellungnahme. Man hatte sich mit der modernen Wirklichkeit arrangiert und sich dort „häuslich eingerichtet“. Anstelle des im Expressionismus pathetisch geforderten Willen zum Ausdruck trat nun eine Gebrauchsdichtung in den Vordergrund, in welche die Realität durch die Verarbeitung von Sozialanalysen und wissenschaftlichen Quellen Einzug hielt.

[...]


[1] Giese (1993), S. 16.

[2] Rötzer (1976), S. 140.

[3] Rötzer (1976), S. 137.

[4] Neben der chronologischen Gliederung gibt es noch weitere literatur-historische Methoden, mit deren Hilfe der Expressionismus eingegrenzt werden kann. Beispielsweise die Aufteilung in die drei Hauptgattungen Lyrik, Drama und Prosa, die Teilung in politischen und „reinen“ Expres-sionismus und die Untersuchung der verschiedenen geographischen Zentren.

[5] Dieser Austausch wurde durch die teilweise Doppelbegabung und Zusammen-arbeit zwischen Malern und Lyrikern gefördert.

[6] Rötzer (1976), S. 276.

[7] Arnold (1966), S. 9).

[8] Arnold (1966), S. 13.

[9] Ernst Cassierer soll, als er ein Bild Max Pechsteins betrachtete, auf die Frage, ob es sich hierbei um Impressionismus handele spontan geantwortet haben: Nein, daß ist Expressionismus!

[10] Giese (1993), S.13.

[11] 1910 erreichte das deutsche Kaiserreich eine ökonomische Weltmachtposition. Die Exportzahlen lagen hinter den USA weltweit an zweiter Stelle (vgl. Giese 1993, S.12).

[12] Rothe (1969), S. 14.

[13] Rötzer (1976), S. 306.

[14] Rötzer (1976), S. 306.

[15] Vietta/Kemper (1975), S.145.

[16] Vietta/Kemper (1975), S. 145.

[17] Vietta/Kemper (1975), S. 146.

[18] Rötzer (1976), S. 269.

[19] Vietta/Kemper (1975), S. 177.

[20] Maier-Metz (1984), S. 50.

[21] Ebd., S. 61/62.

[22] Arnold (1966), S. 63.

[23] Der bekannte Satz „Gott ist tot“ hat hier seinen Ursprung.

[24] Marinetti beschäftigte sich in seinem Roman „Mafarka le Futuriste“ ebenfalls mit der Thematik des Übermenschen. Hier findet sich eine ähnlich gelagerte Ansammlung von Grundideen: Die Liebe zur Gefahr, die Todes-sehnsucht, die Verachtung des Christentums, die Neigung zum Egoismus und zum Gigantischen (vgl. Arnold, 1966, Kapitel 3, S 69-80).

[25] Diese christliche Vorstellung findet sich in der messianischen Variante des Expressionismus, auf die später näher eingegangen wird.

[26] Rötzer (1976), S. 141/142.

[27] Rötzer (1976), S. 142.

[28] Ebd., S. 143.

Excerpt out of 48 pages

Details

Title
Expressionismus. Annäherung an eine Epoche anhand des Dichters Georg Trakl
College
University of Duisburg-Essen
Grade
1,3
Author
Year
1997
Pages
48
Catalog Number
V37143
ISBN (eBook)
9783638365727
ISBN (Book)
9783638705271
File size
573 KB
Language
German
Keywords
Expressionismus, Annäherung, Epoche
Quote paper
Nathalie Verden (Author), 1997, Expressionismus. Annäherung an eine Epoche anhand des Dichters Georg Trakl, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37143

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