Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Anorexia nervosa
2.1.Soziodemografische Daten
2.2. Lebenswelt der anorektischen Kinder und Jugendlichen
2.2.1. Familiendynamik
2.2.2. Soziologische Einflüsse
3. Warum sind bedeutend mehr Frauen von einer Anorexia nervosa betroffen?
3.1. Frauenrolle
3.2. Adoleszenz
3.3. Schönheitsideale
4. Warum werden Männer anorektisch?
4.1. Männerrolle
4.2. Adoleszenz
4.3.Schönheitsideale
5. Fazit
Literatur
1. Einleitung
Die Erkrankung Anorexia nervosa ist ein in den Medien immer wieder auftauchendes Phänomen. Betrachtet man die Fachliteratur, die sich mit dem Krankheitsbild der Anorexia nervosa befasst, stellt man schnell fest, dass dort überwiegend von weiblichen Betroffenen die Rede ist. In dieser Arbeit soll untersucht werden, welche Ursachen es haben könnte, dass mehr Frauen und Mädchen von der Erkrankung betroffen sind als Männer oder Jungen. Bevor sich der Frage dieser Arbeit gewidmet werden kann, muss jedoch geprüft werden ob tatsächlich mehr weibliche als männliche Personen von einer Anorexia nervosa betroffen sind. Einen ersten Hinweis könnte die Studie von Nemetz (2008) liefern. Sie befragte 126 Nutzer_innen von Pro- Ana- Foren1. Darunter gaben 119 Personen an weiblich zu sein, drei nannten ihr Geschlecht nicht und lediglich vier Perso- nen gaben an männlich zu sein.
Zu Beginn wird ein kurzer Überblick über das Krankheitsbild der Anorexia nervosa gegeben. Dabei wird in Kapitel 2.1 auf die Soziodemographischen Daten eingegangen. Wodurch festgestellt werden soll, ob die Fachliteratur belegt, dass tatsächlich mehr Frauen als Männer von der Erkrankung be- troffen sind.
Kapitel 3 befasst sich mit möglichen auslösenden Faktoren, die bei Frauen zu einer Anorexia nervosa führen könnten.
Anschließend wird versucht Faktoren darzustellen, die bei Männern zu einer Anorexia nervosa beitragen könnten.
Zum Abschluss werden im Fazit die möglichen Faktoren für Anorexia nervosa bei Männern und Frauen diskutiert und es wird auf die Eingangsfrage eingegangen.
2. Anorexia nervosa
Bei der Anorexia nervosa handelt es sich um eine schwerwiegende, psychische Erkrankung. Sie geht mit einem selbst herbeigeführten Gewichtsverlust, tatsächlichen Gewicht mindestens 15% unter dem zu erwartenden Gewicht, sowie einer Körperschemastörung einher. Auch kommt es bei weiblichen Betroffenen zu einer Amenorrhoe, bei männlichen Betroffenen zu einem Potenzverlust (vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2013, S. 201). Die Bezeichnung Anorexia (griech. Anorexis) wird mit „fehlendes Verlangen“ übersetzt. Diese Bezeichnung ist jedoch irreführend, da sie impliziert, die von dieser Krankheit Betroffenen würden Bei Pro- Ana- Foren handelt es sich um Plattformen, auf welchen sich Menschen mit Essstörungen über ihre Krankheit austauschen. Diese Plattformen stehen sowohl in der Öffentlichkeit, als auch in der Fachliteratur immer wieder in Kritik. Da sie im Verdacht stehen, dass dort die Krankheit weiter Manifestiert wird. Vertiefend dazu Nemetz (2008), Wirth (2017).
keinen Hunger empfinden (vgl. Kock 2007, S. 13). Tatsächlich leiden anorektische Personen jedoch sehr viel Hunger, wie das folgende Zitat verdeutlicht:
„ Natürlich hatte ich Hunger, aber das konnte ich doch nicht zugeben. Ich war diesem Gefühlüberlegen, also ignorierte ich es wenn mein Magen knurrte. Wenn ich dann doch einmal etwas gegessen habe, dann tat ich es heimlich. So als ob ich etwas Verbotenes tun würde. Ich schämte mich richtig. “
(Betroffene zitiert nach Kock 2007, S. 13)
Lediglich der Zusatz nervosa, deutet auf die psychische Komponente der Erkrankung hin. Durch diese Zusatzbezeichnung wird deutlich, dass es sich bei der Anorexia nervosa nicht um eine Appetitlosigkeit handelt, sondern bei den betroffenen Personen ein verzweifelter Wunsch besteht das Gewicht zu reduzieren (vgl. Kock 2007, S. 13). Häufig wird die Erkrankung im Deutschen mit „Pubertätsmagersucht“ bezeichnet. Diese Bezeichnung verweist im besonderen auf das Alter, in dem die Erkrankung in einer Häufung der Fälle auftritt, jedoch kann die Erkrankung auch nach der Pubertät auftreten. In der folgenden Arbeit soll die Bezeichnung Anorexia nervosa verwendet werden, da diese Bezeichnung am weitesten verbreitet ist.
Die Anorexia nervosa wurde 1870 von dem Franzosen E.- C. Lasegue! Der diese als „Anorexia hysterica“ bezeichnete sowie zeitgleich aber unabhängig von dem Engländer W. Gull als „Anorexia nervosa“ erstbeschrieben. Erste Überlieferungen von asketischem Fasten stammen aber bereits aus dem Mittelalter. Ins Blickfeld der Öffentlichkeit gelangte sie durch Hungerkünstler und der gleichnamigen Novelle von Franz Kafka aus dem Jahr 1922.
2.1. Soziodemografische Daten
Die Prävalenz für das Auftreten einer Anorexia nervosa wird in verschiedenen Studien unterschiedlich angegeben (vgl. Wunderer und Schnebel 2008, S. 45). Es kann aber von einer Lebenszeitprävalenz zwischen 0,3 bis 1% bei Frauen und 0,03 bis 0,1% bei Männern ausgegangen werden (vgl. Pschyrembel 2014, S. 109). Damit liegt die Wahrscheinlichkeit für Mädchen und Frauen an einer Anorexia nervosa zu erkranken zehnmal höher als die von Jungen und Männern. Im Schnitt sind die betroffenen Mädchen und Frauen in einem Alter zwischen 10 und 25 Jahren (vgl. Pschyrembel 2014, S. 109). Wunderer und Schnebel (2008, S. 46) geben einen Beginn der Erkrankung gehäuft in einem Alter von 14 Jahren an, was für einen Zusammenhang von beginnender Adoleszenz und der Anorexia nervosa spricht.
Die Annahme, dass Anorexia nervosa vor allem in höheren Bildungsschichten auftritt, lässt sich zwar theoretisch mit dem dort vorhandenen gesteigerten Leistungserwartungen begründen, es gibt jedoch keine stichhaltigen Belege für Zusammenhänge einer Anorexia nervosa und dem Bildungsstand (vgl. Wunderer und Schnebel 2008, S. 47).
2.2. Lebenswelt der anorektischen Kinder und Ju- gendlichen
Bei der Anorexia nervosa handelt es sich um eine multifaktionale Erkrankung. Neben familiären und anderen sozialen Hintergründen werden auch genetische und biologische Dispositionen in der Fachliteratur diskutiert (vgl. Scheitenberger 2005, S. 18). Diese Arbeit soll aufgrund des begrenzten Umfangs für die Fragestellung lediglich auf familiendynamische und soziologische Einflüsse begrenzt bleiben. Bei diesen Ursachen scheint auch der Grund für das häufige Auftreten der Erkrankung bei Frauen zu liegen.
2.2.1. Familiendynamik
Die Familiendynamik nimmt in der fachlichen Literatur zum Thema Anorexia nervosa einen hohen Stellenwert ein. Grundlagenliteratur zu diesem Bereich schrieben die Autoren_innen: Bruch (2002), Selvini Palazzoli (2003) und die Arbeitsgruppe um Minuchin et al. (1995).
Das Bild, welches anorektische Kinder und Jugendliche vermitteln, entspricht dem von einem gut angepassten, fleißigen und ruhigen Kind. Oft entspricht dieser Eindruck auch den Tatsachen, jedoch ist eine solche Anpassung des Kindes nicht positiv zu betrachten.
Bruch (2002, S. 43) beschreibt die Familien mit von Anorexia nervosa Betroffenen als sehr leistungsorientiert. Dieser Leistungsdruck spiegelt sich auch in der Anorexia nervosa und den Aussagen von Betroffenen wieder:
„ Ich erinnere mich noch, als ich mit meiner Mutter shoppen war, weil ich neue Hosen brauchte. Ich nahm einige Jeanshosen mit in die Umkleidekabine und alle waren mir viel zu klein. Ich konnte sie nicht viel weiter als bis zu den Knien ziehen,über Oberschenkel und Hintern erst recht nicht. Ich kam aus der Kabine und meine Mutter fragte: "Und?" Ich grinste und sagte, ich nehme sie alle. Weil ich wusste, dass sie mir bald passen würden, es war nur eine Frage der Zeit. Jetzt passen sie mir, rutschen mir sogar teilweiseüber die Hüften. Und ich stehe vor dem Spiegel und bin glücklich. Richtig glücklich. Das gibt mir ein Stück Seelenfrieden. Ein "yesss, ich hab's geschafft! “ -Feeling. “
(Hungersucht http://krankhaft-duenn.blogspot.de/2013/09/leidensdruck-und- krankheitswert.html Zugegriffen 16.Dezember 2016 09:07)
Viele der anorektischen Kinder und Jugendlichen opferten ihr gesamtes bisheriges Leben um den Wünschen ihrer Eltern gerecht zu werden. Auch dabei erleben die Kinder einen Leistungsdruck. Selbst im Erfüllen von Erwartungen möchten sie die Besten sein.
„ Die ganze Kindheit der Mädchen, die schließlich magensüchtig werden, ist durchtränkt von dem Bedürfnis, andere zuübertreffen das zu tun von dem sie glauben, daßandere es von ihnen erwarten. “
(Bruch 2002, S. 62)
Das Bedürfnis, den elterlichen Wünschen zu entsprechen kann, nach Bruch (2002, S. 62 ff) soweit gehen, dass die Kinder und Jugendlichen ein Geschenk zu erhalten als Belastung empfinden. Sie glauben sich dies durch entsprechende Leistung verdienen zu müssen. Auch beschreibt Bruch (2002, S. 64), dass die Kinder und Jugendlichen den Eltern das Gefühl geben wollen, dass dies das perfekte Geschenk für sie ist, auch wenn dies nicht zutrifft und Interessen und Wünsche der Kinder und Jugendlichen ganz andere sind.
Minuchin et al. (1995, S. 81 ff) beschreiben vier weitere Merkmale, welche die familiäre Interaktion beschreiben. Diese sind Verstrickung, Überfürsorglichkeit, Konfliktvermeidung, Rigidität.
Verstrickung
Der bereits beschriebene Wunsch von anorektischen Kindern und Jugendlichen, die Wünsche und Hoffnungen ihrer Eltern zu erfüllen, weist auf eine hohe Verbundenheit der anorektischen Kinder und Jugendlichen mit den Eltern hin.
Oft kommt es in diesen Familien zu einer gesteigerten Identifikation mit den andern Familienmit- gliedern. Diese Identifikationen sind oft so stark, dass das einzelne Individuum in der Familie aufgeht. Minuchin et al. (1995, S. 81) beschreiben die häufige Benutzung eines „wir“ auch bei ein- deutig individuellen Fragen an die Person. Bei einer so engen Bindung ist es den Kindern nicht möglich sich abzugrenzen. Eine Abgrenzung der Kinder und Jugendlichen ist jedoch für die En- twicklung zu Autonomie und einer guten Selbstverwirklichung wichtig. Als eine Ehe zu dritt, wird das Familiensystem von Reich (2003, S. 49) beschrieben. In einer solchen Ehe zu dritt, können die Kinder und Jugendlichen nicht die Partei für einen Elternteil ergreifen, ohne das sich der andere El- ternteil verletzt oder gekränkt fühlt.
Das Enttäuschen eines Elternteils würde den bereits beschrieben Wunsches widersprechen: die elterlichen Wünsche nicht zu enttäuschen. Enge Bindungen innerhalb der Familie, lassen dem Kind auch nicht den nötigen Raum, um tiefere Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. So schreibt Selvini Palazzoli (2003, S. 88):
„Sie hat überhaupt keine Freunde, höchstens einmal oberflächliche Bekannte, mit denen sie wetteifert oder deretwegen die kaum verschleierte Eifersucht der Mutter ihr Schuldgefühle einflößt“
(Selvini Palazzoli 2003, S. 88)
Die Verstrickung in anorektischen Familien ist aber nicht nur innerhalb der Kernfamilie sondern auch mit den Großeltern der anorektischen Kindern und Jugendlichen wahrscheinlich (Minuchin et al. 1995, S. 78).
Überfürsorglichkeit
Oft geht die Überfürsorglichkeit in Familien mit anorektischen Kindern und Jugendlichen von Seiten der Mutter der Betroffenen aus (vgl. Reich 2003, S. 50). Auch wenn oft berichtet wird, dass die Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht wahrnehmen können, stellt dies keinen Widerspruch zu einer Überfürsorglichkeit dar.
Eine Mutter, die das Kind stillt, sobald es beginnt zu quengeln, dabei aber nicht auf den eigentlichen Grund des Quengelns eingeht, ist zwar überfürsorglich für ihr Kind da, beachtet aber höchstwahrscheinlich dessen wirkliche momentane Bedürfnisse nicht.
Oft werden die Kinder und Jugendlichen bevormundet. Dies geschieht dann meistens unter dem Deckmantel des Wohles für die Kinder: „Du musst das jetzt machen, weil es das Beste für dich ist“. Hierbei wird das Kind oder der Jugendliche auf viele verschiedene Arten beeinflusst. Es wird suggeriert, dass die Eltern immer wissen, was das Beste für das anorektische Kinder und Jugendliche ist. Es wird aber auch eine emotionale Erpressung vorgenommen, diese sagt aus: „Ich liebe dich so sehr, ich will nur das Beste für dich“. Durch eine Überfürsorglichkeit kann das Kind keine Autonomie erlernen (vgl. Minuchin et al. 1995, S. 78).
Konfliktvermeidung
Die Aufrechterhaltung der Familienharmonie hat in Familien mit anorektischen Personen hohe Pri- orität. Durch das Vermeiden von Konflikten wird versucht diese Harmonie aufrecht zu erhalten. Innerhalb der Familie aufkommende Probleme werden zum Wohl der Familienharmonie nicht beachtet. Dies geschieht entweder durch Ausweichen mindestens einer der potentiellen Konflikt- parteien oder das beständige Unterbrechen und Ablenken von dem Konflikt. Wie die Verstrickung und die Überfürsorglichkeit verhindert auch das Vermeiden von Konflikten eine Ablösung in der sonst von vielen Konflikten gekennzeichneten Adoleszenz (vgl. Kock 2007, S. 48).
Rigidität
Familien mit später anorektischen Kindern und Jugendlichen zeigen ein hohes Maß an starrem Fes- thalten an bestehenden Ordnungen (vgl. Reich 2003, S. 50). Besonders beim Eintritt des Kindes in die Adoleszenz kann ein stures Festhalten an bereits bestehenden Regeln die Autonomieentwicklung des Kindes hemmen. In dieser Zeit wäre es für das Kind wichtig sich von bestehenden familiären Ordnungen zu lösen.
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