Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Das Kriterium des Bejahenswerten
2. Zusammenfassung der Aspekte der Lebenskunst nach Schmid
2.1 Das Selbst und die Anderen
2.1.1 Beziehungen zu Anderen
2.1.2 Die Sorge um sich und Andere
2.2 Die Frage der Wahl
2.2.1 Der Akt der Wahl
2.2.2 Arten der Wahl
3. Analyse: Room at the top
3.1 Arten der Wahl
3.2 Reflexion
3.3 Beziehungen zu Anderen
3.4 Sorge um Andere
4. Analyse: Life at the top
4.1 Arten der Wahl
4.2 Reflexion
4.3 Beziehungen zu Anderen
4.4 Sorge um Andere
5. Joe Lamptons Entwicklungsprozess vom successful zombie zum warm giant
6. Zitierte Werke
1. Einleitung: Das Kriterium des Bejahenswerten
Überall sind Menschen auf der Suche nach der Definition eines glücklichen Lebens und konsultieren deshalb Populärliteraturrategeber wie Die Glücksformel oder Glück kommt selten allein. Für den Philosophen Wilhelm Schmid ist das der falsche Ansatz. Ihm zufolge gebe es etwas „Wichtigeres als Glück: den Sinn im Leben.“ (Pankratz)
In diesem Zusammenhang hat er in seinen philosophischen Schriften das Kriterium des Bejahenswerten etabliert (Schmid, Wiederentdeckung 9). Können wir unser Leben bejahen, dann ist es erstrebenswert. Ein bejahenswertes Leben aber strebt weniger nach diesem lustvollen Glückszustand, der in der Populärliteratur so glorifiziert wird. Vielmehr beinhaltet es auch negative Erlebnisse, die das Leben bereichern und in einer Tiefe erfahren lassen, wie es ohne sie nicht möglich wäre. (Schmid, Wiederentdeckung 9) In diesem Sinne versucht Schmid in der Philosophie eine neue Lebenskunst zu begründen, die dem Menschen Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens eröffnet (Wiederentdeckung 2).
Daher werden im weiteren Verlauf der Arbeit die wichtigsten Aspekte seiner Lebenskunst zusammengefasst, die eine Bedeutung für das Leben des Hauptprotagonisten Joe Lampton in der Dilogie Room at the Top und Life at the Top haben. Denn die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage, ob sich Joe in seiner Art der Lebensführung im Verlauf der beiden Bücher positiv entwickelt hat. Dementsprechend werden beide Werke im Anschluss an die Behandlung der Aspekte Schmids hinsichtlich dieser überprüft und letztlich miteinander verglichen. Hierbei wird analysiert, inwiefern Joes Leben als bejahenswert betrachtet werden kann oder nicht.
2. Zusammenfassung der Aspekte der Lebenskunst nach Schmid
Zwei der von Schmid behandelten Aspekte der Lebenskunst sind von besonderer Bedeutung für die Analyse der vorliegenden Werke: das Selbst und die Anderen sowie die Frage der Wahl.
2.1 Das Selbst und die Anderen
Das Subjekt der Lebenskunst kann nach Schmid als ein Selbst definiert werden, das fähig ist zu reflektieren. Damit ist es in der Lage, sich selbst und seine Handlungen aus einer Außenperspektive heraus zu betrachten und über diese mit einer gewissen Distanz nachzudenken. (Schmid, Philosophie 239) Die Reflexion bildet die Basis für zwei Beziehungsformen, die das Subjekt der Lebenskunst mit sich selbst eingeht: das Selbstbewusstsein, das Erkennen der eigenständigen Persönlichkeit, und die Selbstgestaltung, die aktive Formung des eigenen Selbst (Schmid, Philosophie 240-241). Durch die Selbstgestaltung verändert sich das Selbst, was immer auch einen Prozess der Selbstentfremdung umschließt, der aus der Begegnung mit dem Anderen resultiert (Schmid, Philosophie 242). Mit dem Anderen meint Schmid das, was im Verhältnis zum Selbst eine Andersartigkeit aufweist. Wenn sich das Selbst nun verändert, entdeckt es Teile seiner selbst, die ihm andersartig und fremd erscheinen können. (Philosophie 242, 258) Ziel eines Subjekts der Lebenskunst soll es aber sein, dieses Andere zu akzeptieren und offen die Begegnung mit ihm zu suchen um so „das Selbst zu vervielfältigen und sein Selbstbewusstsein auf die vielfältige Erfahrung des Andersseins zu gründen“ (Schmid, Philosophie 242). Das Andere kann sich aber nicht nur im eigenen Selbst sondern auch in der Person des Anderen manifestieren.
2.1.1 Beziehungen zu Anderen
Nach Schmid soll das Selbst zu Anderen Beziehungen eingehen, auch um der Selbstgestaltung willen. Denn Beziehungen sind Teil der Zusammenhänge, in denen das Selbst lebt. So kann es durch die Herstellung von Beziehungen diese Zusammenhänge aktiv gestalten. Hat das Selbst sich für die Beziehung zu Anderen entschieden, stehen ihm verschiedene Arten von Beziehungen zur Wahl. (Philosophie 260) Zunächst wird zwischen Nah- und Fernbeziehungen unterschieden, sprich „ob die Nähe zum Anderen oder eher die Distanz zu wahren ist“ (Schmid, Philosophie 261). Innerhalb dieser beiden Pole existieren laut Schmid verschiedene Beziehungsformen: Die erotische Beziehung beruht auf der Lust nach dem Anderen und auf gegenseitigen Emotionen insbesondere der Liebe. Dagegen entsteht die freundschaftliche Beziehung nicht aufgrund einer Lust oder aus Hoffnung auf einen Nutzen sondern aus selbstloser Zuneigung für den Anderen. Die kooperative Beziehung wiederum ist eine Zweckbeziehung, von der sich beide Parteien eine verbesserte Zusammenarbeit versprechen. (Philosophie 261-263) Wie die kooperative Beziehung wird auch die funktionale Beziehung zu einem bestimmten Zweck eingegangen mit dem Unterschied, dass es sich um Beziehungspartner handelt, „die zwar zusammenarbeiten, sich dabei jedoch nicht als Individuen zur Kenntnis nehmen“ (Schmid, Philosophie 263). Alle bisher aufgeführten Beziehungsformen können sich zu agonalen Beziehungen wandeln, die geprägt sind von Disharmonie zwischen Individuen und in Feindschaft gipfeln können (Schmid, Philosophie 263-264). Schließlich gibt es noch eine Art von Beziehung, die Schmid für unklug hält, da sie nicht die Begegnung mit dem Anderen sucht sondern ihn meidet: die ausschließende Beziehung (Philosophie 264). Ein bejahenswertes Leben besteht für Schmid aber nicht in der Meidung der Anderen sondern in der Sorge um sie (Philosophie 266).
2.1.2 Die Sorge um sich und Andere
Die Sorge und damit das Interesse am Anderen sind für Schmid Teil der von ihm betitelten Selbstsorge (Philosophie 247-248). Dieser Begriff beinhaltet die bereits erläuterten Selbstbeziehungen, genauer gesagt das Selbstbewusstsein und die Selbstgestaltung. Hinzu kommt die Selbstwahrnehmung des Selbst als eine Vorstufe des Selbstbewusstseins, die das Eigeninteresse des Selbst weckt. (Schmid, Philosophie 246) Selbstsorge bedeutet demnach die aktive Gestaltung des eigenen Selbst, „die sich nun mit Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht auf die Gesamtheit der Verhältnisse richtet, die für das Selbst Bedeutung haben.“ (Schmid, Philosophie 246) Dabei kann es für das Selbst zwei Gründe geben, seine Sorge auch auf andere zu richten: Ein Grund ergibt sich aus der Klugheit heraus, andere genauso zu behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden möchte (Schmid, Philosophie 266). Der zweite Grund stellt für Schmid den „schönsten Grund für die Beziehung der Sorge dar“ (Philosophie 266): Sich über das bloße Eigeninteresse hinaus nur um des Anderen willen um ihn zu sorgen (Philosophie 266). Geht das Selbst aus diesem Motiv heraus eine Beziehung zum Anderen ein, ist es bereit zur Einseitigkeit, welche zu Beginn der Sorge für Andere nötig ist. Erst im Laufe der Beziehung entwickelt sich dann eine Wechselseitigkeit, wenn das Selbst nun auch vom Anderen umsorgt wird. (Schmid, Philosophie 268-269) Ob sich das Selbst zur Selbstsorge oder zur Sorge um Andere entscheidet und wie es seine Lebensverhältnisse gestaltet, untersteht der Frage der Wahl.
2.2 Die Frage der Wahl
Neben der Sorge für Andere ist der Akt der Wahl „wohl der grundlegendste Aspekt jeder Lebenskunst“ (Schmid, Wiederentdeckung 5). Hierbei ist für das Subjekt der Lebenskunst wichtig, die verschiedenen Arten der Wahl gegenüberzustellen, bevor es sich für eine entscheidet (Schmid, Wiederentdeckung 5).
2.2.1 Der Akt der Wahl
Der Akt der Wahl lässt sich in vier Schritte unterteilen: Zur Vorbereitung der Wahl wird zuerst die Wahrnehmungsfähigkeit gestärkt und die Steuerung der Wahrnehmung geübt, um die Bedingungen, die den Wahlakt bestimmen, möglichst genau zu erfassen (Schmid, Philosophie 193-195). Die im ersten Schritt ausgebildete Wahrnehmungsfähigkeit findet nun Eingang in den zweiten Schritt der Wahl, die Ausbildung des Gespürs (Schmid, Philosophie 198). Nach Schmid ist das Gespür ein Apparat, der über das rationale Denken hinausgeht und dafür sorgt, dass die Wahl automatisierter erfolgt. Da das Selbst in seinem Leben täglich unzählige Entscheidungen treffen muss, kann es sich nicht auf jeden einzelnen Wahlakt und die damit verbundenen Zusammenhänge übermäßig sensibilisieren. (Philosophie 198) Eingeübt wird das Gespür durch Erfahrung (Schmid, Philosophie 199). Denn erlebt das Selbst eine Situation, die ähnlich einer bereits gemachten Erfahrung ist, ist es bereits für eine solche Situation sensibilisiert und die Wahl fällt ihm so einfacher. Damit sich die Erfahrung dem Gespür einverleibt, bedarf es dem dritten Schritt des Wahlaktes, der Reflexion. (Schmid, Philosophie 199) Erst wenn über die gemachten Erfahrungen auch reflektiert wird, finden diese Eingang in das Gespür. Mit Hilfe der Reflexion lernt das Selbst sich in verschiedene Perspektiven hineinzudenken und seinen Blick zu öffnen. (Schmid, Philosophie 199-200) Denn Sinn eines bejahenswerten Lebens kann Schmid zufolge nie eine willkürliche, immer nur eine reflektierte Wahl sein (Philosophie 192). Der vierte und letzte Schritt der Wahl besteht in der Bildung eines Urteils, der im Treffen einer endgültigen Entscheidung mündet. Immer aber sollte in einem bejahenswerten Leben „das Wählen und die sensible Wahl, nicht etwa ein bloßes Wollen im Vordergrund“ stehen, bei dem es nur um das Durchsetzen eines Willens geht ohne dabei die spezifischen Umstände einer Situation zu bedenken (Schmid, Philosophie 203-204). Für welche Art der Wahl sich das Selbst entscheidet, obliegt ihm allein.
2.2.2 Arten der Wahl
Schmid unterscheidet zunächst zwischen aktiven und passiven Formen der Wahl. Zu ersteren zählt die aktive Initialwahl. Sie bezeichnet eine Wahl, die zum ersten Mal vom Selbst und aus eigener Initiative heraus getroffen wird. Die Wiederwahl bestätigt dagegen nur eine bereits getroffene Wahl. (Philosophie 206-207) Während die sogenannte Abwahl zum Ziel hat, „eine getroffene Wahl wieder rückgängig zu machen“, fällt das Selbst bei der Nichtwahl die Entscheidung, bewusst keine Wahl zu treffen (Schmid, Philosophie 207). Bei den passiven Formen differenziert Schmid zwischen expliziter und impliziter passiver Wahl. Erstere beschreibt eine Art der Wahl, bei der sich das Selbst die Entscheidung zu wählen noch offen hält und stattdessen bewusst abwartet. Im Unterschied dazu trifft das Selbst bei der impliziten passiven Wahl keine bewusste Entscheidung mehr sondern überlässt ohne Reflexion den Ausgang der Wahl der Situation selbst. (Philosophie 207)
In Bezug auf die Folgen, die eine Wahl mit sich zieht, gibt es zwei Varianten: Die Einzelwahl hat wenig weitreichende, in der Regel sofort ersichtliche Folgen für die zukünftigen Wahlakte des Selbst. Von ihr macht es in seinen täglichen Entscheidungen Gebrauch, zum Beispiel bei der Wahl des Frühstücks oder der Kleidung. (Schmid, Philosophie 207-208) Wenn eine Einzelwahl hingegen Auswirkungen hat, die die weiteren Wahlmöglichkeiten des Selbst stark begrenzen oder ausdehnen, spricht Schmid von einer Fundamentalwahl (Philosophie 208). Im Folgenden wird die Analyse beider Werke bestätigen, dass es sich bei Joes Wahlen vornehmlich um Fundamentalwahlen handelt.
3. Analyse: Room at the top
Der Roman Room at the Top ist eine Art Autobiographie und Tagebuch Joe Lamptons, der über sein Leben neun Jahre zuvor reflektiert, in dem er als 25-Jähriger von seiner Heimatstadt Dufton nach Warley zieht, um den sozialen Aufstieg zu schaffen. Im Folgenden wird der Roman hinsichtlich der Aspekte der Wahl und der Sorge um Andere untersucht.
3.1 Arten der Wahl
Im Laufe des Romans trifft der Protagonist Joe Lampton drei entscheidende Wahlen, die alle zugleich Fundamentalwahlen sind und enorme Auswirkungen auf seine weiteren Wahlmöglichkeiten haben. Die erste Wahl – die Entscheidung von seiner Heimatstadt Dufton nach Warley zu ziehen – ist eine aktive Initialwahl. Er verlässt Dufton mit dem Ziel, den dort ansässigen Zombies zu entfliehen (Braine, Room 17). Als Zombies werden Menschen bezeichnet, die keine eigene Individualität mehr besitzen, leblos und emotionslos sind und wie fremdgesteuert wirken. Doch Joe flieht nicht nur vor der dortigen Zombieproduktion sondern auch vor der Wiederkonfrontation mit dem Tod: Mit Dufton verbindet er den Tod seiner Eltern und damit auch Gefühle wie Schmerz und Kummer, denen er sich nicht stellen will (Braine, Room 96). Dagegen repräsentiert Warley für ihn einen Ort voller Leben, wo ihn keine negativen Erinnerungen quälen: „Warley had shown me a new way of living; for the first time I’d lived in a place without memories. And for the first time lived in a place" (Braine, Room 96). Beide Städte werden immer wieder von Joe durch gegensätzliche Beschreibungen kontrastiert: Während in Dufton Stillstand und Bedrücktheit herrschen, ist Warley geprägt von Veränderung und Fröhlichkeit. Daneben besitzt Warley noch einen entscheidenden Vorteil gegenüber Dufton - es eröffnet Joe eine neue Welt, eine Welt der Oberschicht und deren Wohlstandes: „I was going to the Top, into a world that even from my first brief glimpses filled me with excitement“ (Braine, Room 9). Um den gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen, ist Joe der Meinung, er müsse sich vollständig von Dufton und damit seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse lösen. Hätte er stattdessen im Nachhinein mehr über seine Wahl reflektiert, wäre ihm bewusst geworden, dass er beide Welten hätte korrelieren können. Als Beispiel ist an dieser Stelle Alice zu nennen, die ihre Herkunft aus niederer Schicht mit ihrem Aufstieg in den Wohlstand vereint hat, denn im Gegensatz zu Joe blickt sie bejahend auf ihre Vergangenheit zurück und negiert diese nicht. (Braine, Room 115-116)
Die zweite Fundamentalwahl, die Joe fällt, ist ebenfalls eine aktive Initialwahl, die er aber unreflektiert trifft. In einem Moment erhöhter sinnlicher Wahrnehmung wird er von seinem Gespür zu dieser Spontanwahl angetrieben (Braine, Room 26-27). Da sein Gespür im weiteren Verlauf des Romans nicht mehr auftritt und Joe selten über seine Entscheidungen reflektiert, ist es wohl kaum ausgebildet, da, wie im vorherigen Gliederungspunkt ausgeführt wurde, es zur Einverleibung von Erfahrungen der Reflexion bedarf. Während Joe nun einen jungen Mann aus einer höheren sozialen Sicht betrachtet, gewinnt er eine Erkenntnis: dessen Zugehörigkeit zur Oberschicht, sein teures Auto und seine attraktive Freundin sind nur eine Frage des Geldes (Braine, Room 28). Aus dieser Einsicht heraus trifft er eine Entscheidung - er will all das erreichen, was der junge Mann auch hat: „I made my choice then and there: I was going to enjoy all the luxuries which that young man enjoyed. I was going to collect that legacy.“ (Braine, Room 29) Ohne Rücksicht auf die spezifischen Umstände seiner Situation beschränkt er sich auf ein bloßes Wollen, welches durch den dreifachen Gebrauch des Verbs want akzentuiert wird (Braine, Room 29). Dieser blinde Wille beherrscht all seine weiteren Handlungen, weshalb er auch nach seiner Wahl über diese nicht reflektiert. In einem Moment beschreibt Joe zum Beispiel, wie zufrieden er mit seiner Arbeit ist und dass er seine getroffene Wahl beinahe vergessen habe (Braine, Room 44). An dieser Stelle hätte Joe die Möglichkeit gehabt über den Grund für diese Wahl zu reflektieren, schließlich sei er doch mit der derzeitigen Situation zufrieden gewesen. Die Verwirklichung seiner Wahl sieht er schließlich in der Eroberung Warleys und insbesondere im Eintritt in den Leddersford Conservative Club, in welchem die Märchengeschichte über den Aufstieg des Schweinehirten zum Prinzen zur Realität wird: „Here was the centre of the country I’d so long tried to conquer; here magic worked, here the smelly swineherd became the prince who wore a clean shirt every day.“ (Braine, Room 125, 203)
Warley spielt auch eine große Rolle in der dritten Fundamentalwahl, zu der sich Joe entschließt: Brown, Susans Vater, stellt ihn vor die Wahl. Joe muss sich zwischen seiner Tochter und Alice entscheiden. Tatsächlich geht es aber für ihn weniger um eine Entscheidung zwischen Alice und Susan als um eine Entscheidung zwischen Alice und Warley: „Alice didn’t belong to Warley. I couldn’t have both her and Warley: that was what it all boiled down to.” (Braine, Room 214) Joe nimmt diese Differenzierung vor, da Susan für ihn nur eine Eintrittskarte in die Wohlstandsgesellschaft Warleys repräsentiert (Braine, Room 139). Während Joe Susan entindividualisiert, verschafft er Warley mittels Personifikation menschlichen Charakter und beschreibt die Stadt mit dem Personalponomen she wie eine Geliebte: „I had to love Warley properly, too, I had to take all she could give me“ (Braine, Room 197). Im Gegensatz zu den beiden ersten Wahlen, trifft Joe diese nicht aktiv. Vielmehr nimmt Brown ihm die Entscheidung ab, denn Joe befindet sich in diesem Moment in einer Art Schockstarre, als er von Alices Affäre mit seinem Rivalen Jack Wales erfährt (Braine, Room 211-212). Es handelt sich hierbei folglich um eine implizite passive Wahl. Ohne abzuwägen, lässt er die Wahl geschehen. Er entscheidet sich für Susan, was eine Entscheidung für Warley impliziert, und damit gegen Alice. Dabei scheint es, als ob Joe durch die Umstände der Situation bestimmt wird, was durch den mehrfachen Gebrauch der Formulierung there was suggeriert wird (Braine, Room 211-212). Auch im Nachhinein ändert Joe seine Entscheidung gegen Alice nicht, obwohl er merkt, dass seine Gefühle für sie nicht mit der getroffenen Wahl übereinstimmen (Braine, Room 212-214).
3.2 Reflexion
Innerhalb des Romans lässt sich zwischen einem erzählenden und einem erlebenden Ich differenzieren, da zwischen beiden bezüglich des Reflexionsprozesses grundlegende Unterschiede bestehen. Das erzählende Ich ist der neun Jahre ältere Joe, der in einer Autobiographie rückblickend das Geschehene verarbeitet mit dem Ziel, darüber zu reflektieren. Möglicherweise tut er dies auch, um seine Taten zu rechtfertigen und in Retroperspektive sein Leben doch als bejahenswert zu bestätigen. Im Vergleich zum erzählenden Ich führt das erlebende Ich, der 25 Jahre alte Joe, sein Leben hauptsächlich unreflektiert. Daher wünscht sich das erzählende Ich, es hätte sich manchmal öfter der Reflexion bedient und sich dementsprechend anders verhalten, wie etwa in folgendem Beispiel: „I wish often that I could have fixed my life at that moment“ (Braine, Room 79). Indem der 34-jährige Joe über das Erlebte nachdenkt, wird ihm auch die Tragweite seiner Handlungen bewusst. Er erkennt, dass seine getroffenen Wahlen Fundamentalwahlen sind, die seine weiteren Wahlmöglichkeiten begrenzen: „I can’t help feeling that once one’s chosen a certain track there’s remarkably little opportunity of changing it.“ (Braine, Room 166) In diesem Zuge wird dem erzählenden Ich auch bewusst, dass es selbst für seine Handlungen und deren Folgen verantwortlich ist und sich hätte anders entscheiden können: „What has happened to me is exactly what I willed to happen. I am my own draughtsman … But somewhere along the line – somewhere along the assembly line … - I could have been a different person.” (Braine, Room 124) So gibt er sich sogar selbst die Schuld für Alice Tod (Braine, Room 235). Insgesamt ist Joes Selbstbewertung ambivalent. Zum einen ist er stolz und glücklich, alles erreicht zu haben, was er wollte: „ [A] slatternly happiness sidled up to me: I had eight hundred in the bank, I was going to be an executive with an expense account, I was going to marry the boss’s daughter, I was clever and virile and handsome, a Prince Charming from Dufton” (Braine, Room 221). Dafür opfert er aber seine Menschlichkeit und Gefühle: „Looking back, I see myself as being near the verge of insanity. I couldn’t feel like that now; there is, as it were, a transparent barrier between myself and strong emotion.” (Braine, Room 123) Joe versteckt sich letztendlich hinter einer Maske, hinter der sein Selbst und seine Emotionen verschwinden, um sich schmerzlichen Gefühlen nicht mehr stellen zu müssen (Braine, Room 220, 223). Er ist am Ende selbst zum Zombie geworden, zu einem „Successful Zombie“, obwohl er mit dem Umzug nach Warley genau das vermeiden wollte (Braine, Room 123).
3.3 Beziehungen zu Anderen
Die zwei Hauptbeziehungen, die Joe eingeht, sind die Beziehungen zu Alice und Susan. Die Beziehung zu Alice ist zunächst eine rein freundschaftliche. Er genießt es, Alice freimütig alles sagen zu können: „We never hid anything from one another, we really talked“ (Braine, Room 169). Im Gegensatz zu allen anderen, mit denen er in Kontakt tritt, muss er sich bei ihr nicht verstellen, sondern kann ganz er selbst sein (Braine, Room 139). Zu Alice fühlt er sich hingezogen, weil sie ihm so ähnlich ist (Braine, Room 70). Diese Ähnlichkeit gipfelt schließlich in dem Gefühl, zusammen eins zu werden und sogar die Schmerzen des Anderen teilen zu können (Braine, Room 101, 172). Bei Alice findet er die Geborgenheit und Wärme wieder, die ihm damals seine Eltern gegeben haben (Braine, Room 180). Aus „loving friends“ werden nun Liebespartner, die miteinander die Form der erotischen Beziehung eingehen (Braine, Room 84). Zwar beschreibt Joe diese Beziehung vor seinem Freund Charles zunächst nur als „straightforward transaction“ und stellt sie so als rein funktional dar, aber er erkennt im Laufe der Beziehung, dass er auch Gefühle der Liebe für Alice hegt (Braine, Room 87): „I had discovered what love was like“ (Braine, Room 183). Dennoch betrachtet er die Beziehung immer wieder aus einer rationalen Perspektive heraus und macht sich bewusst, dass es nicht die optimale Beziehung für ihn ist, schließlich könnte Alice jünger und unverheiratet sein (Braine, Room 183). Seine erste Reaktion auf Alice‘ Tod zeigt umso mehr die Fraglichkeit seiner Liebe für Alice. Denn statt zunächst Trauer zu empfinden, macht er sich nur Sorgen um sich selbst und die Auswirkungen eines möglichen Selbstmordbriefes auf seine Zukunft (Braine, Room 217).
Sein eigener Vorteil ist auch der Hintergrund für den Beginn seiner Beziehung zu Susan, die für ihn Mittel zum Zweck ist: „I was taking Susan not as Susan, but … as the means of obtaining the key to the Aladdin’s cave of my ambitions“ (Braine, Room 139). Die Beziehung ist für Joe daher vor allem eine funktionale, denn Susan ist für ihn die Eintrittskarte in das Establishment (Braine, Room 75). Trotzdem betrügt er sich immer wieder selbst und redet sich ein, er liebe sie, um über seine wahren, rein egoistischen Motive hinwegzutäuschen (Braine, Room 128). Diesen Selbstbetrug deckt er aber schnell auf, als er etwa seiner Tante Emily von seiner angeblichen Liebe zu Susan erzählt und dabei Scham empfindet: „‘I love her. I’m going to marry her.‘ But I felt shamefaced as I spoke the words.” (Braine, Room 91) Deshalb geht er eine erotische Beziehung zu Susan nur aus funktionalen Gründen ein; er liebt sie nicht um ihretwillen sondern des Geldes wegen, wie aus dem folgenden Dialog zwischen ihm und Susan ersichtlich wird:
‘Joe, do you really love me?’
‘You know I do.’
‘How much?’
‘A hundred thousand pounds’ worth,’ I said. ‘A hundred thousand pounds’ worth.’
(Braine, Room 140)
Gegenüber Susan agiert Joe mit Berechnung und bedenkt jedes einzelne seiner Worte. (Braine, Room 138). Statt wie in der Beziehung mit Alice kann Joe im Umgang mit Susan nicht er selbst sein sondern muss sich verstellen, um ihr zu gefallen: „I must transform myself into a different person for her.“ (Braine, Room 138) Emotional erfüllt sie ihn nicht, er fühlt sich in ihrer Gegenwart sogar einsam (Braine, Room 135). Joe nimmt Susan nicht als eigenständige Persönlichkeit sondern als „the boss’s daughter“ wahr (Braine, Room 221). So ist, wie bereits erwähnt, seine Entscheidung gegen Alice am Ende auch keine Entscheidung für Susan selbst sondern für Susan als Garant für einen Aufstieg in die Oberschicht Warleys.
3.4 Sorge um Andere
Hinter jeder von Joe getroffenen Wahl steht vordergründig die Selbstsorge, nie aber die Sorge um Andere. Statt ausgiebig über seine Wahlen zu reflektieren und damit auch die Folgen für Andere zu bedenken, fokussiert er sich ganz auf seinen eigenen Vorteil. Dieses primär egoistisch geprägten Denkens ist er sich auch bewusst: „I felt choked with my own selfishness as nasty as catarrh“ (Braine, Room 115). Aber es gibt einen Augenblick, in dem Joe rückblickend die Konsequenzen für einen Anderen bedenkt und sich wünscht diese im Moment seiner Entscheidung berücksichtig zu haben: Hätte er sich gegen den Umzug nach Warley entschieden, wäre Alice noch am Leben (Braine, Room 222). Es ist auch die Beziehung zu Alice, in der Joe ansatzweise eine Sorge für Andere zeigt. Die Beziehung zu ihr ist eine wechselseitige, beide sorgen sich um das Wohl des Anderen. Bei ihr wird er vom selbstsüchtigen zum realen, liebenden Menschen: „We’re all imprisoned within that selfish dwarf I – we love someone and we grow so quickly into human beings that it hurts.“ (Brain, Room 180) Vorwiegend geht er die Beziehung aus Klugheitsgründen ein, weil er durch die Sorge für Alice im gleichen Maße von ihr umsorgt wird. Vereinzelt aber ist Joe sogar bereit zur Einseitigkeit und zur selbstlosen Hingabe: „I wanted to take her then, not because the act itself mattered, but because I wanted to be close to her, to give her something of myself.” (Braine, Room 168) In der Beziehung zu Susan sorgt er sich dagegen nicht um sie als Person sondern nur um sich selbst und den Nutzen der Beziehung, die er aus reinen Klugheitsgründen eingegangen ist: „I’ve been out with her about half-a-dozen times now … Costs me the hell of a lot of money … and I get nothing in return.” (Braine, Room 87) Während das erlebende Ich also in gewissem Maße noch fähig war zur Sorge für Andere, ist es das erzählende Ich nicht mehr, wie es selbst erkennt:
But he [der jüngere Joe] was of a higher quality … Of a higher quality, that is … to live among the people around him. I don’t mean that one has to love people, but simply that one ought to care … I don’t wish to be like the people outside … But I sometimes wish that I wished it.
(Braine, Room 123-124)
4. Analyse: Life at the top
Das Folgewerk zum vorherigen Roman, Life at the Top, wird aus der Sicht des nun 35-jährigen Joe Lamptons erzählt, der alles erreicht hat, was er sich im ersten Roman als Ziel gesetzt hat: Gesellschaftlicher Aufstieg, Wohlstand und eine hübsche Frau an seiner Seite. Auch seine Art der Lebensführung wird in den nachfolgenden Abschnitten hinsichtlich der Lebenskunst Schmids analysiert.
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